Verbreitetes Ressentiment

Warum die Wahrheit bei Otto Dibelius nicht „irgendwo in der Mitte“ liegt
Otto Dibelius hält in der Ruine der Kathedrale von Coventry eine Rede anlässlich der Grundsteinlegung für das „International Centre for Reconciliation“ (1960) am selben Ort (Seite 40). Hinter ihm Reverend Bill Williams, der Pfarrherr von Coventry.
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Otto Dibelius hält in der Ruine der Kathedrale von Coventry eine Rede anlässlich der Grundsteinlegung für das „International Centre for Reconciliation“ (1960) am selben Ort (Seite 40). Hinter ihm Reverend Bill Williams, der Pfarrherr von Coventry.

Otto Dibelius gilt als „protestantische Jahrhundertfigur“. In der Dezemberausgabe der zeitzeichen widmete sich der Kirchenhistoriker Thomas M. Schneider dem Bischof und ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden, über den ein just erschienener Sammelband informiert. Auf seinen Text antworten nun die beiden Herausgeber des Bandes, der evangelische Theologe Lukas Bormann und der Historiker Manfred Gailus.

In einem umfangreichen Beitrag hat der Koblenzer Kirchenhistoriker Thomas M. Schneider die Leserinnen und Leser von zeitzeichen über den im September 2024 erschienenen Band zum früheren Bischof von Berlin und EKD-Ratsvorsitzenden Otto Dibelius (1880–1967) informiert. Recht bald trafen bei den Herausgebern verwunderte Reaktionen von Autor:innen und Tagungsteilnehmer:innen ein, die ihre Positionen im genannten Artikel nur einseitig oder verzerrt wiedergegeben fanden. Tatsächlich befasst sich der Beitrag Schneiders zunächst recht ausführlich mit Grundsatzfragen zur historischen Urteilsbildung, geht auf die Debatten um den bayerischen Landesbischof Hans Meiser und den Mitbegründer des Pfarrernotbundes Martin Niemöller ein. Die Ergebnisse, die nationale und internationale Zeithistoriker:innen, Religionswissenschaftler und Kirchenhistoriker:innen während der Marburger Tagung und nun auch in der Publikation formuliert haben, kommen gemessen an den ambitionierten Urteilen des Autors über Otto Dibelius und diesen Band dann leider zu kurz. Nicht einer der 16 Beiträge wird in seiner Sub­stanz hinreichend referiert.

Thomas M. Schneider plädiert dafür, Personen der Zeitgeschichte weder zu verurteilen noch hagiografisch zu verklären, „affektgesteuerte Moralisierung(en)“ zu vermeiden und „feine Farbschattierungen“ des Persönlichkeitsbildes herauszuarbeiten. Es wird zudem festgehalten, dass die Beiträge des Bandes diese Erwartungen insgesamt erfüllen und „ein facettenreiches Bild“ zeichnen. Nur die Einleitung der beiden Herausgeber, ein Historiker und ein evangelischer Theologe, schneidet schlecht ab. Da passt ihm offenbar die ganze Richtung nicht. Sie beanspruchten zu Unrecht die „Deutungshoheit“ und manche ihrer „Verdikte“ seien „unterkomplex“.

Mit Blick auf den Band insgesamt werden zwei Narrative rekonstruiert, in denen vom Autor positiv bewertete Sachverhalte den eher problematisch empfundenen gegenübergestellt werden. Die Einleitung befördere einseitig das problematische Narrativ, indem Dibelius als Antisemit, revanchistisch-reaktionärer Deutschnationaler und Demokratiegegner sowie Gegner der Frauenemanzipation erscheine. Das sei nicht nachvollziehbar, meint der Koblenzer Kirchenhistoriker, die Wahrheit liege wohl „irgendwo in der Mitte“.

Zwei Narrative

Auf diese Überlegungen lohnt es sich zu antworten, weniger weil es sich um substanzielle Einwände gegen die konsequenten historischen Forschungen in diesem Band und deren besonnene und austarierte Auswertung in der Einleitung handelt, sondern vielmehr deshalb, weil der Autor hier ein verbreitetes Ressentiment gegen die Erforschung der Geschichte der Evangelischen Kirche und ihrer führenden Persönlichkeiten bestärkt, das dem Protestantismus der Gegenwart nicht gut ansteht und nicht unwidersprochen bleiben soll.

