In der Ärzteschaft gibt es oft auffällige Doppelbegabungen. Viele Mediziner-Orchester sind ein Indiz dafür, dass ärztliche Künstlerschaft mit musikalischer Begabung einhergehen kann. Vielleicht ist das Musizieren ein besonders guter Ausgleich zu Anstrengungen in Klinik und Praxis. Es gibt zudem eine bemerkenswerte Nähe zur Poesie. Viele Dichter waren von Beruf Ärzte: Gottfried Benn natürlich, aber auch Paul Fleming, einer der Begründer deutscher Lyrik, William Carlos Williams, klassischer Modernist aus den USA, aus neuerer Zeit Rainald Goetz, Uwe Tellkamp oder Jakob Leiner. Letzterer, Jahrgang 1992, lebt als Arzt und Lyriker (sowie als musikalisch begabter Mensch) in Freiburg und hat nun mit erkennbarer Freude eine schöne und oft anrührende Anthologie zusammengestellt, die seine beiden Lebensthemen verbindet. Erläuterungen und Biogramme helfen beim Verständnis besonders der älteren Texte sowie der weniger bekannten Autorinnen und Autoren.
Aus über 500 Jahren, vornehmlich, aber nicht nur aus Deutschland, stellt Leiner Verse vor, die von Ärzten oder Patienten verfasst wurden. Über die Epochengrenzen hinweg geben sie grundmenschlichen Lebensfragen eine literarische Gestalt: dem Leiden an Verletzung, Schmerz und Krankheit, der Hoffnung auf Linderung und Heilung, der Verzweiflung über und der Ergebung in die Endlichkeit menschlichen Lebens.
Eine besondere Freude beim Lesen von Anthologien besteht darin, dass man einigen seiner Lieblinge begegnet. So hat mich das Wiedersehen mit Paul Fleming, Andreas Gryphius oder Emily Dickinson beglückt. Eine andere – weniger sympathische – Freude besteht darin, dem Herausgeber in Gedanken Vorhaltungen zu machen, was er ausgelassen hat. So hätte ich ihm empfohlen, unbedingt „Faith Healing“ von Philip Larkin aufzunehmen. Die schönste Freude aber bereiten Gedichte, die man gar nicht erwartet hätte. So hat mich Philipp Melanchthons Gedicht „Über die Betrachtung des menschlichen Körpers“ überrascht.
Eine besondere Aufmerksamkeit verdient ein Gedicht des preußischen Königs Friedrich II. Es trägt den Titel „Reime wider einen Arzt, der einen armen Gichtkranken durch eine Schwitzkur umzubringen gedachte“. Ein witziges Spottgedicht ist es, allerdings mit einem bitterernsten Kern. Denn es legt Zeugnis ab von ärztlichem Machtmissbrauch. Ignorant und unfähig unterzogen Ärzte in der Vormoderne ungezählte Menschen ebenso brachialen wie sinnlosen Prozeduren, sogar einen König. Am 10. Juni 1749 schickte Friedrich II. ein Gedicht darüber an Voltaire mit den Worten: „Ich hab Anlaß, etwas über ihre Verfahren aufgebracht zu sein; ich leide an der Gicht, und sie haben mich beinah durch ihre Schwitzkuren ins Jenseits befördert.“ Zum Glück überlebte er, so dass er sein nur oberflächlich heiteres Gedicht mit den Versen schließen konnte: „Mir soll’s gleich sein – immerhin / Segn‘ ich meines Schicksals Gunst: / Meiner Wandlung Hochgewinn / Bleibt, daß ich jetzt sicher bin / Vor der Ärzte Kunst!“
Die Gefahr des ärztlichen Machtmissbrauchs hörte mit der Moderne nicht auf. Im Gegenteil, gerade im Namen des Fortschritts, der natürlich sehr häufig überaus segensreich war, haben viele Mediziner ungeheuer Unverantwortliches getan: Menschenversuche, therapeutische Gewalt, Zwangssterilisierungen, Mord – nicht nur in der NS-Diktatur. Darüber haben besonders Dichterinnen geschrieben, die vor den Psychiatriereformen in geschlossenen Einrichtungen leben mussten. Zum Beispiel Sylvia Plath. Oder die Italienerin Alda Merini, deren Gedichte gerade endlich ins Deutsche übersetzt worden sind („Die schönsten Gedichte schreibt man auf Steine“) – leider zu spät für Leiners Anthologie. Aber wer sagt denn, dass man sich nicht zwei Lyrikbände auf einmal zulegen dürfte?
Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.