Zusammen denken

Die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit ist sehr anerkannt. In wenigen Tagen erhält sie das jüdisch-muslimische Ehepaar Meron Mendel und Saba-Nur Cheema. Das stieß dem Zentralrat der Juden auf. Der Theologe Peter Noss schildert die Hintergründe.
Am 9. März erhält ein jüdisch-muslimisches Ehepaar im Hamburger Rathaus die Buber-Rosenzweig-Medaille, die der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) jeweils zum Auftakt des Themenjahres verleiht. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich alle Preisträgerinnen und Preisträger in den Bereichen des christlich-jüdischen Dialogs, des gesellschaftlichen Engagements oder in Kunst oder Kultur verdient gemacht.
Die diesjährigen Preisträger Meron Mendel und Saba-Nur Cheema reihen sich ein in eine illustre Reihe, zu der etwa der Pianist Igor Levit (2024), Peter Fischer und Makkabi Deutschland (2022), die Stiftung Neue Synagoge Berlin (2023), Peter Maffay (2018) oder Angela Merkel (2020) gehören.
Als der in Israel aufgewachsene Historiker und Pädagoge Meron Mendel im Frühjahr 2023 sein Buch Über Israel reden veröffentlichte, das schnell zum Spiegel-Bestseller avancierte, bestimmten die Ereignisse des 7. Oktober 2023 und die Folgen noch nicht den Diskurs. Neben vielen Beobachtungen und Analysen zur Situation in Israel stellte Mendel die Frage danach, wie eigentlich die Haltung in Deutschland zu Israel ist: Würde Deutschland auf Grundlage der „Staatsraison“ zum Beispiel auch militärisch in Israel eingreifen?
Die Politologin Saba-Nur Cheema hat pakistanische Familienwurzeln. Sie war im Frühjahr 2023 Mitarbeiterin der Bildungsstätte Anne Frank (deren Direktor Mendel ist) und als Mitglied im Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) der Bundesregierung im Bereich der Analyse zu „anti-muslimischem Rassismus“ tätig. Der Bericht (Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz) hierzu wurde im Sommer 2023 veröffentlicht.
Zusammen praktizieren Cheema und Mendel das interreligiöse Gespräch in Familie und Arbeitsalltag. Bereiche, die in ihrem Leben kaum voneinander zu trennen sind. Regelmäßig veröffentlichen sie in der FAZ das „Muslimisch-jüdische Abendbrot“, das kürzlich auch als Sammelband erschienen ist. Beide sind davon überzeugt, dass man trotz unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägung gut miteinander auskommen kann.
Unlösbare Situationen
Immer wieder wird das Ehepaar gebeten, scheinbar unlösbare Situationen und Streit zwischen gesellschaftlichen Akteuren zu schlichten. Das gelingt nicht immer. So war Mendel bei den Auseinandersetzungen um die „Documenta 15“ in Kassel 2022 und die antisemitischen Malereien der Künstlergruppe Ruangrupa aus Indonesien mehrfach als externer Berater vor Ort, um das Gespräch zu moderieren und Lösungen zu finden. Am Ende gelang das nicht, weil sein Angebot zur Moderation nicht angenommen wurde.
Der Terror-Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 mit über 1 200 Toten, vielen Verletzten, entführten Geiseln und traumatisierten Angehörigen und Freunden auch in Deutschland war ein Ereignis, das bis dahin unvorstellbar gewesen war. Es war der schlimmste Anschlag auf jüdisches Leben seit der Shoah. Und es waren zu viele Menschen in der deutschen Gesellschaft empathielos. So haben es auch Cheema und Mendel empfunden und beschrieben: „Das Mitleiden mit den Menschen vor Ort, das gehört zu unserem Alltag. Wir reden darüber, wenn wir aufstehen, wir reden darüber beim Essen, wir reden darüber, wenn wir das Kind ins Bett bringen …“
Mendels filmisch dokumentierte Reise nach Israel wenige Wochen nach dem Anschlag gibt Zeugnis davon, wie persönlich intensiv er, der er in einem Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens aufgewachsen ist, in die Ereignisse in Israel involviert ist. Und dennoch führten ihn diese Erlebnisse und Begegnungen mit Verwandten und Freunden, mit Israelis, Juden und Palästinensern nicht zu einer Vereinseitigung des Diskurses, sondern verstärkten die Empathie in unterschiedliche Richtungen.
