Sieben Jahre lang hat Matthias Lohenner seine Eltern in ihrer demenziellen Erkrankung begleitet. Der Berliner Superintendent gibt einen Einblick in seinen Versuch zu verstehen, in zwei Welten und in endgültiges Loslassen.
Hat der eben ‚Heil Hitler’ gesagt?“ Meine Mutter drehte sich sichtbar empört in ihrem Rollstuhl zu mir um. Und damit auch zu ihrem Nachbarn aus dem Zimmer schräg gegenüber, der gerade an uns vorbeigegangen war. Ihre Frage hatte er offenbar nicht gehört. Zum Glück. „Nein“, antwortete ich, während ich sie langsam weiter Richtung Mittagstisch schob. „Das warst du. Du hast ‚Heil Hitler‘ gesagt.“ „Das sagt man nicht.“ „Stimmt“, sagte ich und bestätigte damit ihre Eltern, die ihr rund 85 Jahre zuvor genau das beigebracht hatten. „Das sagt man nicht.“
In dieser späten Phase ihrer demenziellen Veränderungen hörte sie sich manchmal selber reden im Moment der Rückkehr von der anderen Seite in meine Welt. „Was habe ich gesagt?“, fragte sie mich dann. Sie wusste nicht, was sie im Moment des Wieder-Auftauchens gesagt hatte, noch, von woher sie zu mir zurückkam. Aber in dem, wie sich sie und mein ebenfalls im Prozess einer Demenz befindender Vater in diesen Jahren veränderten, meinte ich etwas ablesen zu können von dem, was ich irgendwann die andere Seite nannte. Über einen Zeitraum von sieben Jahren hatte ich meine Eltern in diesen Prozessen begleitet und beobachtet, hatte Ideen entwickelt darüber, was los ist mit ihnen, hatte vieles wieder verworfen oder weiterentwickelt. Irrwege waren nötig, um zu einem tieferen Verständnis ihrer Abwesenheiten zu kommen.
„Das war schön. Er war ganz präsent“, meinte Hertha. „Er hatte wohl einen guten Tag.“ Hertha (alle Namen geändert/die Redaktion) war eine Kindheitsfreundin meines Vaters. Die beiden hatten bis in die 1950er-Jahre hinein im selben Haus gewohnt und sollten bis zu seinem Tod 2021 Kontakt halten. Gerade hatte ich ein Telefonat der beiden arrangiert, in dem er ungewöhnlich wach war, sogar einige komplette Sätze formuliert hatte. Vor dem Telefonat hatte ich gezögert, dieses zu ermöglichen, weil er mir extrem schwach vorkam und ein Pfleger, den ich später auf dem Flur traf, meinte: „Ihr Vater hat aber heute keinen guten Tag.“
Beobachtungen wie diese brachten mich dazu, von einer „Präsenz jenseits des Präsens“ zu sprechen. Leider hatten sich meine Hoffnungen zerschlagen, meine Eltern würden sich wieder mehr der Welt, meiner Welt zuwenden, wenn erst einmal die äußeren Rahmenbedingungen stabil sein würden. Trotz einer in drei Jahren mühsam erarbeiteten guten Wohn- und Lebenssituation blieben meine Eltern mehr und mehr an meiner Welt uninteressiert. Und dann gab es diese Momente einer hohen emotionalen Präsenz, die mit meinem Hier und Heute nichts zu tun hatte.
Emotionale Präsenz
Diese Wachheit hatte meiner ersten Wahrnehmung nach mit Erinnerungen zu tun. Das Telefonat mit Hertha, das Betrachten von alten Fotos, so etwas erhöhte die Körperspannung, ließ die oft müden Augen schon einmal leuchten. So entwickelte ich die Idee von Zeitreisen, auf die sich meine Eltern begeben würden, zurück in gute Zeiten. Und ich machte mich auch auf, sprach mit Verwandten und Freunden meiner Eltern, brachte deren Erzählungen und alte Fotos mit, und merkte erst spät, dass das alles für mich sehr spannend war, für sie aber eher nicht. Für sie ging es nicht um Erinnerung, sondern um Beziehung. Fotos und Erzählungen waren wie Stichwortgeber für ein Eintauchen in Beziehungen mit Menschen, die nicht da, oftmals schon lange tot waren. Diese Beziehungen aber waren lebendig, und meine Eltern in diesen Beziehungen auch.
