„Zwischen den Stühlen“

zeitzeichen: Herr Dr. Wagner, ist Indien eine Weltmacht?
CHRISTIAN WAGNER: Nein. Indien ist als größtes Land ein wichtiger Akteur im internationalen System. Der Begriff Weltmacht beinhaltet aber, dass Indien im internationalen Kontext seine Regeln durchsetzen kann. Das ist aber nur sehr begrenzt der Fall. Indien ist zwar die fünftgrößte Volkswirtschaft in der Welt. Doch beim Pro-Kopf-Einkommen liegt Indien mit circa 2 400 US-Dollar im Jahr in den unteren Rängen der internationalen Statistiken. Das heißt, der indische Staat hat nicht die Ressourcen, die es braucht, um global Machtprojektionen durchzusetzen, wie wir sie mit dem Begriff einer Weltmacht verbinden. Gleichzeitig gilt aber auch: Jeder sechste Mensch auf diesem Planeten kommt aus Indien. Alle globalen Fragen im Klima-, Umwelt- oder Energiebereich werden ohne Indien nicht zu lösen sein. Das Land hat im internationalen Kontext ein enormes Gewicht in den Verhandlungen über Handel, Klima oder Umwelt. Aber es verfügt dann doch nicht über die Ressourcen, um seine Ordnungsvorstellungen so durchzusetzen, wie es China versucht.
Die Außenpolitik Indiens wird ja oft als das Streben nach strategischer Autonomie gesehen. Was bedeutet dieser Begriff genau?
CHRISTIAN WAGNER: Man kann den Begriff am ehesten als das Streben nach außenpolitischer Unabhängigkeit verstehen. Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru schrieb 1946, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vier Staaten das internationale System bestimmen: USA, Sowjetunion, China und Indien. Bereits damals gab es die klare Vorstellung, dass Indien auf der internationalen Bühne eine wichtige Rolle einnehmen und ein eigenständiger, unabhängiger Akteur sein wird. Das ist bis heute eine Leitschnur der indischen Außenpolitik. Das erklärt auch, warum Indien zu sehr unterschiedlichen Ländern gleichzeitig enge Beziehungen hat, zu den USA, zu China, Russland, Israel, Saudi-Arabien und zum Iran. Indien versucht, seine nationalen Interessen durch jeweils unterschiedliche Partnerschaften und bilaterale Beziehungen durchzusetzen. Und natürlich auch durch sein Engagement in der Gruppe der BRICS-Staaten.
Das Kürzel steht für Brasilien, Russland, China, Südafrika und eben Indien,
seit 2024 sind auch Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate dabei. Welche Rolle spielt diese Gruppe für Indien?
CHRISTIAN WAGNER: BRIC, damals noch ohne Südafrika, wurde 2009 gegründet und war für Indien sehr wichtig. Denn dahinter stand die Idee, dass es hier jenseits der westlichen Industrieländer einen Block von aufstrebenden Volkswirtschaften aus dem globalen Süden gibt, die mittelfristig ein größeres internationales Gewicht erlangen werden. Damals waren die Beziehungen zwischen Indien und China deutlich besser als heute, und es gab die Idee, dass Indien und China noch enger zusammenarbeiten sollten. Kurzzeitig existierte sogar der Kunstbegriff „Chindia“, also die Kombination aus China und Indien. Mittlerweile zeigt sich aber, dass BRICS von China dominiert wird. Zudem haben sich die indisch-chinesischen Beziehungen seit dem Jahr 2020 deutlich abgekühlt. Dennoch bleibt BRICS – als nicht-westliche Institution – für Indien ein wichtiges Format auch für die außenpolitische Unabhängigkeit des Landes.
Die Beziehung zwischen Indien und China war ja selten spannungsfrei.