Sieht man den 1880 geborenen Dibelius noch als eine Person der Zeitgeschichte an, wie es der Autor vorschlägt, gegenüber der das Urteil zurückhaltend sein solle, dann fragt man sich, wieso er so emphatisch dem Verdikt über den zwölf Jahre jüngeren Martin Niemöller zustimmt. Sollte man dann nicht auch über den 26 Jahre jüngeren Dietrich Bonhoeffer zurückhaltend urteilen, von den ebenfalls weit jüngeren Nazi-Größen wie Adolf Hitler (geboren 1889), Heinrich Himmler (geboren 1900) und Reinhard Heydrich (geboren 1904) gar nicht erst zu reden? Die Forderung, die der Autor hier erhebt, ist nicht nur wenig durchdacht, sondern er kommt ihr mit Blick auf Martin Niemöller selbst nicht nach.

Keine Konkretisierungen

Es ist doch vielmehr so, dass das historisch-wissenschaftliche Urteil unumgänglich ist, aber nicht anachronistisch sein sollte, sondern die Handlungsspielräume der Akteure in ihrem historischen Kontext zu beachten hat.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es offensichtlich, dass Dibelius die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht genutzt hat, um die Weimarer Demokratie zu stärken, die jüdische Minderheit in Deutschland gegen Diskriminierung zu schützen, die Frauenemanzipation zu unterstützen oder vor dem Nationalsozialismus oder gar nur vor den Deutschen Christen zu warnen. Im Gegenteil: Er kämpfte bereits als Student, in seinen eigenen Worten aus dem Jahr 1961, „gegen Freisinn, Marxismus und gegen den Einfluß des Judentums im öffentlichen Leben“, sprach dem seiner Ansicht nach „seelenlosen“ und „gottlosen“ Weimarer Staat beständig die Existenzberechtigung ab, sah im März 1933 in der Machtergreifung der Nationalsozialisten das Handeln Gottes und wertete mitten im Kirchenkampf, der zu erheblichen Anteilen „Frauensache“ war, gebildete Frauen als „Fräulein Doktors“ ab, die sich von ihren Stühlen zu erheben hätten, wenn kinderreiche Mütter den Raum beträten.

Es gibt hier kein alternatives Narrativ, wie die scharfen Urteile der Historiker Hans-Ulrich Wehler („eine der großen Unheilsfiguren des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert“) und Heinrich August Winkler (Dibelius habe „Weimar endgültig zu Grabe getragen“ und dem „‚Dritten Reich‘ den kirchlichen Segen gegeben“) über Dibelius zeigen. Wo eine Wahrheit, die in der „Mitte“ liegt und die sich von den in der Einleitung sorgfältig abgewogenen Ergebnissen unterscheidet, zu finden sein soll, wird in dem wortreichen Beitrag an keiner Stelle konkretisiert.

Die Einleitung in den neuen Band zu Otto Dibelius setzt sich hingegen mit den gut begründeten Urteilen der genannten und anderer führender Historiker der deutschen Geschichte auseinander, setzt diese in Beziehung zu weit vorsichtigeren kirchenhistorischen Bewertungen, die dazu neigen, das Wirken von Dibelius pro domo, für die Kirche, wertzuschätzen und seine verheerende öffentlich-politische Wirksamkeit als Mitglied und repräsentativer Festredner des antisemitischen Vereins Deutscher Studenten (jetzt neu: Michael Buchholz/Manfred Voigts (Hg.): Einigkeit – Recht – Freiheit. Eine Textedition nebst Anmerkungen zu Otto Dibelius, 2022), der kriegshetzerischen Deutschen Vaterlandspartei (DVLP) und der reaktionären Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) – alle diese Parteien und Verbände schlossen Juden teilweise mit explizitem „Arierparagraph“ aus – zu entschuldigen und zu relativieren.

Die Einleitung wendet sich aber auch dagegen, das wissenschaftliche Dibeliusbild auf den „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 zu reduzieren. Die Herausgeber erörtern hier vielmehr die Frage, wie eine Neubewertung auf der Basis der neu erarbeiteten Beiträge aussehen könnte, und kommen zu einigen Schlussfolgerungen, die den Forschungsstand zu Dibelius und die Ergebnisse der Beiträge umfassend berücksichtigen.