„Deine Schwester ist ja nun auch schon lange tot“, sagte ich einmal zu meinem Vater. „Die ist nicht tot“, fuhr er mich an, empört darüber, dass eine Lebende als tot bezeichnet wurde. Das hatte nichts mit Vergesslichkeit zu tun. Und in jenem Telefonat mit Hertha war es nicht ein einziges Mal um früher gegangen. Kein einziges „weißt du noch“. Und doch diese emotionale Präsenz. Jenseits des Präsens, aber auch nicht im Präteritum. Einmal, als ich den beiden vorlas, schaute mich meine Mutter intensiv an und bat mich freundlich: „Kannst du nicht mal deinen Kopf abschrauben?“ „Und dann?“ „Dann kann ich dir einen anderen Kopf aufsetzen.“ „Und welchen?“ „Den von Karl.“ Mit einer Kopfbewegung auf meinen neben uns im Bett liegenden Vater sagte ich: „Da ist er doch.“ Sie stutzte: „Das geht nicht.“ In dieser Phase antwortete ich auf Fragen, ob sie mich noch erkenne: „Klar erkennt sie mich. Sie weiß nur nicht, wer ich bin.“ So sah sie in mir eine Zeit lang ihren Bruder, der wenige Tage nach seiner Geburt gestorben war. Oder ihren geliebten Vater. Einmal suchte sie nach der richtigen Bezeichnung und sagte: „Papa. Karl. Kinder.“ Und nach einer kurzen Pause: „Du bist alle in einem. Und das ist gut.“ Die Parallelität zu einer Szene aus einer ganz anderen Region meines Lebens wäre mir wohl nie aufgefallen, wenn ich mich nicht mit einer Freundin und Kollegin über unsere Erfahrungen mit den demenziellen Veränderungen unserer Eltern ausgetauscht hätte. Am Ende eines Gespräches fragte sie mich etwas unvermittelt: „Kennst du eigentlich Johannes vom Kreuz?“
Alte Gewissheiten
Mystik. Kontemplation. Versenkung als Weg aus dieser Welt, als Annäherung an die jenseitige Welt. In einer meiner Übungen, Jahrzehnte her, gab es – jenseits von Raum und Zeit, aber nur in diesen Kategorien zu versprachlichen – diesen Moment in einem Raum mit all den Lieben meines Lebens, von der Grundschulliebe bis zur Lebensliebe, Freunde und Familie, auch der von ihr so geliebte Vater meiner Mutter, schon damals lange tot. Alle da, präsent im ungetrübten Licht einer umfassenden Liebe. „Papa. Karl. Kinder. Alle in einem.“
Mein Lieblingswerk der mittelalterlichen Mystik nahm ich wieder einmal aus dem Regal. Die Wolke des Nichtwissens beschreibt zwei Wolken, die im Prozess der kontemplativen Versenkung bedeutsam sind. Die eine schiebt sich zwischen die Übenden und „die Welt“. Alles Vertraute bleibt zurück, verliert an Bedeutung. Das Bild einer Wolke, die sich zwischen meine Eltern und meine Welt schob, fand ich durchaus treffend.
Die zweite Wolke ist die des Nichtwissens, in die hinein sich die Übenden begeben müssen, auch wenn deren Dunkelheit durchaus angsteinflößend sein kann. Alle Gewissheiten lösen sich auf. Das „Licht deiner geistigen Verstandeskraft“ (Wolfgang Riehle) kommt an sein Ende. Und ich erinnere jene Szene, in der meine Mutter in kurzen Abständen zwischen den Welten zu wechseln schien.
„Dir geht viel durch den Kopf“, sagte ich. „Ich habe keinen Kopf.“ Und noch einmal, lauter: „Ich habe keinen Kopf.“ Und dann, wie von der eigenen Stimme geweckt: „Was habe ich da gesagt?“ „Dass du keinen Kopf hast.“ Sehr bestimmt: „Ich habe einen Kopf!“ Hier ja, aber dort? „Was hab ich gesagt?“, fragte sie mich wieder einmal. „Du bist mal hier und mal auf der anderen Seite. Schön, dass du immer wieder hier auftauchst.“ „Ja, hier ist es schön.“ „Und auf der andern Seite?“ „Auf der anderen Seite ist es scheiße.“ „Na, dann ist es ja gut, dass du immer wieder hier auftauchst. Wir warten dann hier auf dich. So machen wir das.“ „Das ist gut, dass du sagst: So machen wir das.“
In den ersten Jahren der Veränderungen reagierte meine Mutter mit einer erstaunlich gelassenen Heiterkeit auf den gelegentlichen Zugriff der anderen Seite auf ihr Leben. „Ich glaube, ich werde plemplem. Ist aber nicht schlimm.“ Mit solchen Sätzen kommentierte sie ihre Verwirrtheit. In der späten Phase mit häufigen kurzen Absencen war ihr meist eine strenge Ernsthaftigkeit zu eigen, die mich an Menschen in Situationen totaler Verunsicherung erinnerte. Wie bei Soldaten, denen ich in einem Forschungsprojekt begegnen durfte. Durch ihre Psychotraumatisierung war das innere Gerüst der „normalen“ Welt erschüttert. Das Gemeinsame zwischen ihnen und meinen Eltern schien mir zu sein, dass sie eine Erfahrung machen mussten, die den Rahmen dessen sprengte, was sie kannten und erwarten durften. Als anfangs die Welt von Raum und Zeit noch klar dominierte, war für meine Mutter die andere Welt eine irritierende, aber auch komische Ausnahme. Dann aber ging es ihr wie jenen Soldaten: Das Vertrauen in die Welt, wie sie sie bis dahin kannten, war zerstört.