CHRISTIAN WAGNER: Seit der Unabhängigkeit beider Länder gibt es einen ungeklärten Grenzverlauf im Himalaya. Das führte 1962 auch zu einem
kurzen Grenzkrieg, der mit einer militärischen Niederlage Indiens endete. Ein Desaster, weil Nehru hoffte, enger mit China zusammenarbeiten zu können. Aber diese Kooperation konnte eben dieses bilaterale Problem der ungeklärten Grenzfrage nicht überwinden. Ende der 1980er-Jahre kam es dann zu einer Annäherung zwischen Indien und China und zu einer engeren wirtschaftlichen Kooperation. China ist heute einer der wichtigsten Handelspartner Indiens. Eine Reihe von Abkommen halfen dabei, die Lage entlang der umstrittenen Grenze zu stabilisieren.
Und warum wurde ab 2020 wieder alles schwieriger?
CHRISTIAN WAGNER: Im Sommer 2020 kam es zu einem Zwischenfall, bei dem 20 indische und vier chinesische Soldaten getötet wurden. Seitdem haben beide Seiten ihre Truppenverbände in der Grenzregion deutlich erhöht. Erst beim BRICS-Gipfel in Kasan im vergangenen Jahr haben sich die bilateralen Beziehungen wieder etwas normalisiert. Eine dauerhafte Beilegung der Grenzfrage wird auch dadurch erschwert, dass sie von beiden Staaten sehr unterschiedlich betrachtet wird. Für Indien ist sie ein bilaterales Problem. China sieht das Verhältnis zu Indien aber eher im geopolitischen Kontext seiner Auseinandersetzung mit den USA und verortet Indien im Lager der USA.
Was hat sich für Indien durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine verändert?
CHRISTIAN WAGNER: Indien hat von dem Krieg bislang sehr profitiert. Es kauft billiges russisches Öl, das dann im Land verarbeitet wird und wieder auf die Weltmärkte kommt. Das billige Öl unterstützt auch das indische Wirtschaftswachstum. Zudem nutzt Indiens Militär sehr viele Waffen aus sowjetischer und russischer Produktion. Die Abhängigkeit im militärischen Sektor ist also groß. Es gibt bis heute keine offizielle indische Erklärung, die die russische Aggression gegen die Ukraine verurteilt. Die westlichen Staaten haben nach anfänglichem Stirnrunzeln diese Haltung Indiens akzeptiert und versuchen nun,
durch neue Angebote im Bereich der Technologiekooperation, Indiens Abhängigkeit von Russland zu lockern. Im Hintergrund steht dabei das gemeinsame Interesse der westlichen Staaten und Indiens nach einer engeren Zusammenarbeit im Indo-Pazifik gegen die hegemonialen Ambitionen Chinas.
Ist es denn wünschenswert, dass sich Indien stärker an den Westen bindet?
CHRISTIAN WAGNER: Diese Sichtweise findet sich immer wieder in westlichen Hauptstädten. Ich würde aber davon ausgehen, dass Indien
sich nicht dauerhaft einseitig positionieren wird, sondern zwischen den Stühlen bleibt, weil es in dieser Position am meisten profitiert. Der Westen bleibt für Indien ein zentraler Partner. Die wirtschaftliche Entwicklung Indiens und das Ziel, bis 2047 zum 100-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit eine entwickelte Nation
zu sein, werden nur funktionieren, wenn Indien enge wirtschaftliche und technologische Beziehungen zu westlichen Staaten hat. Aber man will eben auch die strategische Autonomie nicht aufgeben, weil sich Indien als Pol in einer multipolaren Welt versteht. Und ein Pol kann kraft Definition nicht einseitig abhängig sein.
Zur Unabhängigkeit gehört auch militärische Stärke. Indien ist Jahr für Jahr der größte Rüstungsimporteur der Welt. Wozu braucht Indien so viele Waffen?
CHRISTIAN WAGNER: Es gibt zwei große Territorialkonflikte. Einerseits wie erwähnt gegenüber China, aber auch den Kaschmirkonflikt mit Pakistan, der allerdings derzeit de facto eingefroren ist. Hinzu kommt: Indien hat die zweitgrößte Armee der Welt. Neben den offiziellen Streitkräften, die über eine Million Soldaten umfassen, gibt es auch eine große Zahl von paramilitärischen Einheiten.
