Der Niedergang von Bollywood

Der indische Film hat lange den religiösen Frieden gefördert. Das hat sich geändert
Filmplakat zum 20. Jubiläum von Veer Zaara (Yash Chopra, 2004) mit Shah Rukh Khan (Veer), Preity Zinta (Zaara) und Rani Mukerji (Anwältin Saamiya).
Foto: Yash Raj Films
Filmplakat zum 20. Jubiläum von Veer Zaara (Yash Chopra, 2004) mit Shah Rukh Khan (Veer), Preity Zinta (Zaara) und Rani Mukerji (Anwältin Saamiya).

Bollywood-Filme sind bunt und emotional und für europäischen Geschmack oft kitschig. Doch sie dienten über viele Jahrzehnte auch dem Miteinander der Religionen in Indien, weiß die Marburger Religions­wissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt. Das habe sich geändert, seit Narendra Modi Premierminister ist.

Am 19. November 2004 begann mit dem fast vierstündigen Familienepos In guten wie in schweren Tagen (Karan Johar, 2001) die Karriere des Bollywood-Films im deutschsprachigen Fernsehen. Die FAZ flankierte dies mit einer humorvollen Anleitung dazu, die farbenfrohen indischen Filme, ihre Lieder und Tänze zu genießen. Außer indischen Snacks und Getränken solle man Taschentücher bereithalten, viele Taschentücher! Denn indische Filme sind vor allem eines: emotional. Für manche deutschen Zuschauer war dies ein Grund, sie für oberflächlich, eskapistisch oder kitschig zu halten. Es gab aber auch viele begeisterte Fans.

Mit „Bollywood“ (aus „Bombay“ und „Hollywood“) bezeichnet man in Indien Populärfilme, die in Bombay, heute Mumbai, in der nordindischen Verkehrssprache Hindi gedreht werden. Als ich vor rund 18 Jahren begann, mich mit Bollywood zu beschäftigen, erkannte ich bald, was für eine unglaublich ergiebige Quelle für kultur- und religionswissenschaftliche Studien ich da vor mir hatte. Das indische Populärkino ist, so die britische Filmexpertin Rachel Dwyer, „der verläßlichste Führer zum Verständnis der Träume und Hoffnungen der Nation und ihrer Befürchtungen und Ängste“. Welche sind das?

Ein Blick in die Geschichte: Als Indien 1947 unabhängig wurde, besaß es eine über 1 000-jährige Erfahrung politischer und religiöser Fremdherrschaft. Die Eroberung des Subkontinents durch muslimische Heere aus Arabien, Persien, Türkei und Zentralasien ab 711 n. Chr. kulminierte ab 1526 im Moghulreich, das seit 1757 nach und nach britisch wurde. Muslimischen wie christlichen Machthabern war eines gemeinsam: ein strikter Monotheismus, der die eher poly-, heno- oder pantheistischen Lehren des Hinduismus bekämpfte, in muslimischer Zeit auch durch Abriss hunderter Tempel und ihren Wiederaufbau als Moscheen.

Eine grundlegende Feindschaft zwischen Muslimen und Hindus entstand aus dieser Gewaltgeschichte dennoch nicht. Das Erstaunliche und für Indien Typische ist vielmehr, dass, trotz des unbeugsamen Widerstandes der Bevölkerungsmehrheit gegen eine Bekehrung zum Islam auf der einen und trotz der Verachtung alles Nichtmonotheistischen im Koran auf der anderen Seite, beide Religionen zusammenfanden und gemeinsam eine der ästhetisch ansprechendsten und religiös tiefgründigsten Kulturen schufen, die es gibt. Ob wir die Mystik der Bhaktas und Sufis, die Liedkunst in Qawwalis und Bhajans, ob wir die Miniaturenmalerei oder die indoislamische Baukunst mit ihrer schönsten Schöpfung, dem Tadsch Mahal, betrachten – stets finden wir eine überaus gelungene stilistische, ästhetische und inhaltliche Verbindung beider Kulturen. „Gott ist nicht in Hindu-Schreinen noch im Mekka der Muslime. Wer ihn fand, fand ihn als göttliches Licht“, dichtete Bulleh Shah (1680–1757), einer der Propheten hindu-muslimischer Annäherung, dessen Gedichte heute für Bollywood-Filme vertont werden.

Ab 1920 warb Mahatma Gandhi um die Beteiligung der Muslime am Freiheitskampf. Je näher Indiens Unabhängigkeit rückte, desto mehr fürchtete jedoch der Muslimführer Jinnah eine künftige Unterdrückung der Muslime durch die Zweidrittelmehrheit der Hindus, obwohl schon damals Gandhi und Jawaharlal Nehru, später der erste Premierminister Indiens, keinen Gottesstaat, sondern die säkulare Republik planten, die sie 1947 auch verwirklichten. Gegen den verzweifelten Widerstand Gandhis schaffte Jinnah es im Alleingang, die Teilung des Landes und die Gründung des Muslim-Staates Pakistan („Land der Reinen“) durchzusetzen.

