Das Tabu des Todes durchbrechen

Jahr für Jahr erhalten etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland eine Krebsdiagnose. Viele Betroffene bekommen palliative Unterstützung, ihre Schmerzen werden medikamentös gelindert. Doch wie steht es um die spirituelle Begleitung am Lebensende? Der Autor Andreas Boueke hat die onkologische Abteilung der Kliniken Essen-Mitte besucht.
Auf dem Krankenhausflur in der onkologischen Abteilung der Kliniken Essen-Mitte ist es ruhig. Nur ab und zu piept ein Blutdruckmonitor. Plötzlich öffnet sich eine Zimmertür. Die Palliativkrankenschwester Katharina Alfs kommt auf den Gang, eine Akte unter dem Arm. Sie muss auf eine unerwartete Entwicklung reagieren. Die Details des konkreten Falls möchte sie nicht schildern. „Es kommt vor, dass Patienten mit einer palliativen Erstdiagnose gestern noch fit waren und heute akut Probleme haben. Dann läuft die ganze Maschinerie der Diagnostik an, und es stellt sich zum Beispiel heraus: metastasiertes Bronchialkarzinom. Das ist nicht selten.“
In ihrer Ausbildung hat sich Katharina Alfs auf den Bereich palliativer Pflegeberatung spezialisiert. Morgens macht die 33-Jährige eine Runde durch die Zimmer der Patienten, die neu auf die onkologische Abteilung der Kliniken Essen-Mitte eingewiesen wurden. „Ich stelle mich als Palliativberatung in der Onkologie vor. Manchmal muss ich den Begriff erklären und die Angst vor dem Wort nehmen.“
Palliativ stammt von dem lateinischen Wort pallium, der Mantel. In diesem Sinne verfolgt die Palliativmedizin das Ziel, die Kranken zu ummanteln, also zu beschützen. Sie verbessert die Lebensqualität von Menschen, die unter unheilbaren, fortgeschrittenen Erkrankungen leiden. Nicht die Heilung steht im Vordergrund, sondern die Linderung von Schmerzen und Symptomen, erklärt Katharina Alfs. Die resolute Pflegerin unterstützt Menschen, die dringend eine helfende Hand oder ein offenes Ohr brauchen. Gerade bei neu eingewiesenen Patienten geht sie auch auf spirituelle Fragen ein. „Viele fallen in ein Erstdiagnoseloch. Um sie zu unterstützen, versuche ich, ihnen vor Augen zu führen, dass es trotz dieser schlimmen Nachricht immer auch Hoffnung gibt. Die Symptomlast kann kontrolliert werden. Und mit einer Tumortherapie gewinnen wir Zeit. Lebenszeit ist den meisten sehr, sehr wichtig.“
Katharina Alfs hat einen Büroplatz im Krankenhaus, an dem sie sich um administrative Dinge kümmert. Als Palliativberaterin ist sie freigestellt von den Pflegeaufgaben auf der Station. „Aber bei speziellen Pflegebedürfnissen wie großen Wundversorgungen unterstütze ich natürlich. Doch eigentlich mache ich ein zusätzliches Angebot. Meine Aufgabe ist es, das Beste für den Patienten rauszuholen.“
Trost in der Spiritualität
Finanzierungslücken und Fachkräftemangel erschweren die Arbeitsbedingungen auf der Palliativstation. Die onkologische Fachpflegerin Ina Strehl ist froh, dass sich ihre Abteilung eine spezialisierte palliative Fachkraft leisten kann: „Katharina ist sehr teamfähig und empathisch. Sie geht gut und mit Herzblut auf kranke Menschen ein.“ Auch Ina Strehl hat sich bewusst für die Arbeit mit krebskranken Menschen entschieden. „In der Onkologie hat man den ganzen Menschen mit all seinen Problemen vor sich. Unsere Patienten kommen immer wieder zur Therapie oder zur Symptombegleitung. Da werden wir zu einem Teil ihres Lebens.“
