Was ist Aufklärung?

Die Faszination einer Epoche zeigt eine gelungene Ausstellung in Berlin
„Was ist Aufklärung? Diese Frage … sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge!“
Foto: Stefanie Loos/Deutsches Historisches Museum
„Was ist Aufklärung? Diese Frage … sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge!“

Dass Aufklärung eine prägende Epoche europäischen Denkens ist – und eben auch mehr, zeigt eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. In Berlin geht es um die Utopie von Fortschritt, Freiheit und Emanzipation, aber auch um ihre Widersprüche und Konsequenzen. Das erklärt der Berliner Fundamentaltheologe und Religionsphilosoph Thomas Brose.

Hoch her geht es bei einer Diskussion im Londoner Kaffeehaus: Wo Argumente nicht mehr ziehen, lässt man Ellbogen und Fäuste sprechen – oder überschüttet den Nachbarn gleich mit heißer Flüssigkeit. Frauen kommen im „Kosmos Kaffeehaus“ noch nicht vor, aber es ist bereits zu ahnen, dass „kritische Öffentlichkeit“ handgreiflich erfahrbar wird und dass sie dabei ist, sich überhaupt zu konstituieren.

Die im zweiten Obergeschoss des Deutschen Historischen Museums (DHM) großformatig ins Bild gesetzte „Karikatur einer hitzigen Debatte im Kaffeehaus“, die 1710 entstanden ist, illustriert eindrucksvoll, wie sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts neue Formen gesellschaftlicher Kommunikation etabliert haben. Seitdem gehört „Aufklärung“ zu jenen historisch aufgeladenen Vokabeln, ohne die sich Europa nicht selbst verstehen kann. „Die Aufklärung ist Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte im Gegensatz zu der bisher herrschenden kirchlich und theologisch bestimmten Kultur“ – so hat Ernst Troeltsch diesen Sachverhalt 1897 in seinem Artikel „Aufklärung“ in der (Realenzyklopädie der protestantischen Theologie und Kirche) prägnant auf den Punkt gebracht.

Generationen von Politikern, Künstlerinnen und Wissenschaftlern haben sich von der Devise leiten lassen: Vernunft soll alle Lebensbereiche erhellen, Vorurteile aufklären und Zwänge demaskieren, um Freiheit und Recht zu ermöglichen. Das manifestiert sich politisch und kulturell in der Entschlossenheit, dem Kontinent eine spezifische geistige Form, eine unverwechselbare „Seele“, zu geben – genau davon handelt die noch bis zum 6. April geöffnete Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“.

Gebildete Kreise

„Was ist Aufklärung?“, fragte zuerst der Pfarrer Johann Friedrich Zöllner in der Berlinischen Monatsschrift. Zöllner, der kein Aufklärungsgegner war, sah sich zu einem Statement genötigt, weil man neuerdings in gebildeten Kreisen „unter dem Namen Aufklärung“ dafür plädierte, ohne kirchlichen Segen zu heiraten. So veröffentlichte er 1783 einen Aufsatz gegen die Zivilehe. Folgenreich fragte er dabei in einer Fußnote: „Was ist Aufklärung? Diese Frage … sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden.“

Der Diskurs, der sich daran knüpfte, wurde wegweisend für den deutschen Sprachraum: vor allem in Göttingen, Halle, Leipzig, in Hamburg, Königsberg und Zürich. Die von der „Berlinischen Monatsschrift“ beförderte Debatte, die in der Schau prominent durch die Titelseite von Immanuel Kants Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ illustriert wird, hatte das Zeug, die neue Zeit in Gedanken zu fassen. Auf Zöllners Frage lieferte der Königsberger Philosoph 1784 nämlich jene klassisch gewordene Antwort, die von der Haltung des Selberdenkens durchdrungen ist: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ So lautet Kants Definition. „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Die Ausstellung konzentriert sich auf zentrale Diskussionen der Epoche, beleuchtet aber auch ihre Dunkelheiten, Konflikte und Widersprüche. „Auf zwei Stockwerken wird das lange 18. Jahrhundert aus internationaler Perspektive betrachtet“, lautet die Inhaltsangabe im Eingangsbereich der DHM-Ausstellung. „Die Themen im 1. Obergeschoss reichen von der neuen Wissenschaft über die Ordnung der Welt und Fragen der Religion bis zu Geschlechtermodellen und Pädagogik. Im 2. Obergeschoss werden Vorstellungen von der Gleichheit der Menschen, die Lehren der Antike, Staatskunst und politische Freiheit, Weltbürgertum und Merkantilismus sowie neue Formen der bürgerlichen Öffentlichkeit behandelt.“