Die Teilung war die größte humanitäre Katastrophe der mehrtausendjährigen Geschichte Indiens. Von beiden Seiten der neuen Grenze flohen Menschen je nach Religionszugehörigkeit überstürzt auf die für sie „richtige“ Seite. Religiöse Extremisten überfielen in genau geplanten, staatlich unterstützten Aktionen die zu Fuß oder in überfüllten Zügen reisenden Flüchtlingsströme und richteten Blutbäder unvorstellbaren Ausmaßes an; viele Züge erreichten die Zielbahnhöfe voller Leichen. Über eine Million Tote, 20 Millionen im Bevölkerungsaustausch Entwurzelte, hunderttausende zerrissene Familien und vergewaltigte Frauen, die oft aus Gründen der „Ehre“ nicht mehr in ihre Familien aufgenommen wurden – die Teilung war das nationale Trauma schlechthin. Viele Hindus vererbten von Generation zu Generation Misstrauen und Hass gegen Muslime, denen sie wegen des Muslims Jinnah die Schuld an Teilung und Heimatverlust gaben.

Es wundert nicht, dass das Teilungsthema das indische Kino bis heute beherrscht. Während die politische Teilung eine offene Wunde geblieben ist, erzählen Filme, ob in Liebesgeschichten oder Familiendramen, immer wieder von der Überwindung von Teilungen aller Art. Indische Zuschauer empfinden dies als tröstlich, besonders im religiösen Bereich; war es doch ein religiöser Konflikt, der die politische Teilung bewirkt hatte.

Ein eindrucksvoller Film ist Veer Zaara (2004) von dem in Lahore im heutigen Pakistan geborenen, selbst von der Teilung betroffenen Regisseur Yash Chopra (1932–2012). Er handelt von Zaara, einer pakistanischen Muslimin, und Veer, einem indischen Sikh, die sich in Indien zufällig treffen und verlieben, obwohl Zaara in Pakistan verlobt ist. Veer reist zu ihr nach Lahore, muss sie aber aufgeben, um ihren durch den Schock erkrankten Vater zu retten. Kurz vor Veers Rückkehr nach Indien lässt Zaaras Verlobter ihn aus Rache verhaften. Ohne Zaaras Wissen sitzt Veer 22 Jahre unschuldig im Gefängnis in Lahore, bis eine lokale Anwältin sich für ihn einsetzt. Sie erreicht Veers Entlastung vor Gericht und seine Wiedervereinigung mit der Geliebten.

Heilende Liebe

Als Zaara Veers Heimat mit ihm durchreist, singt sie in einem Lied: „Dein Land ist genau wie mein Land …“. Auch die gemeinsame Sprache und die Freundlichkeit, mit der Inder und Pakistanis einander im Film behandeln, betonen die noch immer bestehende emotionale Nähe beider Länder. Es ist Veers indischer Vater, der ihm die Ehe mit der Pakistanerin Zaara nahelegt, und es ist eine pakistanische Anwältin, die dem Inder Veer zu seinem Recht und Glück verhilft. Der Film will die indische Teilung wenigstens an einer Stelle, im Leben eines Paares, heilen. Diese Botschaft erreichte auch Pakistan, dessen Ministerpräsident der indischen Schauspielerin Rani Mukerji, die die pakistanische Anwältin mit viel Herz gespielt hatte, persönlich dankte.

Ein Film, der die Teilung einer Familie als Parabel auf die indische Teilung erzählt, ist Amar, Akbar, Anthony (Manmohan Desai, 1977). Er erzählt, wie drei minderjährige Jungen bei einem Unfall voneinander und von den Eltern getrennt werden. Sie wachsen bei Pflegeeltern auf, der älteste bei einem hinduistischen Polizisten, der ihn Amar nennt, der zweite, mit Namen Anthony, bei einem katholischen Priester und der jüngste unter dem Namen Akbar bei einem muslimischen Schneider. Alle drei werden in der Religion ihrer Pflegeväter erzogen. Der Film schildert die Ereignisse, die nach Jahrzehnten zur Wiedervereinigung der Familie führen.

Der Film drückt symbolisch aus, dass Gläubige aller Religionen Kinder Indiens und damit Geschwister sind. Dass Eltern und Söhne von Hindus gespielt werden, deutet zugleich die Rolle des Hinduismus als Mutterreligion aller Inder an, auch wenn sie Muslime oder Christen sind. Tatsächlich denken nicht nur Hindus so. Eine katholische Südinderin hat mir bestätigt, dass sie, obwohl Christin, sich nach wie vor als zur hinduistischen Kultur zugehörig empfinde.

