Ungleiche Dynamik

Indien zwischen weltweiter Wirtschaftsmacht und Entwicklungsland
Landarbeiterin auf dem Weg nach Hause.
Foto: picture alliance/Pacific Press
Landarbeiterin auf dem Weg nach Hause.

Eine erfolgreiche Mondladung, mehr als hundert milliardenschwere Start-ups und Wachstumsraten von über sechs Prozent: Die wirtschaftliche Dynamik Indiens beeindruckt. Bald wird das Land vor Japan und Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. Gleichzeitig ist Indien noch immer Entwicklungsland, weite Teile der Bevölkerung leben in Armut. Lena Gayoso von „Brot für die Welt“ beschreibt die wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze.

Indien ist mit 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohnern seit 2023 das bevölkerungsreichste Land der Erde. Mit den Wachstumsraten seiner Wirtschaft liegt es schon seit 2021 an der Weltspitze. 2023 waren es 7,8 Prozent, für 2024 und die beiden Folgejahre wird immer noch ein Wachstum von deutlich mehr als sechs Prozent erwartet. Mit der nationalen Wirtschaftsleistung, ausgedrückt im Brutto-Inlands-Produkt (BIP) von umgerechnet etwa drei Billionen Euro (2023), liegt Indien weltweit auf Platz fünf. Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich in einer dynamischen Transformation.

Die demografische Altersstruktur ist ein wesentlicher Faktor der Entwicklung: Während 2023 etwa ein Viertel der Bevölkerung unter 14 Jahre alt war und rund zwei Drittel zwischen 14 und 65, sind lediglich sieben Prozent über 65 Jahre alt. Das statistische Durchschnittsalter liegt in Indien zehn Jahre unter dem in China. Auf lange Sicht treibt die sogenannte demografische Dividende den indischen Aufschwung an. Auch wenn es gelungen ist, das Bevölkerungswachstum beherrschbar zu machen und unter ein Prozent pro Jahr zu drücken, ist es in absoluten Zahlen nach europäischen Maßstäben immer noch beträchtlich: Die für das Jahr 2028 prognostizierte Quote von 0,8 Prozent würde immer noch einen Zuwachs von mehr als zehn Millionen Menschen bedeuten. Womöglich schon 2027, spätestens 2030 wird Indien vor Japan und Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. Daraus resultiert der selbstbewusste Anspruch, als Wortführer des Globalen Südens aufzutreten.

So beeindruckend der steile Aufstieg der vergangenen Jahrzehnte beim Blick auf solche Daten wirkt – die Erfolgsgeschichte ist nur die halbe Wahrheit. Ein enormer Entwicklungsrückstand großer Teile der Landbevölkerung, die immer noch mehr als zwei Drittel der Einwohnerschaft umfasst, steht im Gegensatz zur Dynamik und Innovationskraft urbaner Zentren und Wirtschaftszweige. Vor allem die indische IT-Branche macht weltweit Furore. Die Einkommensungleichheit nimmt zu. Das BIP pro Kopf liegt bei monatlich knapp 200 Euro. Das ist weniger als ein Fünftel des weltweiten Durchschnitts im Jahr 2023. Eine Schlüsselstellung nimmt Indien mit Blick auf die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens von 2015 und auf die im gleichen Jahr beschlossenen globalen Ziele nachhaltiger Entwicklung ein, die die Vereinten Nationen in ihrer Agenda 2030 verankert haben. Von den Folgen der Klimakrise wie extremer Hitze, Dürre, Überschwemmungen und Ernteausfällen ist das Land besonders stark betroffen. Der Druck auf natürliche Ressourcen wie Böden, Wasser und Wälder infolge der rasanten Industrialisierung wird durch die Klimakrise zusätzlich verschärft. Die Regierung von Narendra Modi unternimmt zwar beträchtliche Anstrengungen zur Förderung sauberer Energie, setzt aber derzeit noch stark auf fossile Brennstoffe. Einige indische Städte gehören zu den Orten mit der international höchsten Luftverschmutzung. Der CO2-Ausstoß Indiens ist der drittgrößte auf der Welt. Gleichzeitig möchte Premierminister Modi eine führende Rolle bei den globalen Anstrengungen gegen den Klimawandel übernehmen. Bei der UN-Klimakonferenz 2024 in Aserbaidschan schlug er vor, dass Indien 2028 Gastgeber der Konferenz sein könnte. Die Urbanisierung entwickelt sich rapide. Die unkontrollierte Stadtentwicklung vergrößert jedoch auch die Slums, in denen die soziale Ungleichheit besonders zum Ausdruck kommt. Metropolen wie Mumbai, Delhi und Chennai kämpfen mit der Herausforderung, der wachsenden Bevölkerung ausreichend Wohnraum, sauberes Wasser und Abwassersysteme bereitzustellen. Eine weitere Großbaustelle ist die unzureichende Infrastruktur. Marode Straßen, überlastete Häfen und ein ineffizientes Schienennetz erschweren den Transport von Gütern und Menschen. Dazu hemmt die ererbte Struktur des Kastenwesens vielerorts die Modernisierung.

Die Polarität zwischen dem Boom von Technologiezentren wie Bengaluru, Hyderabad oder Pune auf der einen Seite und dem ärmlichen Leben von hunderten Millionen Menschen auf der anderen ist der auffälligste der zahllosen Widersprüche, die das Land prägen. Bei der letzten Erfassung im Jahr 2018 war immer noch ein Viertel der Bevölkerung analphabetisch. Gleichzeitig gibt es beachtliche Aufbruchs- und Erfolgssignale: Schon mehr als 100 indische Start-ups, jedes mit mehr als einer Milliarde US-Dollar bewertet, machen das Land in diesem Bereich nach den USA und China zu einer der weltweit führenden Nationen. Die Anzahl der indischen Patentanmeldungen hat sich in den vergangenen 15 Jahren verfünffacht. Einem Bericht der deutschen Bundesregierung vom Oktober 2024 zufolge hat sich die indische Industrie inzwischen „in Bereichen wie der Informationstechnologie, der digitalen öffentlichen Infrastruktur oder der Raumfahrt […] als globaler Innovationsmotor etabliert.“ Im Jahr 2023 gelang es Indien als vierter Nation der Welt, eine Sonde auf dem Mond zu landen.