Der Modernisierungsbedarf ist hoch, denn noch ist die indische Armee in hohem Maße von Russland abhängig. Mittlerweile setzt man beim Kauf von neuen Waffensystemen vor allem auf westliche Staaten wie Frankreich, USA und Israel. Indien gibt im Durchschnitt zwischen zwei und 2,5 Prozent des Bruttosozialproduktes für Verteidigung aus. Zudem versucht Indien, seine eigene Rüstungsindustrie zu stärken, auch mit dem Ziel von Waffenexporten in Staaten des Globalen Südens. Die ersten Erfolge in diesem Bereich sind bereits vorhanden.
Mit Blick auf China und seine militärische Aufrüstung gehen wir davon aus, dass diese auch Teil einer Expansionsstrategie ist. Müssen wir bei Indien ähnliche Sorgen haben?
CHRISTIAN WAGNER: Es gibt von indischer Seite bislang keine mir bekannten territorialen Expansionspläne, wie wir das im Falle Chinas im Südchinesischen Meer sehen. Es gibt aber im Spektrum des Hindu-Nationalismus auch die Vorstellung eines ungeteilten Indiens (Akhand Bharat). Im neuen indischen Parlament findet sich ein Wandbild eines solchen „ungeteilten Indiens“, das ja die Teilung von 1947 ungeschehen machen würde. Das hat heftige Proteste in Pakistan und Bangladesch ausgelöst. Die Idee eines solchen „ungeteilten Indiens“, die auch Teile Südostasiens umfasst, ist aber nicht Teil der außenpolitischen Agenda Indiens.
Profitiert Deutschland auch von den Rüstungskäufen Indiens?
CHRISTIAN WAGNER: Wir verkaufen auch Waffen nach Indien und werden künftig vermutlich noch mehr Waffen nach Indien verkaufen. Seit der Indo-Pazifik-Strategie von 2020 hat ja Indien deutlich an Bedeutung in der deutschen Außenpolitik gewonnen, vor allem auch als sicherheitspolitischer Akteur. Wir haben traditionell sehr gute Beziehungen zu Indien in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Vor wenigen Monaten hat die Bundesregierung in dem Dokument „Fokus auf Indien“ noch einmal unterstrichen, wie wichtig diese Beziehungen zu Indien sein werden. Und in diesem Kontext wird sicherlich auch die sicherheitspolitische Kooperation als weitere Säule der bilateralen Zusammenarbeit wichtiger werden.
Die indische Volkswirtschaft wächst jedes Jahr um rund sieben Prozent. Was treibt denn die Wirtschaft in Indien an?
CHRISTIAN WAGNER: Vor allem der Dienstleistungssektor. Aber dieses Wachstum schafft zu wenig Arbeitsplätze, denn der verarbeitende Sektor ist zu schwach entwickelt. Die fehlenden Arbeitsplätze waren ja auch einer der wesentlichen Gründe, weshalb die Modi-Partei bei der letzten Wahl 2024 abgestraft wurde und nicht mehr eine eigene absolute Mehrheit erhalten hat. Generell sind sechs bis sieben Prozent Wachstum sehr gut. Um gegenüber China aber aufzuholen, würde man noch höhere Wachstumszahlen benötigen. Das wird vermutlich nur funktionieren, wenn man mehr Arbeitsplätze im verarbeitenden Sektor schafft, stärker auf die Exportförderung setzt, mehr ausländisches Kapital ins Land holt und die Erwerbsquote der Frauen erhöht.
Das heißt, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Indien, bei der fast eine Milliarde dorthin fließt, ist weiterhin nötig?
CHRISTIAN WAGNER: Die Entwicklungshilfe hat sich deutlich gewandelt. Das meiste Geld geht in Form von Krediten nach Indien, mit denen wir vor allem Projekte im Bereich Klima, Umwelt, Energie und den Umbau der indischen Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit unterstützen. Indien ist aber leider in vielen Bereichen immer noch ein Entwicklungsland. Es gab deutliche Verbesserungen auch bei der Bekämpfung der Armut. Es gibt aber immer noch deutliche Defizite bei öffentlichen Gütern, vor allem im Gesundheitssektor und in der Bildung. Indien hat momentan eine Alphabetisierungsrate von ungefähr 80 Prozent. Das klingt viel, ist aber gerade im Vergleich zu vielen südostasiatischen Ländern deutlich zu wenig. Das zeigt die Schwäche des öffentlichen Bildungsbereichs. Wer sozial aufsteigen will, muss massiv privat investieren. Das können viele arme Familien natürlich nicht.
