
Am morgigen Mittwoch will die Unionsfraktion zwei Anträge und am kommenden Freitag sogar einen Gesetzentwurf einbringen, die wohl nur mit Hilfe der AFD durchkämen. Das aber ist CDU-Chef Friedrich Merz laut eigener Aussage „völlig egal“. Der Journalist Arnd Henze sieht dies sehr kritisch und hofft auf genügend „Dissenter“ aus dem Unionslager, die das verhindern.
Von den 196 Unions-Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben viele ihre Büros im Jakob-Kaiser-Haus. Benannt ist es nach dem früheren Politiker der Zentrumspartei und Mitbegründer der CDU. Kaiser nahm für sein mutiges Eintreten gegen das NS-Regime monatelange Gestapohaft in Kauf – nachdem er 1933 mit seiner Fraktion noch für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte.
Als der Bundestag 1999 nach Berlin umzog, benannte er seine Funktionsgebäude bewusst nach Politikerinnen und Politikern, die in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus ihrem Gewissen gefolgt sind: neben Jakob Kaiser auch Paul Löbe (SPD) und Marie-Elisabeth Lüders (DDP, später FDP). Die Mahnung: auch in einem demokratischen Parlament braucht es die Haltung und die Zivilcourage der Einzelnen, um diese Demokratie zu verteidigen.
In dieser Woche soll der Bundestag nun über zwei Anträge und am Freitag sogar über einen Gesetzentwurf von CDU und CSU zur Migrationspolitik abstimmen, der nur mit den Stimmen von AfD und BSW eine Mehrheit finden könnte. Kompromisse mit SPD und Grünen hatte Kanzlerkandidat Friedrich Merz vorab ausgeschlossen und stattdessen angekündigt, er werde für eine Mehrheit „nicht nach rechts und nicht nach links“ schauen. Rechts der Union aber ist nur die in weiten Teilen rechtsextreme AfD, die bereits jubelt, dass der Gesetzentwurf weite Teile ihrer Forderung aufgreife.
Allerdings: selbst mit den Stimmen von AfD und BSW hätte Friedrich Merz nur eine hauchdünne Mehrheit. Vielen in den Fraktionen von Union und FDP mag das egal sein, einige haben auf das Einstürzen der „Brandmauer“ schon länger hingearbeitet.
„All In“ – die Schwäche des Spielers
Aber es gibt auch Abgeordnete, die sich in dieser Woche sehr ernsthaft fragen, was das Erbe von Jakob Kaiser und Marie-Elisabeth Lüders heute bedeutet – ohne dabei die gegenwärtige Situation mit der in den 1930er-Jahren gleichzusetzen.
Friedrich Merz spricht davon, er gehe mit seinen Anträgen „All In.“ Nimmt man das Bild aus der Pokerwelt ernst, konterkariert es allerdings das entschlossene Auftreten und dokumentiert die Schwäche des Spielers: „All In“ geht man, wenn man alles auf eine Karte setzen muss, weil man beim Einsatz sonst nicht mehr mithalten kann. Im besten Fall bleibt man im Spiel, im schlimmeren Fall verliert man alles.
„All In“ bedeutet also, dass Friedrich Merz nicht nur mit den eigenen Wahlchancen, sondern tatsächlich mit der Demokratie spielt. Dabei pokert er so hoch, dass es kaum noch etwas zu gewinnen gibt. Ein gemeinsames Gesetz von Union, FDP, AfD und BSW wäre ein Schritt zur Normalisierung der Zusammenarbeit mit Rechtsextremen. Das würde in manchen Bundesländern und Kommunen sofort die letzten Dämme brechen lassen. Umgekehrt würde auch ein Rückzieher Wasser auf die Mühlen der AfD geben: Sie könnte sich dann noch rücksichtsloser als alleiniges Original inszenieren und die Union als eine Partei, die sich nicht traut, vorführen.
