Utopisches Potenzial

Lukas Johrendt erschließt für die Ethik ein neues Verständnis des Begriffes „Gesetz“
Lukas Johrendt
Foto: Rolf Zöllner

In seiner theologischen Doktorarbeit über die Bedeutung des „Gesetzes“ für die Ethik berücksichtigt Lukas Johrendt (31) auch Überlegungen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben.

Ich bin in der Nähe von Nürnberg aufgewachsen. Durch den Konfirmandenunterricht kam ich mit der Kirchengemeinde stärker in Berührung. Danach engagierte ich mich in der Konfirmanden- und Jugendarbeit und gehörte für eine Wahlperiode dem Kirchenvorstand an. Mein Interesse an der Theologie weckte der Religionsunterricht in der Oberstufe. Ihn erteilte der Pfarrer eines Nachbarortes, der über Karl Barth und das Alte Testament promoviert hatte. In Erlangen begann ich mein Theologiestudium und wechselte dann an die Berliner Humboldt-Universität. Schließlich legte ich die theologische Aufnahmeprüfung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ab.

Schon während des Studiums interessierte ich mich für Sozialethik, also dafür, wie eine Gesellschaft aus christlicher Sicht gerecht gestaltet werden kann. Ein unpolitisches Christentum kann ich mir nicht vorstellen.

In Erlangen besuchte ich bei Wolfgang Schoberth ein dogmatisches Hauptseminar über das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, wie es der Theologe Karl Barth, den die Nazis entlassen hatten, und seine Erlanger Kollegen Paul Althaus und Werner Elert verstanden. Professor Schoberth schlug mir vor, mich in der Hausarbeit mit den Vorlesungen zu befassen, die Hans Joachim Iwand im Predigerseminar der Bekennenden Kirche über Gesetz und Evangelium gehalten hatte. Er prophezeite mir, ich würde von dem Thema nicht wieder loskommen. Und so kam es dann auch.

In Berlin fragte mich Torsten Meireis, der an der Humboldt-Universität den Lehrstuhl für Systematische Theologie, Ethik und Hermeneutik innehat, ob ich bei ihm promovieren wolle. Und ich schlug ihm als Thema der Doktorarbeit „Das Gesetz in der evangelischen Ethik als Quelle normativer Geltung“ vor.

In der heutigen theologischen Ethik spielt der Begriff des „Gesetzes“ nur noch eine untergeordnete Rolle. Dabei ist er bei Paulus und auch für Luther zentral.

Karl Barth, mit dem ich mich in meiner Doktorarbeit auseinandersetze, verwendet die Begriffe Gesetz und Gebot mal synonym und mal leicht unterschiedlich. Für den Lutheraner Paul Althaus, Barths Gegenspieler in der Nazizeit, gilt das Gebot vor dem Sündenfall, dann wird es zum Gesetz und durch Jesus Christus wieder zum Gebot. Für ihn ist Christus „das Ende des Gesetzes, aber nicht des Gebotes“. Und ich selbst kann auch dem im Judentum verbreiteten Begriff „Weisung“, als dem guten Angebot Gottes für den Menschen, viel abgewinnen. Aber der Begriff „Gesetz“ entspringt nun einmal unserer theologischen Tradition.

Neben den Theologen Paul Althaus (1888–1966), Karl Barth (1886–1968), Emil Brunner (1889–1966), Werner Elert (1885–1954) und Hans Joachim Iwand (1899–1960) habe ich mich in meiner Arbeit auch mit dem 1942 geborenen italienischen Philosophen Giorgio Agamben auseinandergesetzt. Dessen Römerbriefkommentar hatte ich schon gelesen, als ich die oben erwähnte Arbeit bei Professor Schoberth schrieb. Agamben steht in der Diskussion der philosophischen Pauluslektüre, die Ende der Neunzigerjahre und Anfang 2000 geführt wurde. Für Agamben verliert das Gesetz mit dem Erscheinen des Messias seine konkreten Einzelgebote. Es gilt nur noch „in seinem Bann“. Ich beschäftigte mich mit Agamben in meiner Doktorarbeit, weil ich noch aus einem anderen Blickwinkel auf die Texte der von mir untersuchten Theologen schauen wollte. Agambens macht- und souveränitätskritischer Ansatz eröffnet für mich neue Perspektiven auf das Thema der theologischen Gesetzesdeutung.

Beim Gesetzesverständnis von Agamben und Althaus beobachte ich eine Verbindung von absoluter Unbestimmtheit und gleichzeitig theonom begründeter Normativität. Bei beiden gibt es eine Entleerung des Gesetzesbegriffs. Für beide verliert es seinen konkreten Inhalt. Für Althaus kann der Mensch aber den Willen Gottes durch die Schöpfungsordnung erkennen. Und diese identifizierte Althaus 1934, zusammen mit seinem Erlanger Kollegen Werner Elert, als Familie, Volk und Rasse.

Im Unterschied zu Althaus ist Barths Verständnis des Gesetzes oder Gebotes mit einer pluralen Demokratie kompatibel, weil es an Christus als das eigentliche Wort Gottes rückgebunden ist. So ist das Gesetz an einer konkreten Person und deren Verkündigung orientiert und menschlich-autoritärer Setzung entzogen. Denn dadurch gewinnt das Gebot eine inhaltliche Bestimmung und kann für Christen – auch im Bereich der Politik – zum kritischen Maßstab für ihr Denken und Handeln werden.

Aber trotz Althaus’ Verstrickung in der Nazizeit finde ich seine terminologische Unterscheidung zwischen Gesetz und Gebot bedenkenswert, weil man so eine Transformation des Gesetzes durch das Christusereignis denken kann. Das bedeutet, dass auch für Christen das Gesetz seine Bedeutung behält, also sein dritter Gebrauch (tertius usus legis) gilt (was im Luthertum umstritten ist). Und dies ist auch für das Verhältnis von Christen und Juden von Bedeutung. Das Gesetz kritisiert menschliche Setzungen, ermöglicht ein humanes Zusammenleben und schafft so Freiheit.

Meine Dissertation, die ich vor sechs Jahren begonnen habe, möchte ich im kommenden halben Jahr abschließen. Im Schlusskapitel möchte ich aufgrund meiner gewonnenen Erkenntnisse den Vorschlag machen, das Gesetz nicht als etwas zu verstehen, das das Bestehende bekräftigt. Das ist im Luthertum oft geschehen. Dabei verstehe ich das Gesetz nicht als statisch, überzeitlich, sondern als etwas, das sich ereignet. Es artikuliert die Krisis Gottes über die Welt, enthält so das utopische Potenzial, dass eine andere Gesellschaft möglich ist, und dies hat insofern auch Auswirkungen auf die Politik.

Zurzeit bin ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Lehrstuhl für Evangelische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozial- und Technikethik“ der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Die Studierenden sind Offiziersanwärterinnen und -anwärter, die aus ganz verschiedenen Fachbereichen kommen, vom Maschinenbau bis zur Psychologie. Und ich finde es spannend, mit ihnen im Wahlpflichtbereich Ethik zusammenzuarbeiten.

Meine berufliche Zukunft sehe ich an der Universität, nicht im Pfarramt. 

 

Aufgezeichnet von Jürgen Wandel

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Foto: Rolf Zöllner

Lukas Johrendt

Lukas Johrendt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Evangelische Theologie an der Universität der Bundeswehr in Hamburg.


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