
Nur gut zwei Prozent der indischen Bevölkerung zählen sich zum Christentum. Doch die kleine Minderheit verfügt über ein vielfältiges religiöses Leben, berichtet Silja Joneleit-Oesch, theologische Referentin bei Evangelische Mission Weltweit (EMW). Sie hat viele Jahre in Indien gelebt, geforscht und gearbeitet.
Die in Indien „geborenen“ Religionen, die Hindu-Religionen, der Sikhismus, der Jainismus und natürlich der Buddhismus, sind allein schon in absoluten Zahlen beeindruckend. Auch der Islam ist schon seit Jahrhunderten präsent in Indien, die indigenen Völker pflegen ihre eigenen Religionen und eben auch das Christentum ist, gesichert, seit dem vierten Jahrhundert in Indien angekommen. Der gezählte Anteil der Christ*innen in Indien betrug bei der letzten Volkszählung 2011 2,3 Prozent, aber die Verteilung ist extrem unterschiedlich und beläuft sich in manchen Bundesstaaten auf unter ein Prozent (etwa in Uttar Pradesh) und in anderen auf über 80 Prozent (zum Beispiel in Nagaland im Nordosten). Insofern beleuchte ich hier nur einige wenige Facetten des indischen Christentums, um seine Vielfalt deutlich zu machen:
Die Christ*innen in den Nordost-Staaten: Die „Seven Sisters“ genannten sieben Staaten im Nordosten Indiens stellen eine Besonderheit dar. Diese geografische Exklave liegt zwischen Bangladesch und Myanmar und ist durch einen schmalen Landkorridor in Assam mit Mainland-India verbunden. Im 19. Jahrhundert haben hier US-amerikanische Missionare (mit ihren Frauen und Familien) mit Genehmigung der britischen Herrschenden den indigenen Völkern das Evangelium verkündigt. Die Nagas, Khasi, Garo und viele andere Völker lebten und leben noch heute in den Bergen und oft abgeschieden von städtischer Infrastruktur. Sie bekriegten sich in lokalen Konflikten und waren berüchtigte Kopfjäger. Sie hatten eine orale Kultur und keine übergreifenden Herrschaftsstrukturen. Die Mission der amerikanischen Baptist*innen war extrem erfolgreich, was man von den Missionsbestrebungen in den anderen Teilen Indiens nicht behaupten kann. Die Indigenen ergriffen die Gunst der Stunde, dass mit der Evangelisierung auch das europäische Bildungssystem eingeführt wurde, lernten lesen und schreiben, verschriftlichten ihre Sprache und lernten Englisch.
Quasi ganze Völker sind konvertiert, es entstanden baptistische Kirchen, die bald unabhängig von den ausländischen Missionar*innen arbeiteten, die im Unabhängigkeitskampf Mitte des 20. Jahrhunderts das Land verließen. Konvertierte lokale Christ*innen führten die Mission fort, diese Staaten sind bis heute überwiegend christlich. Seit knapp 20 Jahren versuchen diese Indigenen ihre Kultur und den christlichen Glauben zu versöhnen, miteinander ins Gespräch zu bringen und beides sogar zu verstärken: So unterstützt die starke Verbindung mit der Natur zum Beispiel den biblischen Auftrag, die Schöpfung zu bewahren.
Die matrilinearen Kulturen der Khasi und Garo in Meghalaya verstärken eine verbesserte Ausgewogenheit von weiblichen und männlichen Herrschafts- und Machtanteilen in ihren Gesellschaften, die gute Ansätze zum modernen Diskurs der feministischen Theologie liefert. Sie stellen ein ganz anderes Indien dar und könnten noch umfassender in den theologischen und kulturellen Debatten eingebracht werden, auch international.
Die Thomas-Christ*innen: Nach den armenischen, georgischen und äthiopischen Kirchen sind die Thomas-Christ*innen eine der ältesten Kirchen der Welt. Nach der Legende kam der Apostel Thomas nach Indien und gründete dort erste Gemeinden an der südindischen Westküste im heutigen Kerala. Sie folgen den alt-orientalischen Riten und sind zum einen Teil der syrisch-orthodoxen Kirchenfamilie und zum anderen als Mar-Thoma-Kirche sozusagen orthodox-reformiert. Die Mar-Thoma-Kirche lehnt die Marien- und Heiligen-Verehrung ab, ist unter einem eigenen Metropoliten organisiert und hat ihre Liturgie in ihre Landessprache Malayalam übersetzt. Das sind quasi die Lutheraner unter den Thomas-Christen.
