Julien Green (1900–1998), französisch schreibender Franko-Amerikaner, war ein Meister der psychologischen Erzählung. Das beweist er auch bei der Schilderung der Psychokrisen einer 18-Jährigen: Adrienne Mesurat. Die lebt in einem provinziellen Örtchen bei Paris. Sie fühlt sich schikaniert, von ihrem Vater – er ist nur um seine „Ruhe“ besorgt und auf gemütlich-spießbürgerliche Weise tyrannisch – und von ihrer 17 Jahre älteren, wohl TB-kranken Schwester. Eine obskure Wende in ihrem Leben tritt ein, als sie eines Tages von dem Arzt, der gegenüber ihrem Wohnhaus praktiziert, durch ein flüchtiges Kopfnicken gegrüßt wird: Sie bildet sich forthin ein, unsterblich in ihn verliebt zu sein. Schließlich stößt sie ihren Vater die Treppe hinunter (tödlich für ihn), und eine zwielichtige Frau aus dem Nachbarhaus zieht sie in eine vorgebliche Freundschaft.
Diese Frau ist die Böse im Spiel – doch sie wird nicht als Ungeheuer, sondern als Mensch geschildert, auch hier kommt Greens psychologisch feine Darstellung nicht ins Wanken. Schließlich begegnet Adrienne auch dem Arzt, der, nicht ohne das Zutun jener Frau, von Adriennes Verliebtheit erfahren hat. Er ist aber 27 Jahre älter als Adrienne und todkrank. Mit den Liebesphantasien der Jugendlichen geht er klug abwiegelnd um – erst später, bei sich zuhause, legt er sich erschöpft aufs Kanapee, wohl aus Kummer über sein verlorenes Leben. Sie aber, Adrienne, ist keineswegs geheilt.
Eine sehr glaubliche Erzählung, entstanden im Jahre 1927. Julien Green lebt zwar noch in den Literaturgeschichten, doch gelesen wird er wohl eher wenig. Vielleicht aber gehört, dank der unprätentiösen Lesung von Udo Samel.
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .