Unreflektierte moralische Forderungen

Nach welchen Mustern argumentiert die EKD in öffentlichen Erklärungen? Darüber promoviert der Mainzer Theologe Jan Thies Feußner. Er kommt zu wenig schmeichelhaften Ergebnissen.
Ich bin nicht unbedingt kirchennah aufgewachsen. Im Laufe der Jahre sind fast alle Mitglieder meiner Familie aus der Kirche ausgetreten, was nicht heißt, dass sie alle glaubensfern sind. Meine eigene Nähe zur Kirche ist größer geworden, als ich mich zeitgleich zum Examen zum Magister Theologiae in der Jugendarbeit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) zu engagieren begann. Zur Theologie bin ich eigentlich eher durch Zufall gekommen. Ich habe mir zuerst das Studium der Pharmazie in Marburg angeschaut, aber mir hat der enorme Leistungsdruck nicht gefallen, der gegenüber Studentinnen und Studenten in diesem Studium aufgebaut wird. Als ich dann etwas ins Theologiestudium hineingeschnuppert habe, zumal mich Theologie schon in der Oberstufe an der Schule interessiert hatte, bin ich in dem Fach hängengeblieben.
Derzeit promoviere ich an der Universität Mainz über die Argumentationsmuster ausgewählter öffentlicher Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Auf das Thema bin ich gestoßen, weil mir aufgefallen ist, dass in der Theologie der Liebesbegriff zwar immer stark gemacht wird, der Sündenbegriff aber dabei ziemlich abgehängt zu sein scheint. Da ich durch meinen Doktorvater Michael Roth vor allem für die ethischen Diskussionen in der Gesellschaft sensibilisiert bin, fand ich die Frage interessant, welche Konsequenzen es für die Ethik hat, wenn der Liebesbegriff stark gemacht wird, nicht aber in gleicher Weise von der Sünde gesprochen wird. Die Sünde als Gegenbegriff legt den Fokus auf die Unfähigkeit zur Liebe und unsere Selbstzentriertheit, die den Anderen gar nicht im Blick hat. Zur Sünde gehört auch, sich durch die Moral besser darzustellen.
Bei meiner Dissertation werde ich mich zwar verschiedenen Themenfeldern widmen, dabei geht es mir aber vor allem um das Wie der Argumentation, nicht das Was. Insofern ist es eine in erster Linie formale Herangehensweise, für die ich bisher die EKD-Friedensdenkschrift von 2006 und die Orientierungshilfe zum assistierten Suizid 2008 ausgewertet habe. Ich werde wohl auch noch die Denkschrift zur Familie als verlässliche Gemeinschaft sowie die Grundlagentexte zur Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen und zu Kirchenmitgliedschaft und politischer Einstellung durcharbeiten. Es geht mir dabei darum, mit einer möglichst großen Variabilität bei den Themen und den Veröffentlichungszeitpunkten die Argumentationsmuster einiger offizieller Papiere der EKD zu analysieren.
Was ich bisher feststellen konnte, ist, dass sich die Argumentation und der Ton in diesen Papieren teilweise sprunghaft stark verändern kann. Eben war sie noch sehr sachlich und nüchtern, plötzlich wird moralisch argumentiert, oftmals wird der Übergang nicht wirklich reflektiert. Wenn es zum Beispiel um die Wüstenentwicklung in Afrika geht, wechselt die Argumentation von der Darstellung der naturwissenschaftlichen Ursachen dieser Entwicklung plötzlich zu der Aussage, dass sich gute Christinnen und Christen ja für den Klimaschutz einsetzen sollten. So findet ein bruchloser Übergang von Tatsachenaussagen zu Sollensaussagen statt, der nicht wahrgenommen wird. Dabei fällt auf, dass die moralische Forderung viel unreflektierter ist als die Darstellung naturwissenschaftlicher Sachverhalte. Der Komplexität einer politischen und ökonomischen Debatte auf der einen Seite wird so auf der anderen Seite ein moralischer Appell gegenübergestellt, etwas für den Klimaschutz zu tun. Es hat dann den Anschein, als wäre die moralische Aussage klar und einfach und nicht weiter begründungsbedürftig. Vor allem wird eine Eindeutigkeit suggeriert, die man hinterfragen kann.
Aus diesen ersten Beobachtungen heraus frage ich mich, inwiefern die Liebe und im Speziellen das Liebesgebot Ursache für dieses geschilderte Phänomen ist. Mit der Liebe steht ein moralisches Gut im Fokus der Betrachtung, das Eindeutigkeit zu versprechen scheint. Ob etwas der Liebe widerspricht oder nicht, scheint auf den ersten Blick klar zu sein. Die Frage, ob diese Eindeutigkeit tatsächlich gegeben ist und ob es Gefahren einer solchen Argumentation geben kann, wird mich bis zum Abschluss der Arbeit und wahrscheinlich noch lange darüber hinaus beschäftigen.
In diesem Zusammenhang will ich auch der Frage nachgehen, inwiefern diese angenommene Eindeutigkeit zu Problemen führt. Eindeutigkeit verspricht Vereinfachung, was im Blick auf die Komplexität der angesprochenen Problemfelder verlockend sein könnte: Komplizierte Sachfragen werden mit der Moral gelöst. Dann kann gefragt werden, inwiefern gerade diese Vereinfachung nicht auch in ein „Schwarz-Weiß-Denken“ führen kann. Auf moralischer Ebene könnte man an die Gegenüberstellung von Gut und Böse denken: Es gibt die Guten, die der Liebe verpflichtet sind, und die Bösen, für die die Liebe offenbar keine Rolle in ihrem Handeln spielt. Wenn mir eine qualitativ und quantitativ angemessene Analyse gelingt, kann abschließend ein Blick auf Erklärungsversuche geworfen werden. Es ist dann nicht nur zu fragen, welche potenziellen Probleme mit einer derartigen Argumentation verbunden sein können, sondern auch, ob es verborgene Gründe für diese Redeweise geben kann.
Abschließend interessiert mich auch, ob die Liebe dazu einlädt, eine neue radikale Gesetzesethik zu vertreten: Du sollst lieben! Von hier aus könnte Theologie in einem weiteren Schritt die öffentliche Rede reflektieren.
Aufgezeichnet von Philipp Gessler
Jan Thies Feußner
Jan Thies Feußner ist Dozent am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Mainz.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.