Belegt sind christliche Gemeinden seit dem vierten Jahrhundert in Indien. Sie haben sich fast wie eine eigene Kaste in die indische Gesellschaft eingegliedert, endogam geheiratet und nicht missioniert. So haben sie bis in das Mittelalter überlebt, bis erste Missionare aus den europäischen Ländern kamen und unter Hindus klassisch missionierten. Heute gibt es lebendige Thomas-Kirchen mit verschiedenen institutionellen Anbindungen. Die Mar-Thoma-Kirche ist Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen und folgt in ihren Hochschulen einem ökumenischen Curriculum wie viele andere protestantische Hochschulen auch.
Die Mainline-Kirchen in Südindien: Die vielen missionarischen Aktivitäten aus verschiedenen Kolonialmächten wie Portugal, Dänemark, England, verwoben mit Deutschland und später den USA, brachten alle Konfessionen des alten Europas nach Indien. Im Zuge der großen Missionsbewegungen und der Entstehung der mächtigen und potenten Fundraising-Gesellschaften dazu, etablierten sich römisch-katholische, lutherische, reformierte, anglikanische und später dann auch alle weiteren Konfessionen in Indien. Zunächst entstanden abhängige Filial-Kirchen, die dann im Zuge des 20. Jahrhunderts ebenso wie die Staaten institutionell eigenständig wurden. Die europäischen Missionsbewegungen verliefen teilweise mit der Kolonialisierung, teilweise im Widerspruch zu ihr.
Vulnerable Mission
Anfang des 18. Jahrhunderts erreichte Bartholomäus Ziegenbalg als erster protestantischer Missionar im Auftrag der dänisch-hallischen Mission Südindien. Er kam schnell in Opposition mit den Kolonialmächten und etablierte eine eigene Missionsstrategie, heute würde man das vielleicht vulnerable Mission nennen.
Die Ausbreitung des europäischen Bildungssystems, ein westliches Gesundheitswesen, Evangelisation und die „Erfindung“ des Orientalismus etablierten neue Strukturen mit Wissenschaftler*innen und Expert*innen und bald auch ausgebildeten Inder*innen.
Die Frage nach Kultur und Evangelium wurde erst nur zaghaft gestellt, meistens wurde beides untrennbar voneinander importiert, auch die konfessionelle Zerfaserung Europas. Im 20. Jahrhundert entstand mit der Church of South India (CSI) eine unierte Kirche aus eigenem Antrieb, sie ist eine der größten Kirchen Indiens. Die größte Konfession ist die römisch-katholische Kirche und kam mit den Jesuiten im 16. Jahrhundert nach Indien.
Weder die Top-down-Methode der Jesuiten – bekehrte Maharadschas und Brahmanen werden ihre Untergebenen mitnehmen – noch die Bottom-up-Methode Ziegenbalgs – er taufte nur wenige Menschen – waren in Indien numerisch erfolgreich. Lag und liegt es an einem pluralistischen Hinduismus, der einen weiteren Propheten, inkarnierten Gott oder Weisheitslehrer Jesus problemlos integrieren kann und dem kein exklusiver Anspruch einleuchtet, oder liegt es an den komplexen und etablierten Kulturen Indiens, die mit stratifizierten Gesellschaften stark veränderungsresistent sind? Über Bildungssysteme und soziale Initiativen wurden hauptsächlich (arme) Kastenlose erreicht. Sie stellen 65 bis 70 Prozent der Christ*innen Indiens.
Für Befreiung
Die Dalit-Christ*innen: Dalits (die „Zerbrochenen“, früher „Unberührbare“ genannt) nennen sich diejenigen, die aus dem Kastensystem ausgeschlossen sind und vielfältig diskriminiert werden. Auch wenn die säkulare Verfassung eine Kasten-Diskriminierung verbietet, existiert dieses System unangefochten mit staatlichen Quoten für Dalits und Indigene. Diese Quoten gelten aber nur für „indische“ Religionen, nicht für Christ*innen und Muslim*innen. Die kontextuellen Theolog*innen Indiens betonen, dass das Christentum aus dem Nahen Osten eine asiatische Religion sei, daher weder fremd noch neu. Diese Begründung unterstützt ihre Forderung, in die staatlichen Quotenregelungen miteinbezogen zu werden, und des weiteren die Legitimation, eine autochthone Religion zu sein, die eine indigene Theologie entwickelt.