Wachsende Mittelschicht

Aber im gleichen Jahr war UN-Statistiken zufolge immer noch ein Sechstel der indischen Bevölkerung, etwa 230 Millionen Menschen, unterernährt. Die Bekämpfung der Armut und die Förderung der Chancengleichheit gehören seit langem zu den proklamierten Zielen der Regierung von Modi. Dessen nationalistische Hindu-Partei Bharatiya Janata Party (BJP) wurde im Mai des Jahres 2024 bei den weltweit größten demokratischen Wahlen mit fast einer Milliarde Wahlberechtigten zum zweiten Mal als führende politische Kraft wiedergewählt. Zu ihren Erfolgen zählt sie, dass die indische Mittelschicht aufgrund des Bevölkerungsanstiegs und der Wachstumsdynamik binnen eines Jahrzehnts von 300 auf 540 Millionen angewachsen ist, so die offiziellen Zahlen. Die letzte Volkszählung fand allerdings im Jahr 2011 statt, insofern sind dies Schätzwerte und liegen möglicherweise zu hoch.

Das Ziel der Ernährungssicherheit ist seit 2013 auch im „National Food Security Act“ gesetzlich verankert, Grundnahrungsmittel werden vom Staat zu Stützpreisen angekauft und in zentralen Lagern für Bedürftige bevorratet. Die Subventionspolitik hat das Problem jedoch bisher auch deshalb nicht lösen können, weil die niedrigen Abnahmepreise kein ausreichender Anreiz zur Produktion waren. Eine gesetzliche Reforminitiative, um dieses Dilemma durch ein Ende der staatlichen Intervention und die Liberalisierung der Agrarmärkte zu beheben, scheiterte 2020/2021 an massiven bäuerlichen Protesten: Die Betroffenen befürchteten, infolge der angekündigten Deregulierung schutzlos der entfesselten Marktmacht großer Agrarunternehmen ausgeliefert zu sein. Die Regierung zog das Gesetz zurück – nicht zuletzt wohl, weil Wahlen bevorstanden.

Wichtige Zivilgesellschaft

Ein anderes Gesetz sollte der Landbevölkerung eine Mindestabsicherung gegen Arbeitslosigkeit und Hunger verschaffen – das 2005 vom Parlament verabschiedete Programm der „National Rural Employment Garanty Act“ (NREGA). Seit 2009 werden diesem Kürzel wegen seiner Strahlkraft zusätzlich die Initialen von Mahatma Gandhi vorangestellt (MGNREGA). Frauen und Männer, die über 18 Jahre alt sind, auf dem Land leben und sich als ungelernte Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, sollen demzufolge für mindestens 100 Tage im Jahr eine staatliche Beschäftigungsgarantie erhalten.

Ein Erfolg dieses bescheiden anmutenden, aber angesichts der enormen Dimension der Probleme hoch ambitionierten Projektes scheint allerdings in weiter Ferne zu liegen, wie ein Artikel der digitalen Newsplattform The Probe darlegt. Betroffene aus allen Bundesstaaten klagen über Mängel bei der Umsetzung. Viele Arbeitskräfte warten seit Monaten auf die versprochene Bezahlung. Wenn überhaupt etwas ankomme, dann oft nur ein Teil der Beträge. Nicht wenige berichten, der ihnen versprochene Lohn sei auf den Konten von anderen gelandet. Es gibt noch viele Herausforderungen, die die Regierung lösen muss. Die vorgesehenen Kontrollmechanismen, die im Fall von Durchführungsmängeln und Beschwerden öffentliche Anhörungen garantierten, so heißt es, funktionierten nicht. Und die in Aussicht gestellten staatlichen Fonds, die bei weitem nicht ausreichten, würden obendrein von Jahr zu Jahr weiter gekürzt. Besonders schlimm von solchen Missständen betroffen seien Frauen, Witwen und alte Menschen.

Trotz alledem setzen sich zivilgesellschaftliche Akteure mit aller Kraft dafür ein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Sozialprogramme wie das MGNREGA auch die Ärmsten der Armen erreichen können. Sie klären beispielsweise die marginalisierte Bevölkerung über das Gesetz auf und zeigen ihr, wie der Antragsprozess abläuft. Oder sie schulen Multiplikator:innen, die ihr Wissen an andere weitergeben. Menschen in ländlichen Regionen werden auch selbst aktiv: Sie gründen Selbsthilfegruppen, organisieren sich und teilen ihr Wissen untereinander. Besonders Frauen schließen sich zusammen und unterstützen sich gegenseitig.

Auch wenn niemand die enormen, noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbaren Fortschritte unterschätzen sollte, die Indien mit seinen aufsteigenden Wirtschaftszweigen erreicht hat, ist offensichtlich: Es wird dauern, bis das bestaunte indische Wirtschaftswunder auch bei der großen Mehrheit der Bevölkerung ankommt. Eine starke Zivilgesellschaft ist die Voraussetzung dafür, dass das gelingen kann.

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Foto: Diakonie/Hermann Bredehorst

Lena Gayoso

Lena Gayoso ist Projektkommunikatorin für Asien, Pazifik und Europa bei Brot für die Welt in Berlin.


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