Abschließend sollen einige gravierende Fehler im Beitrag von Thomas M. Schneider stichwortartig genannt werden: Erstens: Dibelius selbst erklärte ausdrücklich, er habe von Adolf von Harnack „theologisch nichts“ gelernt, wie der Beitrag von Guido Baltes zu Dibelius als Exeget ausführlich darstellt. Dibelius verfolgte ein so genanntes positives Christentum, indem er von theologischer Forschung unbeirrt an so genannten Glaubenstatsachen festhielt. Es trifft deswegen nicht zu, wie in dem genannten Beitrag behauptet, Dibelius habe seine theologische Prägung von dem „Kulturprotestanten Harnack“ erhalten.

Zweitens: Die Biografie von Robert Stupperich wurde auf Drängen des von den Herausgebern pointiert als „Dibelius-Macher“ bezeichneten Berliner Kreises initiiert und von den jungen, frisch promovierten Historikern Amrei und Martin Stupperich – nach deren Selbstaussage zu 40 Prozent – erstellt. Die apologetische Tendenz dieser Biografie ist nicht allein dem „hohen Lebensalter“ und Stupperichs „Nähe zu Dibelius“ geschuldet, sondern beruht auf einer gezielten Strategie eines größeren Personenkreises, eben der „Dibelius-Macher“.

Drittens: Der als eine Art Kronzeuge von Schneider aufgerufene Erlanger Alttestamentler Friedrich Baumgärtel war zumindest eine schillernde Figur. Das geradezu verstümmelte Zitat aus seiner Schrift des Jahres 1958 gibt zudem ein falsches Bild von der Stoßrichtung seiner Intervention. Baumgärtel hatte eben nicht – wie der Autor des Beitrags – für das konfessionelle Luthertum und gegen die dahlemitische Bekennende Kirche Niemöllers Partei ergriffen, sondern die Fehlurteile aller Gruppierungen der Evangelischen Kirche über die Absichten Hitlers im Jahr 1933 in Erinnerung gerufen, um seine Entscheidung (und die der Erlanger Fakultät), sich nicht der Bekennenden Kirche anzuschließen, in ein besseres Licht zu stellen.

Viertens: Es gibt keinen Zweifel daran, dass Dibelius die ersten Maßnahmen des NS-Staates zur Entrechtung jüdischer Menschen gutgeheißen hat. Angesichts dessen fällt der eher legendarisch belegte Einsatz von Dibelius für „nichtarische“ Mitarbeiter, den Schneider anführt, kaum ins Gewicht, wie man in dem Beitrag von Andreas Pangritz lesen kann.

Fünftens: Der unter dem direkten Eindruck der Tagung abgefasste Kommentar von Hartmut Lehmann, der nach Schneider angeblich „differenzierter“ als die Herausgeber urteile, stellt die Frage, wie sich der begabte und führungsstarke Theologe Dibelius, auf den die evangelischen Christen in Krisenzeiten vertrauten, an entscheidenden Weichenstellungen, „in denen sich Größe oder Versagen im Rückblick auf eine geradezu unerbittliche Weise zeigen“, verhalten habe. Lehmann kommt entschiedener noch als die Einleitung zu dem Ergebnis, dass Dibelius genau in diesen Krisen durchweg „reaktionär und gefährlich“ gehandelt habe.

Ein online frei zugängliches knappes Gesamtbild zu Otto Dibelius findet sich in der von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betreuten Neuen Deutschen Biographie Online (Lukas Bormann: Dibelius, Otto. In: NDB-online, veröffentlicht am 1.7.2024, URL: www.deutsche-biographie.de/11852514X.html#dbocontent) oder in dem zeitzeichen-Artikel von Manfred Gailus „Das alte Bild trägt nicht mehr. Warum die Zeit reif ist für die Neubewertung der kirchlichen Jahrhundertfigur Otto Dibelius“ (siehe zeitzeichen 2/2022). Neben dem oben genannten Band der Autoren Michael Buchholz und Manfred Voigts enthält die Arbeit des Kieler Kirchenhistorikers Tim Lorentzen aufschlussreiche Passagen zur Beteiligung von Dibelius an Bonhoeffers „Martyrisierung“ (Tim Lorentzen: Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt, 2023. Dazu die Rezension von Lukas Bormann in der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 76 (3), 223–225. www.doi.org/10.1163/15700739-07603009). 

 

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