Ohne Pfarrer und ohne Predigt

SharingCommunity heißt ein neues kommunikatives Gottesdienstformat, das ohne Pfarrerinnen und Pfarrer und ohne Predigt auskommt. Seit Oktober werden in St. Gallen Freiwillige für das neue Konzept ausgebildet. Uwe Habenicht, Pfarrer und Beauftragter für Gottesdienst und Liturgie im Kanton St. Gallen, beschreibt, wie es zu dieser neuen Form gekommen ist und was sie ermöglicht.
SharingCommunity ist der Versuch, gottesdienstliches Feiern auf die Höhe der Zeit zu bringen. Warum, so habe ich mich gefragt, sind wir als Pfarrerinnen und Pfarrer in den Gemeinden und als Verantwortliche in Kirchenvorständen, Synoden und Landeskirchenämtern nicht bereit, die kommunikativen und partizipativen Bedürfnisse und Ansprüche unser Mitchristinnen und Mitchristen so ernst zu nehmen, dass daraus ein neues gottesdienstliches Paradigma entsteht? Und das, obwohl wir wissen, dass allein aufgrund der schon bald fehlenden Pfarrerschaft der traditionelle Predigtgottesdienst flächendeckend ohnehin nicht aufrecht erhalten werden kann – nicht einmal mit den vielen engagierten Prädikantinnen und Lektoren, die jetzt schon einen unverzichtbaren Beitrag zur Gottesdienstkultur leisten.
Es ist an der Zeit, nicht nur kosmetisch am Gottesdienst zu arbeiten, sondern grundsätzlich einen Paradigmenwechsel einzuleiten. In der Biologie, so der katholische Pastoraltheologe Bernhard Spielberg, spricht man angesichts gravierender Veränderungen von einer „katastrophalen Metamorphose“: „Die Verwandlung der Raupe in den Schmetterling wird in der Biologie als katastrophale Metamorphose bezeichnet. Im verpuppten Stadium löst sich die Raupe nämlich nahezu vollständig auf. Nur einige spezielle Zellen, die für das Leben der Raupe bisher keine Rolle spielten, überleben.“ Das biologische Bild der Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling beschreibt abgründig hoffnungsfroh den einschneidenden Umbruch, der vor uns liegt, und schärft zugleich den Blick für die Keimzellen, aus denen Neues entstehen kann.
„Wie ist es euch mit dieser Achtsamkeitsübung ergangen?“, fragt Michael Huppertz, Psychiater und Achtsamkeitslehrer, die Gruppe von Pfarrerinnen und Pfarrern, die draußen im Kreis stehen. Ihre Aufgabe war: Lücken zwischen Ästen und Sträuchern zu entdecken. „Mir ist es schwer gefallen“, beginnt die erste. „Ich wollte eine richtig coole Lücke finden, und irgendwie waren mir dann alle nicht gut genug. Und am Ende hatte ich gar keine Zeit mehr.“ Die anderen hören konzentriert zu. Man sieht ihren Gesichtern an, dass sie das Gehörte mit dem Selbsterlebten abgleichen. Auch ich komme ins Nachdenken. Was zunächst einfach und wenig aufregend aussieht, hat es in sich. Denn das unkommentierte und bewertungsfreie Sharing ermöglicht es mir, mein eigenes Erleben und meine eigene Herangehensweise im Gegenüber zu anderen besser zu verstehen. Sharings eröffnen einen geschützten Raum des Verstehens und des Nachdenkens – ohne Belehrung und ohne pädagogischen Zeigefinger. Huppertz selbst beschreibt ihre Bedeutung so: „Sharings sind in der Regel sehr sinnvoll: Sie erlauben den Teilnehmern, noch einmal nachzuspüren und die eigene Erfahrung zu präzisieren. Sie sind eine Art Fortführung der Übung selbst und können und sollten weiter im Geiste der Achtsamkeit stattfinden. Es wird meist deutlich, dass die gleiche Übung unterschiedlich erlebt wird. Diese Multiperspektivität ist eine wichtige Konsequenz von Achtsamkeit. Die Teilnehmerinnen lernen sich kennen und kommen in einen besseren Kontakt miteinander.“
Sinnliche Erfahrungen
