Die Predigthilfe dieses Monats kommt von Traugott Schächtele. Er ist Prälat i.R. in Freiburg/Breisgau.
Herz und Haltung
Sonntag Septuagesimae, 16. Februar
Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. (Prediger 7,16–17)
Maßhalten, den Mittelweg finden zwischen zwei Extremen: Was als lebenskluger Ratschlag oder gar als philosophische Erkenntnis hilfreich sein kann, kommt in der Theologie eher als Fremdkörper daher. Denn wo es um die Wahrheit geht, stößt der Kompromiss an seine Grenzen. Ein bisschen Glauben, das geht nicht. Ein wenig gerecht sein, aber bitte nicht zu viel, ergibt keinen Sinn. Nicht allzu gottlos, bestenfalls eben in Maßen – was soll das heißen?
Die biblische Weisheitsliteratur – und das Predigerbuch ist für mich das spannendste Buch in dieser kleinen Bibliothek angemessenen Verhaltens gegenüber Gott und Welt – vermittelt Lebensklugheit. Aber auch Gottesklugkeit?
Für den Ratschlag, den rechten Mittelweg zu suchen, reichen die Kardinaltugenden des Aristoteles aus. Neben Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit auch noch die, nach dem rechten Maß zu streben. Aber der Prediger der Weisheit, nach biblischer Tradition der König Salomo, findet gerade hier den nötigen Leitfaden für sein Leben. Die Gerechten werden mitten aus dem Leben gerissen, während sich die Ungerechten sorglos genießend ins Leben stürzen können. Ein Gott, der als ausgleichende Instanz das gute Leben belohnt und das schlechte bestraft, ergibt für den Prediger wenig Sinn. Er hält sich fürs Erste raus aus dem menschlichen Tohuwabohu. Die verworrenen Fäden müssen wir selber entwirren. Aber die mögliche Konsequenz, dass ich mich rücksichtslos ins Leben stürzen kann, weil für Gott alles gleich-gültig ist, lehnt der Prediger entschieden ab. Stattdessen rät er zu einem Leben in erträglicher Gottesfurcht und menschenmöglicher Weisheit.
Erträglich, weil Gott an Herz und Haltung interessiert ist und nicht an geistlichem Strebertum. Menschenmöglich, um uns nicht zu übernehmen und am Ende zu scheitern. Mir scheint, dass mich der Prediger womöglich besser kennt als ich mich selber. Gott liebt eben nicht die Extremisten, sondern Menschen, die wissen, wo ihr Glaube Maß und Mitte findet. Mittelmäßig glauben – am Ende geht es wohl doch. So muss ich dem Prediger Abbitte leisten. Und kann von ihm lernen.
Guter Kompass
Sexagesimae, 23. Februar
Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht. Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! (Apostelgeschichte 16,9)
Europa ist in Misskredit geraten. Lieber sich alleine durchwursteln, als den Ausgleich mit den anderen suchen. Einen gemeinsamen Markt, auf dem sich die eigenen Produkte verkaufen lassen, das schon. Aber eine gemeinsame Idee, die auf Standards für die gleichen Rechte aller Menschen beruht und ein Gemeinwesen anstrebt, in dem sich auch Menschen willkommen fühlen, deren Heimat durch wirtschaftliche Not und Krieg zerbrochen ist – darüber gibt es weitgehend keinen Konsens.
Noch einmal möchte ich das „Komm herüber und hilf uns!“ vernehmbar werden lassen. Für mich ist der Traum des Paulus mit seinen Folgen eine der ergreifendsten Geschichten des Neuen Testaments. Aus dem Land der Philosophen und der Geburtshelfer der Demokratie ergeht der Ruf an einen Menschen, der weder beim einen noch beim anderen eine ausgewiesene Expertise aufweisen kann. Aber Paulus ist der Vertreter einer ganz eigenen Weise, das Gottesthema ins Gespräch zu bringen und im Gespräch zu halten. Zu Philosophie und Staatskunde gesellt sich die Religion.
Gerade darin wird für mich die an sich unbedeutende Reise des Apostels nach Mazedonien zu einem Riesenthema. Mächte und Märkte ohne ein System innerer Bindung enden am Ende in Egoismus oder gar in Destruktion, Gewalt und Krieg. Am Christentum, genauer an dessen Missbrauch, hat die Welt in den vergangenen zweitausend Jahren leider nicht immer genesen können. Aber die Botschaft, die Paulus aus Jerusalem, Tarsus, Antiochia und Ephesus nach Europa gebracht hat, könnte sich heute erneut als Kompass in unwegsamen Gewässern entpuppen. Nicht einfach im Sinne eines christlichen Monopolanspruches, aber zumindest – ins Säkulare übersetzt – als Eingeständnis, dass das europäische Haus auf Voraussetzungen angewiesen ist, die es „selbst nicht garantieren kann“. Der Anspruch, dass alles nur dann am besten gelingt, wenn wir allein und nur für uns die Regeln bestimmen, endet meist an den eigenen Grenzen, schon an denen der eigenen Blase. Paulus und seine Ideen auf den vielfachen Kanälen der sozialen Medien wäre mir allemal lieber als vieles, was dort sonst noch angeboten wird. Im Sinne der Jahreslosung (ebenfalls Paulus): Ich prüfe lieber erstmal gründlich, was ich dort finde. Und unter dem, was ich dann behalten möchte, wird manches von Paulus womöglich ganz schön weit vorne zu finden sein.
