
Wenn Menschen mit Demenz und ohne Demenz einander begegnen, stoßen sie auf einen Riss zwischen ihnen, der durch nichts geheilt und aus der Welt geschafft werden kann. Heilsam wäre es trotzdem, wenn wir uns eingestehen könnten, dass das Andere in der Demenz unter uns einen Platz haben darf, meint Arne Manzeschke, Professor für Ethik und Anthropologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.
Menschen mit Demenz können Menschen ohne Demenz zutiefst irritieren. Da ist zum einen die wegbröckelnde Basis einer einmal alltäglich eingeübten Verständigung. Gerade bei nahen Anverwandten gehen diese Verständigungs- und Verstehensschwierigkeiten einher mit der Erfahrung einer schwindenden Persönlichkeit. Was einmal die Identität der Person (jetzt mit Demenz) ausgemacht hat, macht zunehmend einer Fremdheit und nicht selten auch Entfremdung Platz. Nicht zuletzt gemahnt die Begegnung mit Menschen mit Demenz daran, dass einen selbst diese Krankheit und der an dem Anderen zu besichtigende Verfall einholen könnte. Die Irritation über das Mühselige, Fremde und Bedrohliche am Anderen ist am Ende wohl auch eine zumeist uneingestandene Irritation über das Mühselige, Fremde und Bedrohliche am Eigenen.
Wenn Menschen mit Demenz und ohne Demenz einander begegnen, stoßen sie auf einen Riss zwischen ihnen, der – ernst genommen – durch nichts geheilt und aus der Welt geschafft werden kann. Je weniger Routinen, Konventionen, Vertrautheit die Begegnung abstützen und spuren können, desto schärfer tritt die Frage hervor: Wie werde ich mit meinem Anteil an der Begegnung diesem Menschen gerecht? Dem Anderen gerecht werden und dabei sich selbst nicht verleugnen und aufgeben zu müssen, gleicht immer mehr der Quadratur des Kreises: Wie können anarchistische Handlungen, wie zum Beispiel Socken im Kühlschrank, ein unorthodoxer Tag-Nacht-Rhythmus, argumentative Unzugänglichkeit, aus dem Vergessen resultierende Unverbindlichkeit oder wahlweise Aggressivität und Weinerlichkeit mit dem Wunsch der Nicht-Dementen nach Ordnung, Verlässlichkeit, Sicherheit und einem funktionierenden Alltag zusammengebracht werden? Das trifft ja nicht nur auf die kleinen Sorgenetze der Familien und Nachbarschaften zu, das (über-)fordert ja auch die aktuellen gesellschaftlichen Vorstellungen und Strukturen.
Menschen in der Praxis, die häufiger Umgang mit Menschen mit Demenz haben, werden entgegnen, dass noch eine ganze Menge geht, dass es mal mehr, mal weniger gut geht und dass gerade die palliative Sorge in den vergangenen Jahren erfolgreich große Anstrengungen unternommen hat, die Menschen mit Demenz mit mehr Respekt zu behandeln, ihren Bedürfnissen besser zu entsprechen und tragfähigere Sorgestrukturen geschaffen zu haben – und daran kontinuierlich weiter gearbeitet wird.
Das ist richtig und dankbar anzuerkennen. Und doch möchte ich es nicht bei dieser Beruhigung bewenden lassen. Der Riss zwischen uns ist sehr viel tiefer, als wir es uns eingestehen mögen, er überfordert uns in einer Weise, der wir mit allen guten Werken nicht entsprechen können. Das Fremde, das uns im Menschen mit Demenz gegenübertritt, lässt sich nicht in Eigenes, Bekanntes umarbeiten, das uns als Gerechtfertigte, als solche, die fertig sind mit der Frage nach dem Richtigen und Gerechten, aus der Begegnung kommen ließe. Unser Wissen, unser technisches Vermögen, sie reichen nicht zu, um diese Begegnung wie ein Problem zu lösen.