Als die Preisträger für die Buber-Rosenzweig-Medaille im Sommer 2024 bekannt gegeben wurden, gab es viel Zustimmung – aber auch Kritik. Womit weder sie noch der DKR gerechnet hatten, war, dass der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in einem (eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten) Brief an das Präsidium und den Geschäftsführer Mendel sehr deutlich kritisierte, während er Cheema mit keinem Wort erwähnte. Als der Text bekannt wurde, gab es kritische Reaktionen in den großen Tageszeitungen.
Schuster ist zugleich Mitglied im Kuratorium des DKR und warf diesem vor, zu Palästinenser-freundlich zu sein, eine absolute Minderheitenmeinung zu vertreten, die in der jüdischen Gemeinschaft auf großen Widerspruch stoße. Mendel hatte unter anderem Ende Mai 2024 in einem ZDF-Interview die Position vertreten, dass die einzige langfristige Lösung im Nahost-Konflikt die Zwei-Staaten-Lösung sei: „Ich war immer für die Gründung eines palästinensischen Staates in den internationalen Grenzen von 1967.“
Verbunden damit übte Mendel Kritik an den polarisierten Lagern, die je für sich „die einzig richtige moralische Position …vertreten, was eine konstruktive Diskussion erheblich erschwert“. Vergleichbar sei dies mit einem Fußballspiel, bei dem auf der einen Seite die Israel-Fans stehen, auf der anderen die Palästina-Ultras – und: Egal, was auf dem Feld passiert, sie beschimpfen sich nur gegenseitig. Der Zentralrats-Chef äußerte Zweifel daran, „dass es in diesem Fall preiswürdig ist, wenn jemand eine Meinung vertritt, die so diametral der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in diesem Land widerspricht“.
Einen Anspruch darauf, eine repräsentative Meinung zu vertreten, hat Mendel aber nie vertreten. Im Gegenteil: Seine Frau und er sind sich darüber im Klaren, dass in den Diskursen, die sie führen, ständig dicke Bretter zu bohren sind. Wenn beispielsweise die Probleme von Antisemitismus, anti-muslimischem Rassismus und Kolonialgeschichte miteinander debattiert werden, wächst die Herausforderung exponentiell. Aber das ist notwendig.
Eine Provokation
Mehrere Tagungen, die Mendel als Professor für Pädagogik an der Frankfurter Universität für Applied Sciences in Kooperation mit der Bildungsstätte Anne Frank und unter Beteiligung von Experten verschiedener Forschungsrichtungen durchgeführt hat (Titel „Beyond“), weisen den richtigen Weg – vor und nach dem 7. Oktober. In gleicher Weise gelingen von Cheema an der Goethe-Universität durchgeführte Veranstaltungen deshalb, weil eine Sensibilität für andere Sichtweisen vorhanden ist.
Als Paar sind sie für viele eine Provokation, wie sie kürzlich in einem Interview festhielten. Sie fragen sich immer wieder, warum diejenigen, die gegen Antisemitismus kämpfen, gegen die sind, die sich gegen Rassismus engagieren. Es ist ein langer und mühsamer Weg, der aber alternativlos erscheint.
Auch in Israel sind diejenigen, die für Vermittlung und Versöhnung stehen, nicht im Zentrum der Debatten. Dazu zählen etwa Organisationen wie die Rabbiner für Menschenrechte, Givat Haviva, Neve Shalom, das Rossing Center oder die Mitglieder des Parents Circle und der Combatants for Peace. Dort wie hier stehen sie unter dem Verdacht, sich viel zu sehr auf die Seite der Palästinenser zu begeben und das Trauma des 7. Oktobers zu leugnen. Dabei sind gerade sie es, die aus der Erfahrung bereits erfahrener Traumata heraus den Weg eines konstruktiven Austausches gegangen sind und dies weiter zu vermitteln versuchen.
