"If dogs run free, then why not we“, singt Bob Dylan. Maeretha Stewart scattet. Nur muss man es halt können, möchte man ergänzen und hat einen Podenco vor Augen, der durch spitziges Unterholz flitzt, aber erfüllt statt blind zurückkommt. Der Altsaxophonist Steve Coleman und seine aktuellen Five Elements (Jonathan Finlayson/Trompete, Rich Brown/Bass, Sean Rickman/Schlagzeug) können es – und wie sie es können: autonom, virtuos, inspiriert und traumwandlerisch sicher. Sie jagen im Rudel, improvisieren teils schon lange zusammen. Gern auf voll Speed, mitunter meditativ. Spüren auf, kreisen ein, fangen, erlegen aber nicht. Beute tragen auch sie im weichen Maul. PolyTropos/Of Many Turns sind die Mitschnitte ihrer Auftritte im März in Paris und Voiron. Live ist die Königsdisziplin, das höchste Risiko und im Free Jazz Programm. Colemans Komposition Spontaneous One hat einmal elf Minuten, dann in Voiron, einstige Hochburg der Résistance, sind es 18. Das verträumte Saxophon-Intro ist identisch, der zum Rhythmus öffnende Übergang ist es auch: Funk lautet die Botschaft, der Bass reduziert auf wenige Töne, aber die Patterns sind es ganz und gar nicht. Drängend, ruppig, rauh, aber so leibhaftig, dass die Drums es sofort inhalieren und antworten. Bei den Echos und Querchören der Trompete ist es ähnlich. Der Track pulst, vertieft sich, doch er nimmt in Voiron einen andern Abzweig.
Das ist symptomatisch: Augenblick, Können, Ideen, pure Lebensfreude kommen im Aufeinander-Achten zusammen, werden Kathedralen einmaliger Schönheit und vitaler Wucht. Psychomotorisch eine erhebende Experience und immens körperlich: Während sich die Clubdecke hebt und der Himmel zu sehen ist, zucken Füße, Beine, Becken. Oberkörper und Kopf wiegen mit. Das spiegelt sich im wiederholt aufbrandenden, begeisterten Gelächter des Publikums. Hier teilen Menschen etwas.
Die Konserve fängt dies infizierend ein. Musiker nennen Coleman, in den 1980ern zentrale Gestalt beim M-Base-Aufbruch, längst in einem Atemzug mit John Coltrane. Den Spirit hatte er schon damals, blieb aber nicht stehen. Er hat sich teils auf kruden Wegen stets sozusagen unironisch woke vielfältig inspirieren lassen, ob von Altägypten oder afrikanischen Mantik-Systemen. Diesmal sind es für alles Leben unverzichtbare Aminosäureketten und ihre Baupläne, auf die er schaute, schreibt er in den Liner Notes. PolyTropos (griechisch: vielgewendet) spielt darauf an. Es ist dasselbe Wort, mit dem Homer zu Beginn der Odyssee auch seinen Helden charakterisiert.
Hier dauert die Reise gut zwei erfüllte Stunden. Coleman nimmt seit einigen Jahren am liebsten live auf: weil es das Ensemble zeige, wie es als Organismus „den höchsten Grad kollektiver Improvisation erreicht“. Und es stimmt. Hier weht der Geist, weil er will – und kann. Ein grandioses Album, von dem sich zehren lässt. Sollte man mal auf Synoden abspielen. Vielleicht hilft’s.
Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.