Wechselseitige Ansprüche
Diese Frage nach dem „Wie werde ich beziehungsweise wie werden wir den Menschen mit Demenz gerecht?“ bohrt – vermutlich – in uns gesunden Menschen stärker, und sie geht über Vorstellungen einer allgemeinen Gerechtigkeit hinaus. Da könnte mein Gegenüber als der Andere seine Rechte geltend machen. Da träfen wechselseitige Ansprüche aufeinander, die durch ein Drittes, die Gerechtigkeit, das Recht, die regelbasierte Ordnung oder Ähnliches vermittelt werden könnte. Aber mein Gegenüber mit Demenz ist nicht nur anders, sondern fremd und begegnet mir nicht auf einer Ebene symmetrischer Rechte, sondern fordert mich zur Begegnung in weitgehender Regellosigkeit (oder nach für mich nicht erkennbaren Regeln). Der Appell an eine allgemeine Vernunft fruchtet nichts, die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte fällt ins Leere, die Suche nach dem gemeinsamen Nenner – und sei er noch so klein – verläuft sich. Was sollen wir tun, wenn alle Normalität, alle Ordnung, aller guter Wille und alle guten Worte sinnlos bleiben im Blick auf eine gemeinsame Verständigung, gemeinsame Entscheidungen, ein gemeinsames Handeln? Wie kann ich als Einzelner dem konkreten Menschen mit Demenz gerecht werden? Wie schaffen wir das als Gesellschaft angesichts der Statistiken und Prognosen zu einem enorm wachsenden Sorgebedarf?
Beunruhigen will dieser Artikel nicht, um der bereits bestehenden enormen Anforderung noch weitere Lasten hinzuzufügen und Frustration zu fördern. Aber vielleicht könnte für uns Menschen, die wir uns um die Menschen mit Demenz in irgendeiner Weise kümmern und sorgen, eine gewisse Beunruhigung heilsam sein. Sie hat mit den Bildern von Gesundheit und Krankheit, von Anormalität und Normalität, von Ordnung und Unordnung zu tun, die uns – mal ausgesprochen, mal implizit – leiten.
Der Schriftsteller Arno Geiger hat es in seinen Reflexionen zur Demenz seines Vaters, die sich später zu einem weit über die Demenz-Community hinaus strahlenden Buch Der alte König in seinem Exil verdichtet haben, so beschrieben: „Dabei fällt mir ein, was Carl Einstein geschrieben hat, dass die materielle Welt und unsere Vorstellung sich nie decken. Das beschäftigt mich eine Weile, denn genaugenommen steckt in diesem Gedanken auch für mich etwas Grundlegendes, weil damit eine der Ursachen benannt ist, weshalb ich zum Schreiben gekommen bin, all die kleinen Unstimmigkeiten und Befremdlichkeiten, die Verschiebungen, Irritationen, Schreckmomente, kleinen Niederlagen und seltsamen Freuden, die mich von Kind auf begleiten und mich beinahe täglich denken lassen: Seltsam, die Dinge machen den Eindruck, als wären sie normal, harmlos und einfach zu durchschauen, und doch, etwas stimmt nicht mit ihnen. Mir kommt vor, mein Schreiben ist zu einem Gutteil das Ergebnis dieser Erfahrung, ein Erzählen und Nachdenken im kleinen Grenzverkehr zwischen Nicht-Verstehen, Verstehen-Wollen und Trotzdem-nicht-Verstehen. Ein Pendeln zwischen materieller Welt und Vorstellung, zwischen Stoff und Wort, ein Anrennen gegen eine Welt, die sich nur selten auf eine stabile Bedeutung und einen klaren Sinn festlegen lässt und stattdessen mit beklemmender Beharrlichkeit paradox, unbegreiflich und unnahbar bleibt.“
Nicht-Verstehen, Verstehen-Wollen und Trotzdem-nicht-Verstehen: Vermutlich beschreibt dieser Dreiklang recht gut den Riss, der sich zwischen den Menschen mit Demenz und den Anderen auftut. Mit dieser Einteilung beruhigen wir Verständigen uns vielleicht allzu leicht und sichern unsere Welt gegenüber dem und den Unverständigen, Unzuverlässigen, Unzumutbaren ab.
Aber dürfen wir uns mit dieser Einteilung zufriedengeben? „Seltsam, die Dinge machen den Eindruck, als wären sie normal, harmlos und einfach zu durchschauen, und doch, etwas stimmt nicht mit ihnen.“ Es sind eben nicht nur die Menschen mit Demenz, die ab einem gewissen Grad ihrer Krankheit für uns gesunde Menschen unzugänglich, unverständlich erscheinen. Ließen wir die Sicherungen mal beiseite, käme beunruhigender Weise zum Vorschein, dass es mehr Dinge und Lebewesen sind, die sich unserem Verstehenwollen entziehen.
Nicht nur Menschen mit Demenz „geben dem Außenstehenden vielfach Rätsel auf, da diese Menschen mit zunehmender Krankheitsschwere immer weniger in der Lage sind, ihrer inneren Welt Ausdruck zu verleihen“. So schreibt es Andreas Kruse, der renommierte Gerontologe, im Vorwort zu dem bemerkenswerten Künstlertagebuch von Karl Oskar Blase Wollten wir nicht Bilder machen? Nein, auch der Rest der Welt ist uneindeutiger, undurchschaubarer und unkontrollierbarer, als wir es gerne hätten und vorgeben. Der Künstler und Hochschullehrer Karl Oskar Blase hat über drei Jahre (2001–2004) die fortschreitende Demenz seiner Frau Marga in einem Tagebuch festgehalten, das sie in Bildern, Fotos und Collagen porträtiert. „Wir wollten doch noch Bilder machen“, sagt Marga eines Tages und provoziert einen intimen Prozess, der in seiner künstlerischen Dimension auch Außenstehende einnimmt und anregt. Irgendwann hat Marga nicht mehr verstanden, was und warum sie „Bilder machen“. Aber bis dahin ist es ein anrührender und den Riss im Miteinander immer wieder einmal überbrückender Prozess. ‚Wollten wir nicht Bilder machen?‘, Der Satz war für mich wie ein Signal zum Aufbruch in eine andere Welt. Ein Rausch, der etwas über ein Jahr dauern sollte, bahnte sich an. Für Marga tat sich gewissermaßen die Tür zur Realität einen kleinen Spalt auf und ließ etwas Licht von früher hinein.“ So beschreibt Karl Oskar Blase die Momente einer zumindest in Teilen wiedergewonnenen gemeinsamen Welt. Marga Blase hat schon bald das Bildermachen nicht mehr verstanden, hat ihren Mann nicht mehr erkannt und war auch sonst wenig einverstanden mit sich und der Welt um sie herum. Aber es gab eben diese Momente, wo Blicke sich trafen, Worte trugen oder Gesten berührten. Dazwischen immer wieder Fremdheit, Unsicherheit, Unverständnis auf beiden Seiten.
Es scheint so normal zu sein, dass wir einander verstehen, dass Worte, Gesten, Situationen eine stabile Bedeutung haben. Ließen wir Gesunden es zu, so könnten wir womöglich die Erfahrung Margas in umgekehrter Richtung machen, dass „sich gewissermaßen die Tür zur Realität einen kleinen Spalt“ auftut, jedoch zu einer Realität, die „sich nur selten auf eine stabile Bedeutung und einen klaren Sinn festlegen lässt und stattdessen mit beklemmender Beharrlichkeit paradox, unbegreiflich und unnahbar bleibt“.
Das Andere in der Demenz
Vielleicht können Menschen mit Demenz uns anderen zeigen, dass ihr Problem in umgekehrter Weise unser Problem ist. Diese Welt ist nicht so stimmig, rational und logisch, wie wir sie uns gerne einrichten. Es bräuchte wohl erheblichen Mut, um sich auf das Ungereimte, Verstörende, Brüchige, Zusammenhanglose wirklich einzulassen und es sich und anderen nicht bruchlos zu erklären, um sich weiterhin sicher in dieser Welt fühlen zu können. Heilsam wäre diese Irritation, wenn sie nicht einfach das Fremde, Verstörende, Regellose als die bessere Gegenwelt und den angemesseneren Gegenentwurf feierte, so als wäre alle bisherige Sorge um Würde und Respekt und eine gute Pflege für Menschen mit Demenz irreführend. Heilsam wäre die Irritation, wenn wir Gesunden uns eingestehen könnten, dass das Andere in der Demenz als Fremdes, Unverstandenes einen Platz unter uns haben darf, ohne restlos wegerklärt, wegorganisiert und wegtherapiert zu werden. Weil es uns Menschen gerechter wird.
Literatur
Karl Oskar Blase: Wollten wir nicht Bilder machen? Künstlertagebuch eines langen Abschieds. Euregio-Verlag, Kassel 2006, 192 Seiten.
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Carl Hanser Verlag, München 2011, 189 Seiten.
Klara Obermüller: Es schneit in meinem Kopf. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2006, 172 Seiten.
Arne Manzeschke
Dr. Arne Manzeschke ist Professor für Ethik und Anthropologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.