Wie kommt es, dass wir in unseren Gottesdiensten nur in Ausnahmefällen sinnliche Erfahrungen machen dürfen und dann fast nie die Möglichkeit haben, von den anderen zu erfahren, wie sie das Gesehene, Gehörte, Erfahrene erlebt haben? In der St. Galler Waldkirche „Waldgwunder“, die ich vor einigen Jahren gegründet habe und mit einem katholischen Kollegen begleite, stehen sinnliche Naturerfahrungen und anschließende Sharings im Mittelpunkt. Im Wald wird nicht gepredigt. Das muss auch gar nicht sein, denn der Bach, die Bäume, der Wind und das Moos künden jeweils auf ihre Weise von dem, der „leuchtend sanft, spürbar verborgen da ist“, wie es im liturgischen Eingangsportal des Waldgwunders heisst. Die Erlebnisse und Erfahrungen, die wir im Wald als Gruppe und als Einzelne machen, brauchen Raum zum Mitteilen und Austauschen. Inmitten der vielen anderen Waldgeschöpfe sind wir viel weniger isolierte Individuen als vielmehr Condividuen, die sich mitteilen und Anteil geben. Oder, in den Worten des Theologen Michael Meyer-Blanck (geboren 1954): „Es geht nicht um die personenunabhängige Übermittlung einer Botschaft, sondern um das Anteil-Geben an der eigenen glaubenden Erfahrung, die zur Erfahrung von Gemeinschaft und Dialog und damit auch zur Erfahrung des Dialogs mit Gott werden kann.“
Nicht nur Sharings können solche Freiräume schaffen, in denen das sonst im Alltag Unausgesprochene und Weggeschobene zum Ausdruck gebracht werden kann. Auch die Dialog-Methode, wie sie der bedeutende Physiker David Bohm (1917–1992) entwickelte, bietet die Möglichkeit, gleichermaßen mit mir selbst und anderen ins Gespräch zu kommen. Ein Beispiel: Hier und da mischt sich das Knacken und Knistern des Feuers mit Geräuschen aus dem Dunkel der Umgebung. Mit einer kleinen Gruppe sitzen wir um das Feuer, um zu philosophieren. Manche der Gesichter kann ich kaum erkennen. Zur Einstimmung ins Thema. „Gottes Verborgenheit“ werden ein paar Zitate gelesen, nach dem Check-in startet unser Dialog. „Ich habe erlebt, wie abwesend Gott sein kann“, beginnt die junge Frau. Sie spricht behutsam und langsam. Immer wieder stockt sie. Die Gruppe schweigt und lässt das Gehörte nachklingen. Die geschilderten Lebenserfahrungen, Gedanken und Meinungen liegen weit auseinander – und doch entsteht an diesem Abend eine Gemeinschaft.
Begegnungen im Mittelpunkt
Mit wenigen einfachen Regeln kreiert der Bohmsche Dialog eine gegenalltägliche Gesprächsatmosphäre, die durch Langsamkeit und Offenheit neue Einsichten fördert. Wenn christliche Gemeinde sich versammelt und auf eine biblische Lesung im Rahmen eines solchen Dialoges reagiert, eröffnen sich ungeahnte Perspektiven. Denn der bewertungsfreie und absichtslose Freiraum, der sich durch das verlangsamte Setting ergibt, macht die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit der anderen Mitfeiernden in Resonanz mit dem biblischen Text hörbar und lässt mich meine Muster und Voreinstellungen erkennen, durch die ich den Text gehört habe. Wie kaum eine andere Methode lässt mich diese Form des Dialogs mit einem Auge auf die Mitfeiernden schauen (und ihren Glauben) und mit dem anderen auf mich selbst (und meinen Glauben).
Wenn wir nun nach theologischen Beschreibungen für das, was SharingCommunity ausmacht, fragen, stoßen wir unweigerlich auf den Theologen Ernst Lange (1927–1974) und seine Fundamentalkritik am üblichen Gottesdienstgeschehen: „Die Zentralveranstaltung der Kirche hat ihren Begegnungscharakter verloren, der sie ursprünglich gross und wichtig gemacht …Die Kirche soll ihrer Liturgie den Begegnungscharakter wiedergewinnen“, schreibt er in Predigen als Beruf. Diesen Begegnungscharakter will SharingCommunity neu ins Zentrum der Liturgie stellen und damit das aufnehmen, was Friedrich Schleiermacher einst unter Gottesdienst verstand: mitteilende Darstellung und darstellende Mitteilung des religiösen Bewusstseins.