Auch Indien hat eine Befreiungstheologie im 20. Jahrhundert entwickelt, die Dalit-Theologie: Im Sinne einer Kreuzes-Theologie wird die eigene Ohnmacht und Armut durch das Passions- und Inkarnationsgeschehen Christi zu einer Befreiung. Die Motive des Dienens, des Evangeliums für die Armen und die marxistisch inspirierten sozialen Komponenten hat diese Theologie emanzipiert und sprachfähig gemacht. Als eine kontextuelle Theologie, aber in Bezügen zu anderen Befreiungstheologien, argumentiert sie gegen Diskriminierung innerhalb und außerhalb der Kirche. Auch in den Kirchen lebt das Kastensystem fort, meist verschwiegen, aber doch präsent. Die Dalit-Theologie kämpft für soziale Befreiung und für Solidarität und weiß Gott an ihrer Seite, der sich mit den Armen, Entrechteten und Marginalisierten identifiziert hat. Als Gekreuzigter wird Jesus selbst ein Dalit.
Die Situation der Christ*innen in Indien ist komplex. Manche leben in gefühlten Mehrheitsverhältnissen ihren Glauben und ihre Religion ungestört, manche sind als Dalits doppelt diskriminiert, in der Kirche und in der Gesellschaft, und andere sind in sozialen Kämpfen engagiert oder in spiritueller Einkehr versenkt.
Die akademische theologische Ausbildung in Indien ist anspruchsvoll, international anerkannt und bisher gut vernetzt. Aktuelle politische Verhältnisse befördern den akademischen Austausch nicht, und die quantitativ schwierige Lage der Theologie in Deutschland lässt Perspektiven eher schrumpfen als weltweit vergrößern. Die ökumenische Vielfalt und die Lebendigkeit der indischen Kirchen machen den Subkontinent aber zu einer Quelle theologischer Impulse, die unbedingt beachtet werden sollten.
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Bedrohte Religionsfreiheit in Indien
von Stephan Kosch
„Grundsätzlich sichert die Republik Indien allen ihren Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit des Denkens, der Rede, des Bekenntnisses, des Glaubens und der Religionsausübung zu“, heißt es im 3. ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit, den die Deutsche Bischofskonferenz und die EKD 2023 vorgelegt haben. Allerdings habe der Staat auch weitreichende Kompetenzen, um in religiöse Bereiche einzugreifen. So könne ein christlicher Gottesdienst oder eine Prozession zur Störung der öffentlichen Ordnung werden. Für Hindus, die zum Christentum konvertieren, gilt nicht mehr das hinduistische Personenstandsrecht, sondern das „Christian Personal Law“. Nachkommen eines Konvertiten können etwa keinen Besitz ihrer Hinduverwandten erben. Außerdem ist Konversion ein gesetzlich anerkannter Scheidungsgrund, der auch Unterhaltszahlungen ausschließt. Ein Konvertit verliert die Vormundschaft für das eigene Kind.
Von einer systematischen Verfolgung durch den Staat könne zwar nicht gesprochen werden. „Was aber Sorge bereitet, ist die wachsende Zahl von Hindus, die nicht bereit sind, andere Religionen wie den Islam und das Christentum zu akzeptieren. Sie betreiben eine Politik der Einschüchterung und Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit.“ Bürgerwehren und Schlägertruppen attackierten gezielt christliche und muslimische Einrichtungen und Gebetsversammlungen. „Im Alltag, auf der Straße und auf digitalen Plattformen erfahren muslimische und christliche Gläubige häufig Hass und Hetze.“
Auch der aktuelle Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus dem Jahr 2023 verweist auf den wachsenden Druck auf die religiösen Minderheiten. Regelmäßig komme es zu Einschränkungen der Religionsfreiheit von Christinnen und Christen, die mehrheitlich den Dalits oder Adivasi angehören. Auch internationale Begegnungen und Zusammenarbeit würden gestört. Im Oktober 2022 wurde dem Bericht zufolge eine Delegation aus dem Kirchenkreis Emden-Leer und der Direktor der Gossner-Mission aus Assam wegen angeblicher Teilnahme an missionarischen Veranstaltungen ausgewiesen und mit einer Geldbuße belegt.
Die Berichte sind abrufbar unter:
www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/religionsfreiheit_ekd_dbk_2023.pdf
www.bmz.de/resource/blob/230742/dritter-religions-und-weltanschauungsfreiheitsbericht.pdf
Silja Joneleit-Oesch
Silja Joneleit-Oesch ist Theologische Referentin bei der Evangelischen Mission Weltweit (EMW) in Hamburg.