Die unvollkommene Demokratie

Wohin steuert Indien nach der Wiederwahl von Premierminister Modi?
Hat die „Bulldozer-Justiz“ untersagt: der Supreme-Court, das höchste Gericht Indiens.
Foto: Antje Stiebitz
Hat die „Bulldozer-Justiz“ untersagt: der Supreme-Court, das höchste Gericht Indiens.

Während die einen die größte Demokratie der Welt als robust bezeichnen, betrachten andere ihr Bestehen als gefährdet. Beides stimmt, denn auf dem Subkontinent ringen zwei verschiedene Ideen von Indien um die Vormachtstellung. Die einen wollen eine aufgeräumte Hindu-Nation, die anderen eine plurale und liberale Gesellschaft. Ein Nährboden für Spannungen, aber auch für Hoffnung, meint die Indien-Korrespondentin Antje Stiebitz.

Im vergangenen Juni haben sich die indischen Wähler für eine dritte Amtszeit des indischen Premierministers Narendra Modi und seine hindu-nationale Bharatya Janata Party (BJP) entschieden. Gleichzeitig schnitt aber auch das sozialdemokratisch-säkulare Oppositionsbündnis INDIA überraschend gut ab und stahl dem erfolgsverwöhnten Premierminister die Show. Optimisten feierten das als Sieg der Demokratie. Und sagten dem Premier und seiner BJP für die nächsten fünf Jahre einen etwas bescheideneren Regierungsstil voraus, weil sie ohne Koalitionsarbeit keine Mehrheit mehr zusammenbekommen. Pessimisten hingegen fürchteten, dass die Koalition in endlosen Streitigkeiten enden könnte. Seitdem verfolgt Narendra Modi weiter seine Vision einer wirtschaftlich entwickelten Hindu-Nation.

Unklar bleibt allerdings, ob das Erstarken der Opposition wirklich ein Sieg der Demokratie war. Denn es gibt Zeichen, die daran zweifeln lassen, dass der indische Parlamentarismus in einer guten Verfassung ist. Der bekannte Journalist Rajdeep Sardesai, der für den TV-Sender India Today arbeitet, drückt es im Telefoninterview so aus: „Es gibt berechtigte Sorgen und schwierige Aspekte der indischen Demokratie. Unterm Strich würde ich sagen, wir haben eine Fifty-fifty-Demokratie. Fünfzig Prozent sind gut und fünfzig Prozent sind es nicht, wie das halb volle oder halb leere Glas.“ Ein bedrückendes Beispiel für Demokratiedefizite ist Manipur, ein Bundesstaat im Nordosten Indiens. Seit Mai 2023 entlädt sich dort ein ethnischer Konflikt zwischen den Gemeinschaften der Meitei und den Kuki. Mindestens 250 Tote und über 60.000 Vertriebene sind die bisherige Bilanz. Ein Ende ist nicht abzusehen. Premierminister Modi hat zu dieser Eskalation monatelang geschwiegen. Kritiker warfen ihm politisches Kalkül vor, weil er die Unterstützung der hinduistischen Meitei-Mehrheit nicht verlieren möchte. Bis heute fordert das INDIA-Oppositionsbündnis, dass der Konflikt in Manipur im Parlament diskutiert wird: Ohne Resonanz. „Natürlich ist die Opposition aufgeregt und unzufrieden über die ausbleibende Antwort“, kommentiert Anil Chamadia, Professor für Massenkommunikation, im Gespräch mit der Autorin. „Die Regierung ist verantwortlich dafür, auf solche Anfragen zu reagieren.“

Ein weiteres Beispiel für den Mangel an demokratischem Verhalten: Im Dezember riss die Verwaltung des Distrikts Ayodhya zwei Gebäude ab. „Die Familien sagen aus, dass die Behörden ihnen keinerlei Mitteilung gemacht haben. Sie wissen nicht, warum ihre Häuser eingerissen wurden“, erklärt Anil Chamadia. Kein Einzelfall! Sondern eine Praxis, die inzwischen als „Bulldozer-Politik“ bekannt ist und immer wieder in BJP-regierten Bundesstaaten angewandt wird. Meist mit der Begründung, dass die Bebauung illegal sei. Die betroffenen Menschen sind vorwiegend muslimisch oder marginalisiert, oft beides. Da die Behörden keine alternativen Unterkünfte anbieten, kann diese Praxis Existenzen zerstören. Deshalb hatte das Höchste Gericht Indiens erst im November entschieden, dass diese „Bulldozer-Justiz“ verfassungswidrig ist, und die verantwortlichen Behörden gerügt.

