Leibhaftiges Gedächtnis

Über den Wert von Bücher und Bibliotheken in der digitalisierten Welt
Foto: Harald Oppitz

Buchvorstellung im Max-Weber-Haus in Heidelberg. Fast vierzig Menschen haben ein Buch über das Gedächtnis geschrieben. Darunter Neurowissenschaftler, Mediziner, Physiker, Philosophen, eine Politologin, ein Kunstwissenschaftler, Schriftstellerinnen und Lyriker, ein Sportwissenschaftler und ein Professor für Ur- und Frühgeschichte. Ich selbst habe einen Beitrag aus praktisch-theologischer Perspektive beigesteuert.

Einer der Mitherausgeber, ein Professor für Ältere deutsche Philologie, erzählt im Rahmen der Vorstellung von einem ihn erschütternden Erlebnis. Er kommt in Heidelberg an zwei großen Containern vorbei, die vor einem Haus stehen. In dem einen finden sich Regalreste, in dem anderen eine große philosophische Bibliothek, für den Müll bestimmt. Er erkennt ausgezeichnete Ausgaben, sorgfältig gewählte Zusammenstellungen, Zettel mit Anmerkungen. Da hat jemand sich nicht nur Bücher angeschafft, da hat jemand versucht, sich diese Gedanken anzueignen und einzuverleiben. Sein Gedächtnis ist mit dem Tod erloschen, und die Erben haben entschieden, dass die Bücher ebenfalls dem Tod geweiht sind. Papiermüll. Oder für den Ofen der Verbrennungsanlage im Entsorgungszentrum Heidelberg bestimmt. Kaufen will das keiner mehr, Antiquariate wenden sich schaudernd ab.

Neue Aneignung

„Sind Bücher,“ so fragt der Philologe, „nicht auch das Gedächtnis einer Gesellschaft? Was passiert, wenn sie nicht mehr gelesen werden? Wenn sie aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden?“ Die Begegnung mit den Büchern hatte auch den Aspekt des „memento mori“ für einen Wissenschaftler. Werden auch seine wissenschaftlichen Gedanken, an denen er mit so viel Herzblut gearbeitet hat, einmal nur noch Müll in einem Container sein? Steht dem Buch über das Gedächtnis, das an diesem Abend vorgestellt wurde, das gleiche Schicksal bevor? Wird es eine Zeit geben, in der Menschen gar nicht mehr in Bücher sehen, weil sie diese Form des Gedächtnisses nicht mehr zeitgemäß finden?

Möglich ist es. Alle Informationen werden auch elektronisch gespeichert und sind so abrufbar. Studierende arbeiten heute schon anders als vor dreißig Jahren und greifen selbstverständlich digital auf Literatur zu. Im naturwissenschaftlichen Bereich werden Forschungsergebnisse digital publiziert, das ist aktueller als jedes gedruckte Buch. Neue Generationen erfinden neue Medien und entwickeln eine neue Aneignung und Gedächtniskultur.

Ich bin in Sachen Vergänglichkeit des eigenen Schrifttums ziemlich abgehärtet, nachdem sehr schöne Bücher von mir bei der größten Bücherverbrennung nach den Nationalsozialisten (so titelte damals eine Zeitung) in Flammen aufgegangen sind. Ein großes Bücherlager, das auch der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig diente, war abgebrannt. Die darin aufbewahrten Bücher gibt es nicht mehr, viele sind auch nicht nachgedruckt worden. Seit diesem Ereignis glaube ich nicht mehr an den Satz „wer schreibt, der bleibt“. 

Beispiel Bologna

Mag sein, dass es einmal eine Zeit ohne Bücher geben wird. Ich möchte jedoch neben das Erlebnis des Philologen besondere Gedächtnisorte stellen, und die haben mit Büchern zu tun: Öffentliche Bibliotheken. Ich habe festgestellt, dass öffentliche Bibliotheken häufig sehr lebendige Orte sind. Eine ganz besondere ist für mich die öffentliche Bibliothek von Bologna. Ein Ort mit einzigartiger Atmosphäre! Interessanterweise ist sie nicht nur ein Ort, an dem Bücher aufbewahrt werden. Sie ist zugleich ein Erinnerungsort, das Gedächtnis der Stadt. Sie steht auf römischen Fundamenten, diese sind zu besichtigen und man erkennt sie durch den schweren Glasboden, auf dem das Gebäude steht. An der Außenfassade sind die Namen und Fotografien von ermordeten Partisanen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Namen der Opfer eines verheerenden Terroranschlags auf den Bahnhof in Bologna verzeichnet, ein nie ganz aufgeklärtes Verbrechen aus der rechtsradikalen Ecke mit hunderten Toten. 

Im Haus trifft sich Alt und Jung, Eltern lesen ihren Kindern Bücher vor, Senioren sichten die Tageszeitungen, wissenschaftliche Vorträge finden statt, Schulklassen erobern die Leseräume. In außerordentlich lebendiger Weise bewahrt diese Bibliothek die Erinnerung an den Schrecken, den die Stadt erlebt hat, zeigt die Tradition, die über Jahrtausende reicht und das Gedächtnis, das ihre Bücher enthalten. Und alles nicht am Rand, sondern mitten in der Stadt, in einer – wie Makler es nennen würden – 1A Lage. Die Stadt hat entschieden, hier das Gedächtnis zu pflegen und nicht den Kommerz. Die Bewohner*innen danken es mit lebhaftem Besuch. Es ist ihr Ort. Ihre Stadt. Es sind ihre Bücher. Ihr leibhaftiges Gedächtnis.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"