Beleuchtete Städte

Die Gründungsepoche der Moderne begann natürlich nicht genau im Jahr 1700, sondern etwa bereits zu jenem Zeitpunkt, als in europäischen Städten die Straßenbeleuchtung aufkam: in Paris (1667), in Amsterdam (1669), in Hamburg (1673), in Turin (1675), in Berlin (1682) sowie in London (1684). Im Bewusstsein zeitgenössischer Beobachter avancierte der Begriff „Licht“ zur großen Metapher für die im Museum materialreich illustrierte europäische Epoche: Lumières – Enlightenment – Illuminismo – Oświecenie – Aufklärung. Über Sprachgrenzen hinweg wurde die Großmetapher „Licht“ dazu verwendet, eine neue Ära auf den Begriff zu bringen, in der Vernunft alle Lebensbereiche erleuchtet. Nicht mehr theologisch abgesicherte Gotteserkenntnis aufgrund einer „illumination“ stand dabei im Vordergrund, sondern das natürliche Vermögen menschlicher Vernunft.

Die Erhellung der Nacht, erst durch Laternen und Kerzenlicht, später mit Öl- und Gaslampen, erleichterte es dem urbanen Publikum, ein neuartiges Selbstbewusstsein auszuprägen: der Dunkelheit zu trotzen, um die Abende gesellschaftsfördernd und diskutierend zu verbringen. Als technisch-zivilisatorische Leistung erweiterte die nächtliche Illuminierung den Raum, in dem sich Bürgerinnen und Bürger versammelten, um über Grenzen (Konfession, Stand, Beruf) hinweg in einen offenen Diskurs einzutreten. In Theatern, Salons, Zirkeln, Freundeskreisen und Freimaurerlogen – hingewiesen wird in der Ausstellung auf die Gründung der ersten Freimaurerloge in London 1717 –, an Teetischen und in Kaffeehäusern konstituierte sich eine neuartige Form des kommunikativen Miteinanders: die „bürgerliche Öffentlichkeit“.

Effekt und Spektakel

Das führte in weiten Teilen Europas, zuerst in den Niederlanden, England, Schottland und Frankreich, bald auch in Hafen- und Messestädten, von Polen bis nach Russland zu einem explosionsartigen Wachstum der Presselandschaft mit Neugründungen von Zeitungen und Journalen, von „Gelehrten Blättern“ und „Moralischen Wochenschriften“. Das umfassendste Nachschlagewerk der Zeit, Zedlers Großes Universal-Lexicon, das im DHM in großen Vitrinen ausgestellt wird, vermerkt 1750 beispielsweise unter dem Stichwort „Zeitungs-Schreiber“: Diese scheinen „in ihren Gedancken nicht nur fast allwissend, sondern auch sehr mächtig, und können in wenigen Augenblicken mehr ausrichten, als der gröste Monarch in vielen Jahren“.