Gut 70 Prozent der indischen Bevölkerung sind Hindus, knapp 15 Prozent Muslime. Das enge Nebeneinander dieser Religionsgruppen führt zu kontinuierlichen Konflikten, die immer wieder hohe Wellen schlagen. Wie etwa kürzlich bei einer öffentlichen Gedenkfeier zum 100. Geburtstag des ehemaligen Premierministers Atal Bihari Vajpayee. Die Folksängerin Devi hatte einen Bhajan – ein religiöses Andachtslied – gewählt, das die Einheit der Religionen feiert. Neben dem Hindu-Gott Ram wird auch der muslimische Gott Allah in einer Zeile besungen. Hinduistische Hardliner zwangen die Künstlerin, den Bhajan zu beenden, und forderten sie auf, sich öffentlich zu entschuldigen. In einem Interview mit der indischen Nachrichtenagentur ANI sagte Devi, dass sie sich entschuldigt habe, weil sie Angst hatte, dass die Situation eskaliert. Allerdings sei sie der Meinung, dass gegen diejenigen vorgegangen werden sollte, die dieses Chaos verursacht haben. Denn Premier Atal Bihari Vajpayee habe sich immer dafür eingesetzt, dass alle Gemeinschaften zusammenhalten. Der Vorfall belegt, dass religiöse Toleranz – traditionell ein Herzstück der Hindu-Religion – zunehmend unter Druck steht.

Gewalt gegen Christen

Das zeigt sich auch an den Christen, die in Indien leben. Ein Bericht der Organisation Open Doors für das Jahr 2024, aber auch der aktuelle gemeinsame Bericht der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD sowie der der Bundesregierung beschreiben Ausschreitungen gegen die christliche Minderheit (siehe Kasten auf Seite 35). Die Gewalt geht meist von extremistischen Gruppen aus, die Indien als Hindu-Nation definieren und damit die gesellschaftliche Stimmung aufheizen und radikalisieren. Anil Chamadia beobachtet seit Jahren: „Immer da, wo sich verschiedene religiöse Gruppen oder Kasten vermischen wollen und ihre Traditionen austauschen – da kommt die Gesinnung der Regierung an die Oberfläche, die Hinduvta-Ideologie, die Mentalität des Hindu-Seins.“

In der Rangliste der „Reporter ohne Grenzen“ steht Indien mittlerweile auf Platz 159 von insgesamt 180 Ländern. Denn Drohungen, Hasskampagnen, Inhaftierungen und physische Gewalt machen kritischen Journalismus schwer. „Journalistische Organisationen stehen immer wieder unter Druck“, sagt auch der TV-Journalist Rajdeep Sardesai, der oft kritisch über die Regierung berichtet. „Trotzdem haben wir immer noch eine Opposition, die es mit der Regierung aufnimmt. Wir haben Medien, die die Regierung in Frage stellen. Indien ist nicht China, wo Journalismus absolut keine Freiheit hat. Doch sicher ist unsere Situation nicht so perfekt, wie sie es sein sollte – ich spreche immer von einer unvollkommenen Demokratie.“

Problematisch ist inzwischen auch, dass die indische Regierung globale Ranglisten über den Zustand der Medien, der Menschenrechte oder den Hunger – von westlichen Ländern herausgegeben – nicht mehr anerkennen will. Mit der Begründung, dass solche Rankings nur dazu dienen würden, Indien westliche Vorstellungen aufzuzwingen und anzuklagen. Zudem wären die Parameter der Untersuchungen auf Indien oft nicht anwendbar.Die indische Organisation „Association for Democratic Reforms (ADR)“ beobachtet, dokumentiert und analysiert demokratische Prozesse. Sie berichtet beispielsweise darüber, wie viele Parlamentarier in Straftaten verwickelt sind, wie viel Vermögen sie besitzen, und fordern die Offenlegung der Parteienfinanzierung. ADR-Gründer Trilochan Sastry ist Elektroingenieur, Experte für Management und hat in den USA promoviert. Er betrachtet den hindu-nationalen Premierminister Narendra Modi als Teil einer weltweiten Entwicklung. Und im Gespräch mit der Autorin sieht er ihn in einer Linie mit anderen rechtspopulistischen Länderchefs wie Donald Trump, Giorgia Meloni, Recep Tayyip Erdogan, Viktor Orbán oder Wladimir Putin.

