Als Gemeinschaft begleiten

Die steigenden demenziellen Erkrankungen fordern auch die Arbeit in Kirchengemeinden heraus. Lena-Katharina Schedukat, Pastorin in der Kompass-Kirchengemeinde westlich der Kieler Förde, hat über das Thema promoviert. Sie fordert, sich auf die Wirklichkeit von Menschen mit Demenz einzulassen und in Beziehung zu treten.
Demenz verunsichert, berührt und fordert den erkrankten Menschen und die Menschen um ihn herum auf eine besondere Weise heraus. Auch in Seelsorge und Kirche ist das Thema längst präsent und wirft vielfältige Fragen auf. Kleine und große Schritte sind möglich, um Menschen mit Demenz beziehungsreich zu begegnen und unsere Gemeinschaft inklusiv zu leben.
In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Betroffenen voraussichtlich auf 2,8 Millionen steigen. Demenz ist damit längst keine individuelle Herausforderung der erkrankten Menschen und ihrer Lebenspartnerinnen und -partner, Kinder, Freundinnen und Nachbarn mehr.
Eine der besonderen Herausforderungen in der Begegnung und Begleitung liegt darin, dass Menschen mit Demenz unsere gängigen Beziehungsmuster und unser geprägtes Menschenbild in Frage stellen. Folgt man den internationalen medizinischen Diagnosekriterien nach ICD-10, ist Demenz eine Krankheit, die mit einem zunehmenden Verlust der Denk-, Orientierungs-, Auffassungs- und Sprachfähigkeit verbunden ist. Eine Demenzerkrankung bedeutet also für die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen ein kontinuierliches Abschiednehmen. Die eigene Identität wird nicht mehr erinnert, individuelle Fähigkeiten nehmen ab, Menschen und Beziehungen werden fremd. Zugleich sind Menschen mit Demenz auf der emotionalen Ebene oft besonders präsent. Aus christlicher Perspektive gehören die Endlichkeit und der Abschied zum Kern des Menschseins. Eine Begegnung auf Grundlage dieses christlichen Menschenbildes ist getragen vom Vertrauen auf Gottes Zusage, dass Krankheit und Tod nicht das letzte Wort haben. Jeder Mensch, egal ob mit oder ohne Demenz, ist Gottes Ebenbild. Denn es ist nicht etwas am Menschen, eine bestimmte Eigenschaft oder Fähigkeit, die jemanden zum Ebenbild Gottes macht, sondern gemeint ist die Existenz im Gegenüber und in Beziehung zu Gott. Sogar dann, wenn der Mensch auf reine Passivität reduziert ist, ist er Ebenbild Gottes. Für den Umgang mit demenziell erkrankten Menschen heißt das, dass sie als vollwertige Personen mit einer unverlierbaren Würde anzusprechen sind. Sie sind nicht in erster Linie Erkrankte, sondern Mitmenschen, Nachbarinnen und Gemeindeglieder.
Und sie sind längst Teil unserer Kirchengemeinden. Setzt man die Altersstruktur der meisten Kirchengemeinden voraus, ist der Anteil von demenziell erkrankten Menschen durchschnittlich sogar höher als in der Gesellschaft. Im auffallenden Widerspruch dazu treten sie und ihre Angehörigen oft wenig im Leben der Ortsgemeinde in Erscheinung. Die Krankheit ist mit Scham und Angst besetzt und führt deshalb vielfach dazu, dass sich Menschen mit Demenz zurückziehen oder isoliert werden. Zudem ist das geprägte Gemeindeleben vielfach wenig demenzfreundlich. Wir sind unsicher, wie wir mit demenzerkrankten Menschen umgehen können, um zueinander zu finden. Wir müssen zudem auch erfahren, dass unsere traditionelle kirchliche Prägung mit einer starken Ausrichtung an Sprache, Verstand und Orientierungsfähigkeit den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz wenig gerecht wird. Die Frage ist, wie sich Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen in unseren Kirchengemeinden und Quartieren willkommen geheißen fühlen, wir mit ihnen in Beziehung treten können und sie ein selbstverständlicher Teil unserer vielfältigen Gemeinschaft Gottes sein können.
