Der Untertitel „Politische Ethik des Neuen Testaments“ ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Denn in neutestamentlicher Zeit waren die Christen eine Minderheit, die Politik nicht gestalten konnte, sondern unter Machthabern zu leiden hatte. Durch die Mitarbeit im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sah sich der Neutestamentler Thomas Söding aber veranlasst, nicht bei der historischen Rekonstruktion stehen zu bleiben, sondern die Ethik des Neuen Testaments für aktuelle Fragen fruchtbar zu machen, ohne jedoch der Politisierung des Evangeliums oder einer biblizistischen Moralisierung Vorschub zu leisten.
Nach einer problemorientierten theologiegeschichtlichen „Einführung“ und einer zeitgeschichtlichen „Verortung“ im antiken Kontext folgt drittens eine „Grundlegung“ durch die politische Botschaft Jesu vom Reich Gottes. Sprichwörtlich geworden ist seine Antwort auf die Steuerfrage: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Aus diesem „Kernsatz politischer Ethik für das Christentum“ ergibt sich „eine Notwendigkeit, politische Macht auszuüben“, und zwar „in Verantwortung vor Gott“.
Der vierte Teil schildert die „Entwicklung“ der jungen Gemeinden, ihren Aufbau, die Nutzung der Infrastruktur und die Kontroversen mit politischen Autoritäten: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29). Paulus ist ein „Homo politicus“, der als römischer Bürger sein Appellationsrecht an den Kaiser wahrnimmt. Besonders verdienstvoll ist die Analyse von Römer 13,1–7, die angesichts der problembeladenen Auslegungsgeschichte die oft vernachlässigte Frage in den „Fokus“ rückt, „was gute Politik ausmacht“. Der Text ist „nicht das Zeugnis einer theologischen Staatslehre“, sondern thematisiert, wie sich die römischen Christen angesichts negativer Erfahrungen zur politischen Autorität Roms konkret verhalten sollen. Paulus spricht von „Macht, die legitime Vollmacht ist und eine Herrschaft begründet, die nicht willkürlich ist, sondern ihre Ordnung in der Orientierung am Guten findet“, die „von Gott eingesetzt, also auch vor Gott zu verantworten ist“, „auch durch Zwangsmittel das Gute zu fördern und das Böse zu bekämpfen“. Was „fehlt“, ist „eine Risikoanalyse, die Machtmissbrauch erkennt und begrenzt“. Dennoch ist der Text für „die Ethik der Macht grundlegend“ und für „das Gewissen der Bürgerinnen und Bürger wegweisend“ (vergleiche 1Petrus 2,13–17; 1Timotheus 2,1–7; Titus 3,1 f.).
Kapitel fünf bietet „Orientierung“ für aktuelle politische Handlungsfelder in neutestamentlicher Perspektive. In ihrer Hermeneutik ist die Bibel „Gotteswort im Menschenwort“ und damit „zu einhundert Prozent zeitbedingt“, der Anspruch ihrer Ethik der Gottes- und Nächstenliebe aber „das stärkste Bindeglied zwischen der ‚Kirche‘ und der ‚Welt‘“. Freilich können biblische Texte nicht als solche „Geltung beanspruchen, sondern müssen sich argumentativ auch denen vermitteln lassen, die nicht die theologischen Voraussetzungen teilen oder religiös unmusikalisch sind“. Der Abschnitt „Frieden: Feindesliebe, politisch orientiert“ bekräftigt den Paradigmenwechsel vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden, plädiert für proaktive Friedensarbeit, kritisiert den Pazifismus der Kirchen als „naiv“ und endet – angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine – mit dem „Appell, eine ethisch fundierte Friedenspolitik zu begründen, die Gerechtigkeit in Freiheit schafft“. Es folgen Passagen zur Sozialpolitik mit Nächstenliebe, zum Geld in der Bibel und sozialer Wirtschaftspolitik, zum Klimaschutz aus schöpfungstheologischer Verantwortung, zu Recht und Gerechtigkeit mit der Begründung der Menschenwürde durch die Gottebenbildlichkeit, zu Sexualität und Gendertheorie, Ehe und Familie, die angesichts der gravierenden Veränderungen ebenso differenziert wie selbst- und auch sachkritisch ausgewertet werden, zur Bildung, zu der auch die religiöse Bildung gehört („was Gottes ist“), zur Wissenschaft, ihrer Freiheit und Verantwortung, sowie zur Religionsfreiheit als Menschenrecht, politisch und kirchlich, mit einer Auslegung des Vaterunsers als „politisches Gebet, weil es nicht politisiert, sondern die weltverändernde Kraft Gottes beim Namen nennt“. Den Schluss bildet sechstens Jesu Einzug in Jerusalem als „Ikone politischer Ethik“ „wie im Himmel, so auf Erden“.
Der opulente Band bietet mehr als eine politische Ethik, nämlich eine Geschichte des Urchristentums in der Auseinandersetzung mit der Politik. Er bleibt aber nicht bei der historischen Exegese stehen, sondern greift mutig aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Herausforderungen auf, schärft durch die Auslegungsgeschichte und die Auseinandersetzung mit anderen Positionen das Problembewusstsein, beteiligt sich auf der Höhe der Zeit an den öffentlich geführten Debatten und zieht neutestamentliche Linien ebenso beherzt wie umsichtig in die Gegenwart aus – eine Pflichtlektüre für alle, die theologisch fundiert Stellung nehmen wollen.
Ulrich Heckel
Dr. Ulrich Heckel ist Oberkirchenrat und Leiter des Dezernats Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.