Hierbei handele es sich um ein periodisches Pendeln von liberaler zu autoritärer Politik, erklärt Trilochan Sastry. Dass die BJP Politik und Religion verbinde, hält der Demokratie-Experte nicht für das eigentliche Problem. Der Westen habe Religion weitgehend abgestreift. Aber die meisten Menschen auf der Welt schöpften ihre ethischen und moralischen Vorstellungen noch immer aus der Religion. Das gelte auch für Indien.

Die eigentliche Gefahr für die indische Demokratie sieht er hingegen vor allem in zwei Entwicklungen: „Der rasante gesellschaftliche Wandel ist das Hauptproblem. Die Menschen verstehen nicht mehr, was vor sich geht. Diese Umwälzungen führen dazu, dass sich die Bevölkerung stabile Verhältnisse wünscht und einen starken Führer.“ Und der zweite entscheidende Punkt: Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt über 40 Prozent des nationalen Vermögens. „Früher waren die Menschen zufrieden mit ihrem Leben auf dem Land. Aber jetzt, aufgrund von Arbeitsmigration innerhalb Indiens und der Sozialen Medien, weiß jeder Habenichts, wie Reiche leben.“ Diese Ungleichheit, so der Demokratie-Experte, führt zu Unzufriedenheit. Die Menschen fordern bessere Lebensbedingungen, Sicherheit – und wieder werde der Ruf nach einer starken politischen Führung laut. „Doch alle indischen Regierungen sind angesichts der Größe der Probleme überwältigt. Etwa alleine die gigantische Anzahl der Kinder, die ausgebildet werden muss.“ Laut indischem Bildungsministerium sind das 265 Millionen Kinder von der ersten bis zur zwölften Klasse. „Also erfindet die Regierung einen Slogan, setzt Programme auf, und mit der richtigen PR entsteht der Eindruck, dass etwas getan wird.“

Trilochan Sastry sieht in Indien zwei Kräfte kollidieren: „Diejenigen, die fordern, dass Recht und Ordnung von einer autoritären Regierung durchgesetzt werden. Und diejenigen, die Freiheit wollen.“ Politisch würden leider immer diejenigen gewinnen, die am geschicktesten manipulieren, bestechen und drohen. Alle politischen Parteien, argumentiert er, liefen Gefahr, ihre Macht zu missbrauchen und autoritär durchzugreifen, sobald sie es können. Wie etwa 1975 geschehen, als die Premierministerin Indira Gandhi – der Kongress-Partei angehörig – für 21 Monate den Ausnahmezustand verhängte. Deshalb müsste man alle autoritären Aspekte parteiübergreifend behandeln und eindämmen.  

Vielschichtige Demokratie

Der Journalist Rajdeep Sardesai ist der Meinung, dass die indische Demokratie nicht ganz so robust sei, wie oft behauptet, aber dass es Hoffnung gibt. „Wir haben regelmäßige, friedliche Wahlen und keine Militärherrschaft. Wir haben eine Mehrparteien-Demokratie mit unzähligen politischen Parteien, zahllose Nachrichtensender und Zeitungen. Und unsere Gerichte tun ihre Arbeit.“

Es gibt eine Parabel, die rund 500 Jahre vor Christus auf dem indischen Subkontinent aufgetaucht sein soll. Sie erzählt, wie eine Gruppe von Blinden erstmals auf einen Elefanten trifft. Einer von ihnen betastet die Beine des Tiers, ein anderer seine Ohren und wieder ein anderer seinen Rüssel. Jeder von ihnen beschreibt ihn aufgrund seiner Wahrnehmung anders. Alle haben Recht und gleichzeitig liegen sie alle falsch. So ist es auch mit der vielschichtigen indischen Demokratie. Und diese Vielfalt ist es letztlich, die die demokratischen Strukturen auf dem Subkontinent schützt und hoffen lässt. Denn die indischen Bürger aller Religionen und Gesellschaftsschichten sind sich ihrer demokratischen Stimme bewusst und setzen sie auch ein.

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