Bei Demenzerkrankungen tritt die Fragmentarität des menschlichen Seins offensichtlich hervor. Menschen mit Demenz machen die Erfahrung, dass sie Bruchstücke ihrer Biografie erinnern, sie aber nicht mehr in einen Zusammenhang stellen oder deuten können. Demenziell erkrankte Menschen fühlen sich in bestimmte Ereignisse ihres Lebens unmittelbar hineinversetzt und sind emotional betroffen, ohne eine zeitliche Differenzierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart vornehmen zu können. Bei ihnen erfolgt der Bezug zu biografischen Ereignissen nicht bewusst und gesteuert und mit einem reflektierenden Abstand aus der Gegenwart, sondern subjektiv und selektiv. Erinnerungen werden beispielsweise ausgelöst durch bestimmte Orte, Bilder, Gerüche, Geräusche oder andere Menschen. Eine demenzgerechte Seelsorge zeichnet sich dadurch aus, in Beziehung zu treten und einen Erzählraum zu öffnen. Es geht nicht um eine autonome Konstruktion, Rekonstruktion oder Integration von unterschiedlichen Ereignissen der individuellen Lebensgeschichte. Eine demenzorientierte Seelsorge als Beziehungsgeschehen begegnet dem Menschen an dem Ort seiner Biografie, den er selbst anbietet. Sie äußert sich als punktuelle und beliebig oft wiederholbare Mitreise in die Vergangenheit und ermöglicht das Selbst-sein-Dürfen von Menschen mit Demenz in all ihrer Bruchstückhaftigkeit.
Scham und Angst
Angesichts des abnehmenden Sprachvermögens der erkrankten Menschen können kreative Erzählweisen in den Vordergrund der Kommunikation rücken wie beispielsweise anhand von Fotos, Musik, Briefen oder biografisch relevanten Gebrauchsgegenständen. Leiblich orientierte Seelsorgeformen gewinnen mit fortschreitender Erkrankung an Relevanz.
Während körperliche und kognitive Fähigkeiten im fortschreitenden Demenzstadium zunehmend reduziert sind, bleibt das leibliche Sein ein zentrales Erlebens- und Orientierungsorgan. Mittels verschiedener Arten leiblicher Seelsorge können Menschen mit und ohne Demenz in Beziehung treten und zugleich einen spirituell-transzendenten Raum betreten. Zu den leiblichen Seelsorgeformen zählen beispielsweise Segen, Salbung, die Feier des Abendmahls oder musikalische Seelsorgeformen. Das musikalische Altgedächtnis bleibt bei Demenzerkrankungen wesentlich länger erhalten als beispielsweise das Sprachgedächtnis. Auch wenn demenzkranke Menschen nicht mehr fähig sind zu sprechen, können sie Lieder manchmal noch mitsingen oder mitsummen. Das Melodiegedächtnis bleibt bis zu einem hohen Demenzstadium funktionsfähig. Musik kann bei Menschen mit Demenz Angst- und Unruhezustände verringern und wirkt gemeinschaftsstiftend. Eine musikalische Seelsorge bietet Menschen mit Demenz eine leiblich orientierte Wahrnehmungs- und Beziehungsmöglichkeit und zugleich eine körperliche Ausdrucksfähigkeit.
Insgesamt bleibt bei einer beziehungsorientierten Seelsorge im Kontext von Demenz der erkrankte Mensch nicht ausschließlich auf sich selbst bezogen. Seine Lebensgeschichte wird zum Teil einer heilsamen und gesegneten Geschichte Gottes mit uns Menschen.
Der Gottesdienst ist ein Ort, an dem Menschen miteinander und mit Gott in Beziehung treten können. Sie werden verbunden, gehalten, getröstet und gestärkt. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen können diese Beziehung und diesen Zuspruch gut gebrauchen. Die Atmosphäre eines Gottesdienstes besitzt eine ganz eigene Qualität und kann ein Gefühl der Heimat, des Vertrauens und der Gemeinschaft hervorrufen. Selbst wenn sie dem Geschehen auf kognitiver Ebene nicht mehr folgen können. Für Menschen mit Demenz hat der feste Ablauf des Gottesdienstes mit seinen geprägten Teilen einen wichtigen Stellenwert. Er bietet durch seine Wiederholung Halt und Orientierung. Viele Teile des Gottesdienstes sind am menschlichen Langzeitgedächtnis orientiert, so dass sie oft Gebete wie das Vaterunser, bekannte Psalmen oder Lieder mitsprechen und mitsingen können – trotz ihres eingeschränkten Erinnerungs- und Sprachvermögens. Neben einem festen, wiederkehrenden Ablauf ist es hilfreich, rituelle Formen von Nähe zu integrieren. Ein individuell zugesprochener Segen oder zusammen das Abendmahl feiern, ermöglichen beispielhaft solche leiblich-rituellen Erfahrungen. In einem Leben voller Diskontinuität bieten sie Menschen mit Demenz Halt und Gottes schützende Zusage.
