Blick in die Zukunft

Leben und Leiden in Neukölln

Man kann keine objektive Rezension über das Buch eines Autoren erwarten, mit dem man selbst schon zwei Bücher veröffentlicht hat – das als Warnung vorab. Dennoch hoffe ich, dass mein Urteil ernst genommen wird: Ich halte das Buch von Jan Feddersen Meine Sonnenallee für unbedingt lesenswert. Diese Empfehlung gilt für alle, die mehr verstehen wollen über diese so stark in Verruf geratene Straße und dieses Milieu in Berlin-Neukölln, wo das unsägliche Massaker der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit mehr als 1 200 Toten mitten in Deutschland von Israelhassern mit "Baklava for free" gefeiert wurde.

Als Jan Feddersen Anfang Dezember vergangenen Jahres das Buch in der taz, dessen Redakteur er seit vielen Jahren ist, vorstellte, musste er in Erinnerung an das Massaker kurz gegen die Tränen kämpfen – was, das sei verraten, bei diesem hart gesottenen Journalisten sehr selten vorkommt. Auch das zeigte: Die aus dem Nichts kommende Bluttat brutalsten Ausmaßes, das schlimmste Pogrom seit dem Holocaust, hat den Autor tief erschüttert. Ebenso die unverhohlene, zynische Freude der Hamas-Fans gerade an „seiner“ Sonnenallee, an der er seit 27 Jahren lebt: Waren das wirklich seine Nachbarn? Wie kann das sein, dass manche Männer und Frauen, mit denen man seit so vielen Jahren gut nachbarschaftlich zusammenlebt und die man ganz gut zu kennen glaubt, solche Abgründe an Hass in sich verbergen?

Das war der Anstoß, dies waren die Grundfragen seiner „Notizen aus Neukölln“. Zuerst schrieb Jan Feddersen seine Eindrücke auf Facebook auf, dann auch hier auf zeitzeichen ein paar von ihnen – schließlich wurde daraus ein Tagebuch, etwa ein Dreivierteljahr umfassend, zur Situation in seinem „Kiez“. Mit fast täglichen Einträgen, die nun erfreulicher Weise auch in Buchform vorliegen.

Die große Stärke des Buches ist, dass Jan Feddersen die goldenen Reporterregeln befolgt, nämlich auf die Menschen zuzugehen, mit ihnen zu sprechen und genau aufzuschreiben, was er sieht, hört, riecht und schmeckt. Der Autor tut dies nicht von oben herab, sondern mit grundsätzlicher Sympathie, eben nachbarschaftlich von gleich zu gleich. Und das gilt sowohl für die alte Nachbarin urdeutscher Herkunft mit einem Job in einer Keksfabrik, die die „Sonnenallee“ noch aus Zeiten vor dem Mauerfall kennt, wie natürlich auch für die vielen Nachbarn mit migrantischen Wurzeln, die das heutige Neukölln besonders prägen.

Jan Feddersen, der einer Hamburger Hafenarbeiterfamilie entstammt, findet in seinem Buch einen Draht zu den Menschen, zu seinen Nachbarn, ohne sie besser oder liebenswerter darzustellen, als sie sind. Das Buch zeichnet zugleich einen großen Respekt vor den Menschen dieses armen Viertels aus: für ihre Lebensleistungen, ihre Alltagskämpfe, und ja, auch ihre häufige Weltoffenheit und Toleranz. Die „Sonnenallee“ ist aus dieser Perspektive nicht mehr der Hotspot der Israelhasser, zu dem manche Medien diesen „Kiez“ nach dem 7. Oktober 2023 hochgejazzt haben. Man liest und versteht.

Gibt es etwas an dem Buch zu bemängeln? Wenn, dann nur Kleinigkeiten. Das Schriftbild hätte ruhig etwas größer sein dürfen. Auch manche sprachlichen Manierismen, für die Feddersen in der taz bekannt ist und die eher Geschmackssache sind, haben ihren Weg zwischen die Buchdeckel gefunden – Beispiel: „… so einen nötig unversöhnlichen, nicht auf politische Schmusigkeit geeichten Ton …“ Das muss man mögen, aber manche lieben gerade dieses freie Spiel mit der deutschen Sprache. So ist am Ende zu hoffen, dass dieses Buch viele Leserinnen und Leser findet, die mehr verstehen wollen von einem Milieu, das in fast allen großen Städten der Republik zu finden ist. In gewisser Weise hat Feddersen mit seinem Buch einen Blick in die Zukunft Deutschlands geworfen. Es ist kein Blick, der abschreckt.

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