Wie versucht nun SharingCommunity diese Einsichten konkret umzusetzen? Das Format wird von einem ausgebildeten Dreier-Team gestaltet. Jede und jeder des Teams hat eine besondere Aufgabe. Der Liturg oder die Liturgin verantwortet den liturgischen Rahmen mit Gebet, Lesung, Fürbitte und Segen. WegbegleiterInnen erlernen in der Weiterbildung bewährte oder neue Methoden, die einen Zugang zu biblischen Texten eröffnen wie zum Beispiel den Bibliolog und andere. Daneben gibt es auch meditative oder auch kommunikative Formen für drinnen und draußen, die zum Erfahrungsaustausch oder zur inneren Einkehr anregen. Die dritte Person im Team versteht sich als gastgebender Mensch und ist ausschließlich für die Mitfeiernden da und hat für diese ein durch das Kurzgespräch (Timm H. Lohse) geschultes Ohr.
Wie sich bereits jetzt erahnen lässt, kann SharingCommunity bei gleicher Grundstruktur sehr vielfältige Formen mit unterschiedlichen Akzenten beinhalten und entspricht in dieser Vielfalt der gesellschaftlichen Diversität, die die Kirchgangsstudie des Liturgischen Institutes der EKD bereits 2019 sichtbar gemacht hat: „Die so unterschiedlichen Einschätzungen zum gottesdienstlichen Leben spiegeln damit das hohe Maß an gesellschaftlicher Ausdifferenzierung wider und deuten an, dass die Idee eines allgemeinen, für alle passenden Gottesdienstes womöglich längst an seine Grenzen gekommen ist.“ Die fünf liturgischen Grundelemente setzen bewusst beim Einzelnen an ( I. Bei mir ankommen), führen in die Gemeinschaft (II. Einander wahrnehmen), leiten zum Hören auf die biblische Tradition an (III. Gemeinsam hören), um dann den Raum für Erfahrungsaustausch und Gebet (IV. Austauschen und bitten) zu eröffnen. Den Abschluss bildet das Einander-Segnen oder Gesegnet-Werden (V. Gesegnet weitergehen) und ein geselliger Ausklang (weiter Beisammensein und Genießen).
In den SharingCommunity Equipes gibt es keine Pfarrerinnen und Pfarrer, weil diese Form keine Predigt vorsieht. Vielmehr teilen und feiern Leute ihren Glauben und Unglauben, ihre Zweifel und ihre Gewissheiten. Auch möchte diese neue Form die oft quälende Einsamkeit von Predigern und Predigerinnen gemeinschaftlich auflösen. Vielleicht liegt darin die eigentliche katastrophale Metamorphose. SharingCommunity ist ein Ausdruck für das, was gegenwärtig unter Leutetheologie (Christian Bauer) verstanden wird. Schon Luther konnte sagen: „Wir nennen uns alle Theologen, weil wir auch alle Christen sind. “ (WA 41,11)
Vielfalt feiern
Als wir vor einigen Jahren in St. Gallen Straubenzell vier Wochen lang predigtfreie Gottesdienste feierten, nachdem wir im Rahmen einer Kunstaktion eine Kanzel zersägt und daraus einen Tisch gebaut hatten, wurde mir klar: Eine zeitgemäße Liturgie ist vielstimmig und vielsinng und bringt andere dazu, sich mitzuteilen und sprachfähig zu werden. Unsere Predigten sind in Podcasts viel besser aufgehoben als auf Kanzeln. In der bereits bunten Gottesdienstlandschaft könnte SharingCommunity ein Format sein, das die Vielfalt feiert und Räume des Hörens und Zuhörens schafft, und allein dadurch bereits von enormer gesellschaftlicher Relevanz ist.
Information
Uwe Habenicht
Uwe Habenicht, reformierter Pfarrer in St. Gallen Straubenzell (Schweiz) und Autor. Zuletzt erschien von ihm „Draussen abtauchen“. Freestyle Religion in der Natur, Echter 2022.