Es ist immer wieder berührend zu erfahren, dass Menschen, die scheinbar jeden Kontakt zur Welt, zu sich selbst und zu anderen Menschen verloren haben, vom gottesdienstlichen Geschehen angerührt werden. Das kann dann gelingen, wenn die Gottesdienstgestaltung eher auf emotionales denn auf kognitives Verstehen ausgerichtet ist. Eine gottesdienstliche Lesung sollte sich auf einen kurzen, vertrauten Text oder besonders bildhafte Bibelverse beziehen. Auf eine lange, kognitiv-reflektierende Predigt ist zu verzichten. Grundlage für eine kurze Ansprache in leichter Sprache können neben Bibelsprüchen auch Symbole wie Wasser oder Licht sein und zu Ausdrücken für Segen und Hoffnung werden. Nicht nur vor dem Hintergrund von Demenz sind Symbole und Rituale als dem Wort gleichwertige gottesdienstliche Kommunikationsformen anzuerkennen.
Ein Gefühl der Heimat
Das Gottesdienstgeschehen kann die Sinneswahrnehmung eines Menschen auf ganz verschiedene Weisen ansprechen – durch Anfassen, Schmecken, Riechen und Berühren wird die Gegenwart Gottes auf unterschiedliche Weise spürbar. Auf diese Weise können sich Menschen mit Demenz im Gottesdienst angenommen, beteiligt und ernst genommen fühlen. Als darstellendes Handeln Gottes gewinnt er seine Gestalt und Wirklichkeit in der Beziehung Gottes zum Menschen und offenbart die geschöpfliche Bestimmung des Menschen als Gottes Ebenbild.
Zugleich ist in den Blick zu nehmen, dass der Gottesdienst nicht auf natürliche Weise jeden Menschen auf positive und stärkende Weise anspricht. Menschen mit Demenz sind wie alle Menschen in ihren Bedürfnissen verschieden. Zudem ist bei der gegenwärtigen Generation von demenziell erkrankten Menschen eine konfessionelle Bindung nicht immer prägend gewesen. Heterogene religiöse und kulturelle Prägungen spielen gegenwärtig eine größere Rolle.
Die besondere Symptomatik einer Demenzerkrankung macht deutlich, dass sich die Begegnung mit demenzkranken Menschen entscheidend ihrer veränderten Wahrnehmung, Lebenswelt und Kommunikationsfähigkeit anpassen muss. Grundsätzlich ist ihre Begleitung auf beziehungsorientierte und mehrdimensionale Formen angewiesen, um ihren individuellen Lebenskontexten und Bedürfnissen gerecht zu werden. Einen Menschen mit Demenz und seine Angehörigen in Seelsorge und Kirchengemeinde zu begleiten heißt zusammengefasst, sich auf seine Wirklichkeit einzulassen und in Beziehung zu treten. Diese Haltung eröffnet damit sowohl immanent-zwischenmenschliche als auch transzendent-spirituelle Erfahrungen.
Viel hat sich in den vergangenen zehn Jahren in der Wahrnehmung und Begleitung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zum Guten verändert. Kirchengemeinden und Quartiere haben sich auf den Weg zu demenzfreundlichen Orten gemacht. Das ist eine positive Entwicklung, die Hoffnung macht. Denn Menschen mit Demenz sind Teil unserer vielfältigen Gemeinschaft Gottes.
Lena-Katharina Schedukat
Lena-Katharina Scheduktat ist Pastorin in der Kompass-Kirchengemeinde westlich der Kieler Förde.