Wo die Liebe ist, da ist Gott!

Kürzlich ist der ausführliche Auswertungsband der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) erschienen, die vor gut einem Jahr – auch in zeitzeichen – heftig diskutiert wurde. Die Diakoniewissenschaftlerin und Aufsichtsratsvorsitzende des EWDE, Bischöfin Beate Hofmann, und der Präsident des Diakonie Deutschland und Herausgeber von zeitzeichen, Rüdiger Schuch, widersprechen einigen Deutungen, die dort zu finden sind, und warnen vor falschen Weichenstellungen.
Mit viel Interesse und Sympathie, aber auch mit wachsendem Ärger nehmen wir die Auswertung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) wahr. Uns irritiert die Dichotomie (nicht nur Unterscheidung) von Religiösem und Sozialem. Schon im Überblicksband,[1] aber noch mehr in der Auswertung ist in einigen Beiträgen das Unbehagen zu spüren, dass „diejenigen, die sich zur Kirche halten, ihre Erwartungen vor allem auf soziale Kompetenzen kirchlicher Organisation beziehen. Ihre Verbundenheit ist auch hoch genug, dass religiöse Kommunikation wirksam werden kann – im Sinne eines Markenkerns der Kirchen mit einem echten Mehrwert.“ (Seite 48)[2]
Was stört uns daran? Hier wird zwischen dem „Eigentlichen“, dem Religiösen, der Verkündigung, und dem „Uneigentlichem“, dem Sozialen unterschieden. Das ist aus unserer Sicht biblisch nicht haltbar. Das Doppelgebot der Liebe setzt nicht die eine Hälfte über die andere. Und es ist auch wirkungsgeschichtlich falsch. Das Christentum hat schon immer vor allem durch sein soziales Engagement fasziniert, das zeigt die Geschichte der Anfänge wie die Geschichte der Mission. Vor allem ist es theologisch gefährlich, weil Religiöses gegen Soziales ausgespielt wird, statt zu verstehen, wie sich Religiöses im Sozialen ereignet.
Unsachgemäße Trennung
Das gelingt in der bisherigen Rezeption der Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung noch nicht überzeugend. So lesen wir auf Seite 114: „Kirchliches Handeln muss abwägen, ob etwas getan werden soll, was allenfalls im weiten Umfeld seines Markenkerns und seiner Identität liegt, oder ob es Erwartungen (vorsätzlich) enttäuschen wird. Denn es ist nicht ohne weiteres offensichtlich, dass und welche sozialen Angebote der Kirchen auf einen religiösen Antrieb zurückzuführen sind. Aufgabe kirchlichen Handels ist es deshalb, diesen Zusammenhang transparenter zu machen, so dass Menschen sagen können: „Diese Aktivität verstehe ich als Ausdruck aktiver Nächstenliebe.“ Interpretamente wie diese, die darauf drängen, das Soziale explizit religiös zu deuten, verstören. Genau das hat Jesus nicht getan und nicht gewollt. Er hat Menschen gefragt, was sie von ihm wollen und ihr Vertrauen als Glauben gedeutet. Das Soziale war für ihn klar religiös. Das voneinander zu trennen, ist unsachgemäß, auch in der heutigen Diakonie in einer zunehmend säkularen Welt. Diakonie ist mit „Herz und Mund und Tat und Leben“[3] Kirche und was dort geschieht, ist Ausdruck christlicher Nächstenliebe. Für viele Menschen ist Diakonie ein Anlass, sich mit Religion genauer auseinanderzusetzen und ein Grund, uns zu vertrauen und noch etwas von uns zu erwarten.
Die Entwicklung einer „Sozialreligion“ (Seite 111) wird mit einem kritischen Unterton beschrieben, die Diakonie als „glaubensfreien Raum“ skizziert vor dem Hintergrund eines pluralistischen Wertehorizontes. Das ließe sich auch anders lesen: Zentrale Werte des Christentums sind in unserer Kultur inzwischen Allgemeingut; sie haben das Ethos sozialer Berufe und unserer Sozialgesetze geprägt. Sich davon ständig krampfhaft „religiös“ unterscheiden zu müssen, bedeutet, die eigenen Wurzeln nicht mehr wahrzunehmen.
Klares Votum
Wie wäre es, wenn wir die KMU 6 lesen würden als klares Votum für ein sozialräumliches Agieren der Kirche, denn genau das erwarten viele unserer Mitglieder: 78% der Evangelischen erwarten, dass Kirche sich nicht auf ihre Gottesdienste konzentriert, sondern sich mehr in das allgemeine soziale Leben vor Ort einbringt (Seite 107). Die Sorge um das eigene Profil und eine Vermischung mit anderen Orientierungen ist eine Sorge einer zunehmend kleiner werdenden Gruppe aus Pfarrerinnen und Pfarrern, Kirchenleitenden und Hochverbundenen in unserer Kirche, die aus unserer Sicht sachfremd und diakonietheologisch unbegründet ist.
Wie wäre es, wenn wir die religiöse Dimension im Sozialen leben und gestalten würden, angeleitet von der Frage Jesu: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Und getragen von Matthäus 25: „Das habt ihr mir getan.“ (Gleichnis vom Weltgericht)
Wie wäre es, wenn wir wahrnehmen würden, dass aus der Diakonie und dem konkreten diakonischen Handeln wichtige Impulse für eine Theologie kommen, die in unserer Zeit relevant ist, anstatt ängstlich auf die vermeintlich mangelnde Kirchlichkeit der Diakonie zu schielen?
Wie wäre es, wenn wir das Verhältnis von Diakonie und Kirche nicht immer von der Bewahrung der Kirche herdenken würden, sondern von den Chancen der Diakonie her und vom Potenzial des Zusammenspiels?
Die Ergebnisse der KMU 6 zeigen, was auf dem Spiel steht: Sind wir uns als Kirche selbst genug oder haben wir verstanden, dass es unser Auftrag ist, in der Hinwendung zu unseren Nächsten zu leben, an der Sendung Gottes in die Welt und seiner Inkarnation teilzuhaben? Wir sind gesandt, hinzugehen, mit den Menschen zu leben, und unsere Gaben ins Zusammenleben einzubringen, statt ängstlich die drei falschen Fragen zu stellen: Was haben wir davon? Lohnt sich das für uns? Was geschieht mit unserem Profil?
[1] „Die soziale Reichweite der Kirche ist heute wesentlich größer als ihre religiöse Reichweite.“ (EKD: Wie hältst du´s mit der Kirche? Erste Ergebnisse der6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, 2023, S. 93).
[2] Alle Zahlenangaben beziehen sich auf Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral: Wie hältst du’s mit der Kirche? - Zur Relevanz von Religion und Kirche in der pluralen Gesellschaft, Analysen zur 6. KMU, 2024.
[3] Die viergliedrige Wortreihung entstammt dem Text des Eingangschores der Kantate BWV 147 von Johann Sebastian Bach (Textdichter: Salomon Franck) und lautet in Gänze: „Herz und Mund und Tat und Leben / Muss von Christo Zeugnis geben / Ohne Furcht und Heuchelei, / Dass er Gott und Heiland sei.“ Bereits 1998 verwandte die EKD diese Reihung als Titel der Denkschrift Nr. 143, die damals anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Diakonie entstand (https://www.ekd.de/50387.htm)
Beate Hofmann
Dr. Beate Hofmann ist Landesbischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel.
Rüdiger Schuch
Pfarrer Rüdiger Schuch ist Präsident der Diakonie Deutschland in Berlin und Herausgeber von zeitzeichen.