Beeindruckend, wie im ersten Obergeschoss der Ausstellung die neue Wissenschaft durch die „Große Scheiben-Elektrisiermaschine“ aus Goethes Besitz präsentiert wird. Dabei wird deutlich, dass im Siècle des Lumières Forschung auch außerhalb von Universitäten popularisiert wurde. Hier sind zuerst die Akademien zu nennen. Schon im 17. Jahrhundert begann ein regelrechter Gründungswettlauf. Zuerst wurde die Royal Society (1660) aus der Taufe gehoben, einige Jahre später die französische Académie des Sciences (1666), dann die Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften (1700) und schließlich die Petersburger Akademie der Wissenschaften (1725). Aber auch in wissenschaftlichen Zirkeln, in Salons und auf Jahrmärkten gingen Gelehrte, Physiker, aber auch Schausteller und Liebhaber von Knalleffekten daran, Spannung zu erzeugen. Das seit 1706 (Erfindung der Elektrisiermaschine) bekannte Phänomen der Elektrizität faszinierte die Öffentlichkeit; es lud zu Effekt und Spektakel ein – etwa indem beim „Kuss der Venus“ eine junge Frau elektrisiert wurde. Wer sich dieser zu stark näherte, wurde von einem schmerzhaften Schlag getroffen.

In direkter Nachbarschaft zur „Wissenschaft“ verhandelt die hervorragend ausgestattete Ausstellung das für die Epoche zentrale Thema „Religion“, das dem Judentum neue Möglichkeiten eröffnete. Die preußische Metropole nahm dabei eine Vorreiterrolle ein: Von Berlin über Königsberg bis nach Russland verbreitet sich die jüdische Aufklärung, die Haskalah (Erziehung; Vernunft – hebräischer Wortstamm „s-k-l“), die Jahrzehnte später vor allem im Osten Europas Befürworter und Gegner (Chassidim) auf den Plan rief. Zu den Vordenkern der Haskalah zählte in Preußen Moses Mendelssohn, der sich neben dem Talmudstudium auch „weltlichem“ Wissen (Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften, Philosophie) widmete und entscheidend für die Annäherung von Judentum und deutscher Kultur eintrat (Übersetzung der Hebräischen Bibel).

Nathan der Weise

Der jüdische Religionsphilosoph bekämpfte französischen Atheismus (La Mettrie) und empiristischen Skeptizismus (David Hume). Er erlangte als „deutscher Sokrates“ mit Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767) Berühmtheit und forderte mit Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), den jüdischen Glauben – ähnlich wie das Christentum – als „vernünftige Religion“, aber mit einem „geoffenbarten Gesetz“ anzuerkennen. Zum Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften gewählt, verweigerte ihm Friedrich II., der vermeintlich aufgeklärte Monarch von Potsdam, jedoch die Bestätigung seiner Mitgliedschaft.

Unterstützung erhielt Mendelssohn dagegen von Lessing. In der Gestalt Nathans des Weisen (1779) verewigte der Dramatiker seinen Freund Moses und entwarf die Vision des friedlichen Zusammenlebens der Weltreligionen: Christentum, Judentum und Islam – wegen der NS-Rassenideologie durfte das Stück seit 1933 nicht gespielt werden. Als der zwölf Jahre verfemte Nathan zur Neueröffnung des Deutschen Theaters schließlich auf die Bühne kam, war dies 1945 ein bewegendes Plädoyer für Religionsfreiheit und Toleranz.

Dass zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution aufgeklärtes Denken mit der Freiheitsrevolution von 1989 längst nicht an ein Ziel gelangt ist, erweist sich in der Gegenwart. Der Wille, das Erbe des Toleranzdenkens fortzusetzen, findet sich jedoch in dem bemerkenswerten Entwurf einer „Präambel der europäischen Verfassung“.

Im Jahr 2003 hat der polnische Publizist Stefan Wilkanowicz dafür folgenden Wortlaut vorgeschlagen:

„Wir Europäer wollen im Bewusstsein des Reichtums unseres Erbes, das aus den Errungenschaften des Judaismus, des Christentums, des Islam, der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und des Humanismus, der sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Quellen hat, schöpft, im Bewusstsein des Wertes der christlichen Zivilisation, welche die Hauptquelle unserer Identität ist, im Bewusstsein der häufigen Fälle von Verrat, der an diesen Werten von Christen und Nichtchristen begangen wurde, eingedenk des Guten und des Bösen, das wir den Bewohnern anderer Kontinente gebracht haben, im Bedauern der Katastrophen, die durch totalitäre Systeme, die unserer Zivilisation entsprangen, verursacht wurden, … unsere gemeinsame Zukunft bauen.“

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