Der evangelische Theologe Thomas Thiel führt hier den Begriff der Schwelle ein: Dem Traumatisierten zerbricht eine Welt, er steht an der Schwelle zu einer anderen. „Nicht-religiös sozialisierten Menschen … fehlt ein taugliches Koordinatensystem, um sich jenseits der Schwelle zurechtzufinden.“ Aber: „Wenn es ... gelingt, diese Welten zu verknüpfen, werden die Wirklichkeiten der Schwellenübergänge verständlicher ...“ (Thomas Thiel: Frei-Sprechen und Wahr-Sagen).
Für meine Mutter schien ich so eine Verknüpfung der beiden Welten zu sein, da ich sowohl hier in Raum und Zeit als auch auf der anderen Seite vorkam.
Mit meinen Kontemplationserfahrungen wurde ich ihr zudem zu einem „sekundären Zeugen“. Psychotraumatisierte Menschen können das Trauma auslösende Ereignis oft über Jahrzehnte nicht erinnern. Es ist in der Chronologie ihres Hirns nicht abgespeichert, sondern „lagert“ abseits und greift von dort gelegentlich zerstörerisch in das Leben ein. In der Annäherung an dieses Ereignis ist es hilfreich, Menschen an der Seite zu haben, die Ähnliches erlebt haben und erinnern können. Sie kennen die Möglichkeit von Ereignissen, die doch eigentlich undenkbar sind. So bezeugen Andere das, was das eigene Hirn (noch) nicht bezeugen kann.
Einmal ging es um die Schwellenübergänge. Meine Mutter tauchte auf, wiederholte ihren letzten Satz und sagte: „Ich weiß nicht, was das bedeutet.“
Hell und warm
„Ich auch nicht. Das hast du von der anderen Seite mitgebracht. Und ich verstehe das nicht, was du von dort erzählst. Aber jetzt bist du ja wieder hier.“ „Ja, hier ist es schön.“ „Und auf der anderen Seite?“ „Ist es nicht schön.“ „Schade. Ich dachte immer, da wäre es hell und warm.“ „Ja, hell und warm. Das wäre schön.“ „Und die anderen warten da auf dich. Dein Vater …“ „Ja, Papa wartet auf mich. Und meine Mutter auch.“
Das war absolut überraschend. Jahrelang hatte sie ihre Mutter auf keinem Foto erkannt. Die Tragödie der von Geburt an ungeliebten Tochter, die lebenslange Auseinandersetzung mit dieser Ablehnung kumulierte in der Weigerung, die eigene Mutter auf Fotos auch nur zu erkennen. Und jetzt die Gewissheit, und Stimme und Mimik zeigten: die frohe Gewissheit, von dieser Mutter auf der anderen Seite erwartet zu werden. Als ob auf der anderen Seite nicht nur die hier gelungenen Beziehungen wärmten, sondern die anderen vom Schmerz des Scheiterns befreit liebevoll strahlten. Die erwähnte Freundin hatte Ähnliches von ihrem Vater berichtet.
Mein Vater hatte das Essen eingestellt und wurde palliativ versorgt. Meine Mutter fragte, ob er wohl um sein Sterben wisse. „Doch, ja, ich bin mir ziemlich sicher.“ „Wie schrecklich.“ „Nein, ich glaube nicht, dass das schrecklich ist. Er will ja nicht mehr leben. Und dann darf er doch auch sterben. Und auf der anderen Seite warten sie ja schon auf ihn.“ „Da will ich auch hin.“ „Da kommst du auch hin.“ „Und dann sag ich: Hey, da bin ich.“
Literatur
Matthias Lohenner: Wo kommst du denn her? Wichern-Verlag, Berlin 2024, 128 Seiten Euro 16,–.
Matthias Lohenner
Matthias Lohenner ist Superintendent der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.