Friedrich Merz hat das Parlament ohne Not in dieses Dilemma gestürzt. Dabei hatte er selbst im Bundestag dafür geworben, die Übergangszeit bis zu den Wahlen nicht für riskante Abstimmungen zu missbrauchen. In weniger als vier Wochen hätte er es vermutlich ohnehin in der Hand, die Neuausrichtung der Migrationspolitik in Koalitionsgesprächen sorgfältig zu verhandeln. Für eine Verzweiflungshandlung wie ein „All In“ bestand also überhaupt keine Notwendigkeit. Es sind allein die schwächelnden Umfragewerte, die den Kanzlerkandidaten Merz zum Glücksspieler werden ließen.
Nur ein Dutzend
Allerdings: die 196 Mitglieder der Unionsfraktion sind keine Jetons, sondern frei gewählte Abgeordnete, die nur ihrem Gewissen verantwortlich sind. Darunter gibt es bereits Einzelne, die unter keinen Umständen mit der AfD stimmen werden. Am Ende braucht es nicht einmal ein Dutzend, um den Dammbruch zu verhindern.
Im Sprachgebrauch werden solche Abgeordnete oft abwertend „Abweichler“ genannt. Der Bruch mit der Fraktionsdisziplin hat in Deutschland immer noch den Beigeschmack des Verrates – als ginge es in einer solchen Frage wie dem Umgang mit der AfD nicht vor allem darum, den innersten Überzeugungen treu zu bleiben.
Vielleicht werden manche Abgeordnete von Union und FDP jetzt auch in die USA blicken. Dort steht zwar eine große Mehrheit der republikanischen Abgeordneten und Senatoren im Kongress hinter Donald Trumps radikaler MAGA-Politik - die auch ein Angriff auf die Gewaltenteilung ist. Aber in beiden Häusern des Kapitols sind die Mehrheiten knapp. Und es gibt immer noch eine kleine Gruppe traditioneller Konservativer, die sich Trump nicht unterwerfen und das Verfassungsprinzip der Checks and Balances nicht kampflos aufgeben wollen.
Eine erste Kraftprobe gab es am vorigen Freitag, als es um die Bestätigung von Pete Hegseth als Verteidigungsminister ging. Gegen den früheren Fox-News-Moderator gab es auch unter Republikanern größte Bedenken: wegen Vergewaltigungsvorwürfen und Alkoholexzessen, ebenso wie wegen fehlender Führungserfahrung – und bei einigen wenigen auch wegen seiner extremen politischen und religiösen Positionen.
Karriere vorbei, aber reines Gewissen
Am Ende gab es drei republikanische Gegenstimmen. Es fehlte genau eine, um den „Christian Warrior“ Hegseth als Chef von 2,1 Millionen US-Soldaten zu verhindern. Für Susan Collins, Lisa Markowitz und Mitch McConell dürfte die politische Karriere damit vorbei sein – so wie für Liz Cheney, die sich 2021 als eine der wenigen Republikanerinnen der Lüge von der gestohlen Wahl widersetzte. Allerdings reihen sie sich ein in eine Tradition des Dissenses, die die politische Kultur der USA maßgeblich mitgeprägt hat.
Die Entwicklung der Bürgerrechte wäre zum Beispiel ohne die frühen „Dissenting Opinions“ des Obersten Gerichtshofs nicht vorstellbar. Als „Great Dissenter“ gilt bis heute John Marshall Harlan, der bis 1911 mit seinen Minderheitenvoten zur Rassentrennung vieles vorwegnahm, was erst 50 Jahre am Supreme Court mehrheitsfähig wurde.
Zu Zeiten des Vietnamkriegs riskierten der Whistleblower Daniel Elsberg und die New York Times mit der Veröffentlichung der Pentagon-Papiere hohe Strafen – ehe der Supreme Court mit einem Grundsatzurteil die Pressefreiheit entscheidend stärkte.
Widerstand gegen Guantanamo
Aber auch innerhalb der Regierung waren es oft Einzelne, die ihrem Gewissen folgten. Als die Administration von Präsident George W. Bush nach den Terroranschlägen vom 11.September 2001 sogar Folter und andere Rechtsbrüche legalisierte, leistete eine kleine Gruppe um John Bellinger, damals Rechtsberater von Sicherheitsberaterin Rize, über Jahre internen Widerstand. Heute berät er Mitarbeiter im Justizministerium und anderen Behörden, die vor der Frage stehen, ob und wie sich unter Donald Trump der Aushöhlung des Rechtsstaats von innen widerstehen lässt.