Auf einem von Mendel und Cheema kuratierten Kongress im Sommer 2024 in Berlin kamen auch Vertreterinnen und Vertreter dieser Organisationen zu Wort, wie beispielsweise Avital Benschalom, die eine von nur acht arabisch-jüdischen Schulen in Israel leitet. Sie sagte unter anderem, dass sie sich solche Diskursräume wie hier auch für Israel wünschte: „Denn die Debatten um Bildung und Kultur und die Reaktionen auf den 7. Oktober – über all das wird nicht genug geredet in Israel.“ Kleine Schritte, das Aushalten von Komplexität, der persönliche Austausch verhelfen weit mehr dazu, Lösungen zu finden, als zu polarisieren.
Auch der Leiter des Bildungszentrums Givat Haviva für jüdisch-arabische Verständigung argumentiert in eine ganz ähnliche Richtung: „Ich kann mit kleinen Projekten beitragen und suche dabei Partner: Vielleicht bringen wir zwei Schulklassen zusammen oder wir setzen auf Kunst zur Verständigung – oder wir spielen Fußball. All das darauf hoffend, dass die politische Führung irgendwann entsprechend handelt.“
Weg der Vermittlung
In dieser Weise versuchen Cheema und Mendel, einen Weg der Vermittlung von vermeintlich unterschiedlichen Themen zu finden, eine Brücke zu schlagen und füreinander zu streiten. Damit befördern sie Hoffnung. Während die eine insbesondere für die Bearbeitung des Problems eines anti-muslimischen Rassismus steht, ist dem anderen der Kampf gegen den Antisemitismus ein zentrales Anliegen – ohne dass dabei jeweils die Perspektive der anderen Seite aus dem Blick geraten würde.
Gemeinsam sind sie unterwegs, haben die Arbeit der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank seit vielen Jahren maßgeblich mitgeprägt und sind auch im wissenschaftlichen Kontext an Frankfurter Hochschulen präsent. Sie scheuen nicht vor der Konfrontation mit denjenigen zurück, die sich in einseitiger Solidarität zum Beispiel mit „Palästina“ oder auch mit der aktuellen israelischen Regierung aus dem notwendigen Diskurs verabschiedet haben oder die Israel und die Jüdinnen und Juden insgesamt pauschal des Kolonialismus und des Genozids in Gaza bezichtigen.
Solche Gruppen sind auf dem Campus der Universitäten immer wieder zu finden. Mendel und Cheema beschreiben sie als „Camps der Ideologie“, bei denen es nicht einfach ist, im Gespräch den anti-zionistischen Konsens aufzubrechen. Aber sie versuchen es trotzdem. Und erhielten für ihr Engagement kürzlich bereits das Bundesverdienstkreuz aus der Hand des Bundespräsidenten.
Mendel und Cheema fragten sich dennoch, ob sie nun angesichts der Schwergewichte der Namensgeber auch die Buber-Rosenzweig-Medaille verdient hätten. Richard C. Schneider, jüdisch-deutsch-israelischer Journalist, kam in einer Analyse im Spiegel, für den auch Mendel hin und wieder schreibt, zu folgendem Resümee: „Während für den einen Israel die selbstverständliche Heimat ist, deren Politik man kritisieren kann, ohne dass man sich deswegen vom jüdischen Staat lossagt, so ist für ... das Gros der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland Israel stets der Zufluchtsort gewesen“, ganz selbstverständlich. Beides stehe für die Diversität jüdischer Meinungen in Deutschland, in der Welt.
Mendel und Schuster haben sich kürzlich zu einem Gespräch getroffen. Ein gutes Zeichen im Sinne des dann beginnenden Themenjahres mit dem Titel „Füreinander streiten“.
Literatur
Saba-Nur Cheema/Meron Mendel: Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung, Köln 2024.
Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Köln 2023.
Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (Hg.): Füreinander Streiten. Das DKR-Jahresthema 2025 – 5785/86 in Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Bad Nauheim 2025.
Peter Noss
Peter Noss ist Pfarrer für Ökumene, Dialog und Partnerarbeit am Dekanat Wetterau in Friedberg.