Solche Geschichten, von denen es in Bollywood viele gibt, tragen zur „Idee Indiens“ bei, zu einer nationalen Identität, die alle Religionen willkommen heißt und keiner das Recht zubilligt, andere zu unterdrücken. Einen solchen Staat versteht man in Indien als „säkular“, womit hier nicht so sehr die Trennung von Religion und Staat gemeint ist als vielmehr die gleichberechtigte Anwesenheit aller Religionen im öffentlichen Raum. Hindi-Filme sind ganz überwiegend von dem Bedürfnis getragen, diesen Zusammenhalt der multireligiösen Gesellschaft Indiens zu unterstützen. In einem Forschungsprojekt habe ich 2010 knapp 200 der erfolgreichsten Filme der Jahre 1950 bis 2010 untersucht und festgestellt, dass kein einziger von ihnen es darauf anlegt, die interreligiöse Harmonie zu beschädigen und etwa eine Religion aus der Sicht einer anderen anzugreifen.

Zur Bollywood-Kultur gehört auch, dass Filme stets in Kooperation von Angehörigen mehrerer Religionen produziert und Filmrollen gern mit andersreligiösen Darstellern besetzt werden – in Veer Zaara zum Beispiel gilt das für fast alle Rollen. Und wenn ein atheistischer Dichter ein hinduistisches Kultlied dichtet, das dann von einem muslimischen Komponisten vertont und im Film einem christlichen Schauspieler beim Vollzug eines Hindu-Rituals in den Mund gelegt wird, so findet niemand etwas dabei. Sich in Andersreligiöse hineinzuversetzen, ist Programm. Vermittels des großen Einflusses, den in Indien Filme und beliebte Schauspieler als Vorbilder auf das Verhalten der Menschen ausüben, hat das scheinbar so harmlose und „kitschige“ Bollywood damit fast 70 Jahre lang Maßgebliches zum inneren Frieden Indiens beigetragen.

Seit 2014 ist dieser Friede nun in akuter Gefahr. Narendra Modi, fanatischer Vertreter des Hindu-Nationalismus, wurde Premierminister Indiens. Friede und Freundschaft zwischen Hindus, Muslimen, Christen et cetera stehen nicht auf seinem Wunschzettel. Dem Journalisten Aatish Taseer zufolge betrachtet Modi vielmehr demokratische Errungenschaften der indischen Gesellschaft wie Säkularismus, Liberalismus, freie Presse und freie Meinungsäußerung als Teil einer Verschwörung westlich orientierter Inder gegen die Hindu-Mehrheit des Landes. Der bisher übliche Respekt vor Gandhi, Nehru und anderen Vätern der Nation ist durch die Glorifizierung von Gandhis Mörder Nathuram Godse verdrängt worden. Modis Ziel ist ein Indien der Hindus, in dem Angehörige von Religionen nichtindischen Ursprungs allenfalls Bürger zweiter Klasse sein sollen. Hinsichtlich des Umgangs mit solchen unerwünschten Mitgliedern der Gesellschaft denkt manch ein Parteigänger Modis sogar laut über Adolf Hitler als Vorbild nach. Zu Modis hinduistischem Überlegenheitsdenken gehört auch, dass er allen Ernstes einen Gott wie den elefantenköpfigen Ganesh als „Beweis“ dafür anführt, dass die alten Inder vor Jahrtausenden schon die Kunst der Organtransplantation beherrscht hätten.

Verunsichernde Schikanen

Im Fokus von Modis Misstrauen steht die Filmindustrie, weil sie bisher Muslimen und anderen Nichthindus gleiche Chancen bot. Filme, in denen Hass gegen Nichthindus propagiert oder Modi in geradezu kriecherischer Weise glorifiziert wird, sind mittlerweile „normal“ geworden. Schauspieler, die die multireligiöse Kultur Bollywoods in ihren Filmen mitgetragen haben, mutieren zu Verehrern Modis und treten seiner Partei (BJP) bei. Noch werden wenigstens gelegentlich Filme produziert, die dem alten, multireligiösen Bollywood treu bleiben.

In einem schleichenden Prozess werden erfolgreiche und beliebte muslimische Schauspieler verunsichernden Schikanen ausgesetzt. So inhaftierte man den Sohn des Superstars Shah Rukh Khan vier Wochen lang unschuldig wegen Drogenhandels, und der Superstar Aamir Khan erlitt massive finanzielle Verluste durch einen von Modi-Anhängern indienweit organisierten Boykott eines seiner Filme. Um sein Image als liebevoller Übervater aller Inder zu behalten, hält Modi selbst sich aus solchen Aktionen heraus und überlässt sie seinen militanten Anhängern, die genau wissen, dass sie von der Polizei nichts zu befürchten haben.

Indien ist nie ein Paradies gewesen, aber es war einzigartig in seiner Bemühung, als ein sehr großes Land mit sehr großen Problemen unbeirrt an der interreligiösen Gleichberechtigung als Staatsraison festzuhalten und sie sogar zum Bestandteil seiner nationalen Identität zu machen. Dass diese beeindruckende kulturelle Leistung nun mutwillig zerstört und das Land in einen weiteren der vielen Staaten verwandelt wird, die Menschen um ihres Glaubens willen verfolgen und töten, muss alle traurig stimmen, die bis 2014 an Indien als Hoffnungsträger für den internationalen Religionsfrieden geglaubt haben.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"