Versuch und Irrtum
Estomihi, 2. März
Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil
erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden. (Lukas 10,41–42)
Mit dieser Geschichte bin ich immer noch nicht fertig. Sie hat mich ein Leben lang begleitet und wird es weiter tun. Keiner der mir über die Jahre angebotenen Zugänge hat mich wirklich zufriedengestellt. Zu banal, hier einfach schwäbischen Fleiß in Konkurrenz zu aufgeklärtem Bildungshunger zu sehen. Und Jesus ohne Zögern auf Seiten des Letzteren zu entdecken. Zu harmlos, pietistische Jesus-Frömmigkeit als Praxis Pietatis kulturprotestantischem Engagement entgegenzusetzen. Zu flach, hier einfach den Konflikt zweier einander ablösender Rollenverständnisse wahrzunehmen. Zu oberflächlich und gefährlich, Jesus zum Kronzeugen eigener Klischees und theologischer Deutungsmuster zu machen.
Was aber bleibt mir dann noch übrig, um nicht ein weiteres Mal in die Irre zu gehen? Meiner Meinung nach ein Dreifaches. Erstens: Meine Lebenswege beruhen auf Versuch und Irrtum. Maria und Marta wählen je für sich. Und manchmal führt mich der eine Weg näher ans Ziel als der andere. Das ergibt sich aus der aktuellen Situation. Aber es wäre ein Irrtum, daraus eine Regel abzuleiten.
Zweitens: Ganz gleich, ob man die Alternative im „Beten“ oder „Tun des Gerechten“ sieht (Dietrich Bonhoeffer) oder ob man sich für die Alternative von „Kampf und Kontemplation“ (Roger Schutz) entscheidet – unsere Existenz als von Gott Ergriffene bewegt sich immer zwischen diesen beiden Polen. Ich muss mich immer neu entscheiden, wo und wie ich meinen Schwerpunkt setze. Und womöglich mutet Gott mir das eine und einer anderen etwas ganz anderes zu.
Und drittens: Am Ende bin ich immer beides. Und die Unterscheidung zwischen Maria und Marta geht mitten durch mich hindurch. Wer im Einzelfall die Oberhand behält, muss ich im Einzelfall selbst entscheiden, die Möglichkeit des Irrtums und des Versagens eingeschlossen. Wer aber am Ende auf mein Entscheiden und mein Leben ein gnädiges Licht wirft, ist Gott. Bei ihm bin ich im einen wie im anderen Fall gut aufgehoben. So oft es geht, will ich „das gute Teil“ wählen. Und wenn das gelingt, ist es ein Grund, dankbar zu sein.
Leben in Fülle
Invokavit, 9. März
Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. (Hebräer 4,15)
Der Hohepriester ist nur scheinbar eine Figur der Vergangenheit. Die zurückgehende Zahl von Menschen, die sich einer Religion zugehörig fühlen, und die veränderten Strukturen, in denen sich Religionen heute organisieren, mögen das Amt des Hohenpriesters aus unserer Wahrnehmung verdrängt haben. Aber in vielfacher Weise feiert es fröhliche Urständ. Die, die es innehaben, tragen nur andere Namen. Es gibt Hohepriester des Geldes und der Macht über andere, von Sinnstiftungssystemen jeglicher Couleur, von Seelenentlastungstechniken wie von Ideen und Ideologien.
Es gibt Gurus und Anführer, die Macht über andere Menschen haben, damit verantwortungsvoll umgehen oder sie missbrauchen, die sich für andere Menschen einsetzen oder die vor allem an deren Geld interessiert sind.
Und es gibt den Hohepriester, der hier beschrieben wird, etwas sperrig, fast theatralisch in der für uns ungewohnten Sprache des Hebräerbriefs. Aber dennoch mit einer Wirkung, der ich mich nicht so leicht entziehen kann – und es eigentlich auch nicht möchte. Jesus Christus ist der Hohepriester der Solidarität, des bedingungslosen Eintretens für mich, wo andere ihre Lust daran haben, meine Schwächen offenzulegen.
Er ist der Hohepriester der Empathie, der mein Leiden an dieser Welt und der eigenen Unzulänglichkeit zu seiner Sache macht – mehr noch, der auch mein offenkundiges Zurückbleiben hinter den Möglichkeiten, die Gott in mich hineingelegt hat, nicht ausnützt, sondern mit mir zurückbleibt und sich mit mir an den Platz des Versagens stellt.
Er ist der Hohepriester der Mitgeschöpflichkeit, den es bis ins Herz trifft, wenn die Schöpfung, die doch Gottes gutes Werk ist, überhitzt, ausgebeutet und sinnentleert wird. Er ist – nicht zuletzt, sondern zuerst – der Hohepriester der unmittelbaren Gottesnähe, dem an nichts mehr gelegen ist als daran, in seinem Tun und Lassen, seiner Menschenfreundlichkeit und Schöpfungszugewandtheit transparent zu werden – hin auf die Quelle alles Guten und allen Lebens.
Der Hohepriester der Liebe zu Gott, den Menschen und der Schöpfung will den Blick freimachen auf das Wesentliche und Lebensdienliche. Dies könnte ein Programm für die Wochen der Passionszeit sein – und darüber hinaus. Schließlich unterliegt das Wirken dieses Hohepriesters weder den Einschränkungen von Raum und Zeit noch denen meiner begrenzten Einsicht. So verstanden könnte der Hohepriester der Begrenzung auf das Wesentliche zugleich zum Wegweiser in ein Leben in Fülle werden.
Traugott Schächtele
Traugott Schächtele ist Prälat i.R. in Freiburg i.Br..