All diese Beispiele zeigen: Haltung und Zivilcourage haben gerade nichts mit „Wokeness“ zu tun. Auch Mike Pence stand immer am ganz rechten Rand des demokratischen Spektrums und war in Donald Trumps erster Amtszeit sein Vizepräsident, der viele problematische Entscheidungen loyal mittrug. Aber am 6.Januar 2021 beugte er sich weder dem Druck seines Präsidenten, noch der Gewalt der Angreifer auf das Kapitol. Am Ende einer wechselhaften politischen Karriere bleibt, dass er die amerikanische Demokratie in ihrem kritischsten Moment verteidigt und vorläufig gerettet hat.
Der Blick auf die USA zeigt, dass es nicht allein behutsamer Vergleiche mit der NS-Zeit bedarf, um die Tragweite politischer Gewissensentscheidungen zu erfassen. Die Beispiele zeigen aber auch: das persönliche Risiko, das Abgeordnete im Deutschen Bundestag abwägen müssen, ist vergleichsweise immer noch überschaubar.
Als nächstes förmliche Kooperation?
Am einfachsten ist es für jene, die parteiintern schon lange ein Einreißen der Brandmauern fordern. Sie haben sich durchgesetzt und werden im nächsten Schritt auch förmliche Kooperationen mit der AfD in ostdeutschen Landtagen und Kommunen anstreben.
Schwieriger ist es für jene, die das nicht wollen, aber unter Friedrich Merz noch etwas werden wollen. Sie werden sich an den Strohhalm klammern, dass es ja keinen formalen Absprachen mit der AfD gab und danach umso lauter versuchen, den Schwarzen Peter an SPD und Grüne zu schieben.
Aber es gibt auch eine Reihe von Abgeordneten, die gar nicht mehr unter Druck gesetzt werden können, weil sie in wenigen Wochen ohnehin aus dem Bundestag ausscheiden werden. Darunter sind Politiker, die sich über Jahrzehnte einen parteiübergreifenden Ruf als integre Demokraten und Parlamentarier erworben haben. Schwer vorstellbar, dass diese Abgeordnete ihre politische Laufbahn mit einer Abstimmung beenden wollen, an die man sich als Dammbruch gegenüber den Feinden der liberalen Demokratie erinnern wird.
Und schließlich gibt es Einzelne, die auch im kommenden Bundestag sitzen werden und mit der Abstimmung am Freitag hadern. Für sie wird der Preis einer Gewissensentscheidung hoch sein. Man wird ihnen den Makel des Verrats anhängen und ihnen die Schuld für ein mäßiges Wahlergebnis geben.
Der Ärger des Merz
Bei der Abstimmung über das Staatsbürgerschaftsrecht stimmten auch 26 Unionsabgeordnete dem Gesetz zu – zum Ärger von Friedrich Merz. Das war vor gut einem Jahr. Natürlich ist der Druck drei Wochen vor der Bundestagswahl um ein Vielfaches höher. Und die Sorge, mit einem Nein zum eigenen Gesetzentwurf der AfD zusätzlich Auftrieb zu geben, ist nicht von der Hand zu weisen.
Es gehört zum Wesen einer Gewissensentscheidung, dass sie einem niemand abnehmen kann. Umgekehrt gehört es zum Wesen der repräsentativen Demokratie, dass sie Abgeordnete nicht mutwillig in Situationen führt, aus denen es keinen guten Ausweg gibt. Sie sollten beweisen, dass sie keine Jetons im „All In“ eines Kanzlerkandidaten sind, der nicht mehr nach rechts und links, sondern nur noch auf schwächelnde Umfragewerte schaut. Panik aber ist ein schlechter Ratgeber für das Gewissen.
Arnd Henze
Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.