Und im Gesundheitssystem?
CHRISTIAN WAGNER: Da sieht es ähnlich aus. Das hat auch dieses schreckliche Versagen in der Covid-Pandemie gezeigt. Da wurde klar, dass der öffentliche Gesundheitssektor nicht in der Lage war, mit einer solchen Pandemie umzugehen, trotz der Erfolge bei der Herstellung von Impfstoffen. Indien ist aber auch ein Entwicklungsland, weil weiterhin 40 bis 50 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft beschäftigt sind und 80 bis 90 Prozent der Beschäftigten in einem nicht-organisierten Sektor arbeiten. Ungefähr zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung gehören zur Mittelschicht, also ungefähr 150 bis 200 Millionen Menschen. Das ist im globalen Kontext wiederum eine beachtliche Größe, als Konsumenten, als Dienstleister, als Markt. Aber im innerindischen Kontext bedeutet das, dass große Teile der Bevölkerung weiterhin noch nicht von dieser Entwicklung profitieren.
Welche Rolle spielt Indien für Europa wirtschaftlich?
CHRISTIAN WAGNER: Noch sind wir für Indien wirtschaftlich wesentlich bedeutender als Indien für uns. Allerdings wird Indien für uns wichtiger als Land, aus dem wir Fachkräfte rekrutieren. Die großen Firmen machen das schon seit vielen Jahren, und wir haben eine sehr gut entwickelte Wissenschaftskooperation. Das wird dazu führen, dass wir künftig mehr indische Fachkräfte in Deutschland haben werden.
Tatsächlich bilden Inder:innen ja bereits jetzt die größte legale Migrant:innengruppe in Deutschland. Nun hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil auch in Indien nochmal für den Bereich Medizin und Pflege Fachkräfte angeworben. Werden die nicht in Indien fehlen?
CHRISTIAN WAGNER: Im globalen Vergleich hat Indien tatsächlich ein Defizit an Krankenschwestern. Die Abkommen werden aber mit einzelnen Bundesstaaten geschlossen, etwa mit Kerala im Südwesten Indiens. Aufgrund seines traditionell guten Bildungssystems gibt es in dem Bundesstaat überdurchschnittlich viele Pflegekräfte. Für eine keralesische Krankenschwester kann es deshalb durchaus attraktiver sein, nach Deutschland zu gehen, als zum Beispiel nach Nordindien. In Deutschland sind Bezahlung, Arbeitsumfeld und Ausstattung besser. Sie muss zwar eine neue Sprache lernen, ja. Aber wenn sie nach Nordindien gehen würde, müsste sie vermutlich auch eine neue Sprache lernen, denn Malayalam, die Hauptsprache
in Kerala, wird nur dort gesprochen. Es gibt ja 22 Sprachen in der indischen Verfassung.
Aber wie kann die Integration in die dann doch sehr andere deutsche Kultur gelingen?
CHRISTIAN WAGNER: Das wird die entscheidende Frage sein. Indien hat ja die größte Diaspora im internationalen Vergleich. Arbeitsmigranten ziehen ja oftmals dorthin, wo es bereits eine „verwandte“ Diaspora gibt, etwa ins Vereinigte Königreich, wo rund zwei Millionen Menschen indischer Abstammung leben. Bei uns leben momentan rund 250 000 Inder:innen. Die Herausforderung ist also, Menschen aus Kerala oder aus Uttar Pradesh hier in der deutschen Provinz ohne Familie, ohne Freunde zu integrieren. Da werden sich auch die Arbeitgeber Konzepte überlegen müssen, damit Deutschland mittel- bis langfristig ein attraktiver Ort für Arbeitssuchende aus Indien und anderen Ländern des globalen Südens ist.
Das Gespräch führte Stephan Kosch am 13. Dezember per Videokonferenz.
Christian Wagner
Christian Wagner ist Senior Fellow bei der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2008 bis 2014 war er Leiter der die Forschungsgruppe.
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".