Kaum ein anderes Thema beschäftigt die Kirchen in Deutschland, in Europa und weltweit so sehr wie Fälle sexuellen Missbrauchs, sexualisierter wie sexueller Gewalt und der Umgang damit. Lange Zeit stand – zumindest in der Aufmerksamkeit der deutschen Medienöffentlichkeit – die katholische Kirche im Fokus. Dies änderte sich nicht zuletzt mit der ForuM-Studie (siehe auch zz 10/2024 und zz 1/2025). Während in der ForuM-Studie breit angelegt möglichst viele Fälle, die Bedingungen, welche diese ermöglichten, und der kirchliche Umgang mit diesen erforscht wurden, richtet Ute Gause – Professorin für Reformation und Neuere Kirchengeschichte an der Ruhr-Universität Bochum – in Gott habe ihm gesagt, er solle mich zur Frau machen. Missbrauch in der Evangelischen Kirche den Blick explizit auf die Taten eines Täters, welcher sich als Pfarrer verschiedener Formen sexualisierter Gewalt schuldig gemacht hat.
Die Autorin wertete hierzu nicht nur das gesamte auffindbare Archivmaterial – Personalakten, Gesprächsnotizen und fallbezogene Akten – aus, sondern führte auch strukturierte Interviews mit Betroffenen und Personen aus dem Umfeld des Pfarrers, der Opfer und der Kirchengemeinden wie auch der Kirchenleitung (Bystander*innen). Der gesamte Quellenbestand fand pseudonymisiert Eingang in das Buch.
Die Autorin beginnt ihre Darstellung mit einer Skizze der zeithistorischen Kontexte, in denen der Pfarrer aufwuchs, studierte und von denen er in seiner Amtszeit geprägt wurde. Hierzu zeichnet das Buch auch die pastoraltheologischen Debatten der 1960er- und 1970er-Jahre nach und verdeutlicht den spezifisch frommen, evangelikal-pietistischen Hintergrund des Pfarrers, der zum Täter wurde. Dieser steht im Mittelpunkt des ersten ausführlichen Kapitels. Die Autorin zeichnet hier das Bild eines ebenso charismatischen wie manipulativen Menschen, der es versteht, andere an sich zu binden. Darüber hinaus wird immer wieder die Spannung zwischen konservativ-erwecklicher Theologie und sexueller Zügellosigkeit deutlich, welche der Täter selbst durch eine Metaphorik göttlich geschenkter Liebe zu überdenken versuchte.
Nach einer ausführlichen Schilderung des Lebens- und Berufsweges des Täters, welcher nach einer Verurteilung wegen sexueller Nötigung einer damals 15-Jährigen aus dem Pfarrdienst entlassen wurde und seine Pensionsansprüche und Ordinationsrechte verlor, widmet sich Gause der Perspektive der Opfer und „Bystander*innen“. Dazu fasst sie die von ihr geführten Interviews zusammen und ordnet das Gesagte in den Kontext des Falles ein. Hier wird erneut deutlich, wie viele Übergriffe, Grenzüberschreitungen und Pflichtverletzungen es in den Amtsjahren des Pfarrers gegeben hat, wie viele Hilferufe und Beschwerden dennoch ungehört verhallten. Anschließend werden kurz die Reaktionen und Aufarbeitungsversuche der Landeskirche geschildert. Abschließend fragt Gause nach den Bedingungen der Möglichkeit, dass sich sexuelle Grenzverletzungen, Nötigungen und sexualisierte wie geistliche Gewalt über so viele Jahre hinziehen konnten. Vieles war bekannt, viele Beschwerden über das sexuelle Verhalten des Pfarrers wie auch über seine Alkoholsucht lagen vor. Getan wurde bis zuletzt wenig. Erst die juristische Aufarbeitung brachte auch die Landeskirche in Bewegung.
Ute Gause gelingt durch ihre intensive und kenntnisreiche Einzelfallstudie etwas, was im Rahmen der ForuM-Studie nur schwerlich möglich war: die genaue und detaillierte Aufarbeitung sexualisierten Missbrauchs im Rahmen der evangelischen Kirche. Ihr Buch kann einen wichtigen Beitrag zum Verständnis und zur zukünftigen Prävention leisten.
Lukas Johrendt
Lukas Johrendt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Evangelische Theologie an der Universität der Bundeswehr in Hamburg.