Viele Kranke finden Trost in einem spirituellen Gefühl der Verbundenheit mit etwas Größerem. Das kann die Natur sein, eine Gemeinschaft, Kunst, Musik oder auch Erinnerungen an besondere Momente. Die Internistin Marianne Kloke ist überzeugt, dass Pflegende einen wertvollen Beitrag zur Behandlung leisten, wenn sie in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, der ambulanten Versorgung oder Tageseinrichtungen sensibel auf spirituelle Fragen eingehen. Die langjährige Leiterin des klinischen Ethikkomitees am Westdeutschen Tumorzentrum in Essen setzt sich dafür ein, dass die spirituelle Dimension mehr Beachtung findet. „Gerade Menschen, die krank werden, fragen sich: Warum? Was ist passiert? Welchen Sinn macht das? Wie kann es weitergehen? Was bleibt? Man kann sie ein Stück weit bei der Suche nach Antworten begleiten.“
Die Palliativbewegung verfolgt seit den 1960er-Jahren das Ziel, die Tabuisierung des Todes zu durchbrechen und die Verdrängung des Sterbens aus dem Bewusstsein der Lebenden zu verhindern. Sie hat viele Fortschritte in der palliativmedizinischen Ausbildung, Forschung und Qualitätsentwicklung angestoßen. Doch das Bewusstsein für den Bedarf an spiritueller Begleitung hat erst in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. „In Deutschland begann das vor ungefähr fünf Jahren“, erinnert sich Marianne Kloke. „Die Entwicklung wurde auch dadurch beschleunigt, dass es immer weniger konfessionelle Seelsorge gibt. Heute leben wir in einer multiethnischen, kulturell und religiös sehr diversen Gesellschaft. Zudem gibt es immer mehr Menschen, die nicht nur areligiös sind, sondern religionsfeindlich.“
Ganzheitliche Betreuung
Im Jahr 2002 hat die Weltgesundheitsorganisation den Begriff Spiritual Care in ihre Definition der Palliativversorgung aufgenommen. Sie betont, dass eine ganzheitliche Betreuung die Spiritualität des Menschen einbeziehen muss. Seither gilt Spiritual Care offiziell als unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung und Pflege Schwerkranker und Sterbender. Neben der physischen, psychischen und sozialen Dimension ist die spirituelle Begleitung heute die vierte Säule der Palliativmedizin. Trauer, Leid und Abschiednehmen sollen auch im Krankenhaus als wichtige Elemente des Lebens anerkannt werden. „Irgendwann kommen die Fragen: Wie geht es mit meiner Familie weiter? Wie stark leiden die Kinder unter der Krankheit? Das sind spirituelle Schmerzen, die man nicht unterschätzen darf. Es geht nicht darum, zu missionieren oder Lösungen anzubieten. Man kann nur begleiten“, sagt Marianne Kloke.
Im Büro der Palliativberaterin Katharina Alfs surrt ein Drucker. Sie ist fast fertig mit den Verwaltungsaufgaben. Es ist ihr wichtig, dass jeden Tag Zeit bleibt, um auf die Bedürfnisse der Patienten in den Krankenzimmern einzugehen. „Viele erleben es als Kränkung, dass das eigene Leben zu Ende geht. Die Erkrankung kränkt den Menschen.“
„Wenn wir uns zu den Patienten setzen, sprechen wir nicht nur über Symptomlast, sondern auch über wichtige biografische Ereignisse. Manchmal kommen alte Traumata hoch. Wir können den ganzen Menschen sehen, sein ganzes Leben, sein Wesen.“ Eine spirituelle Begleitung kann die Lebens- und Sterbequalität schwerstkranker Menschen erheblich verbessern. Dafür braucht es geschultes Personal, das versteht, wie unterschiedlich Menschen im Angesicht des Todes reagieren. „Normal ist nichts, es gibt keinen Standard“, sagt Katharina Alfs.
Im Krankenhaus werden ständig Entscheidungen getroffen, die Einfluss auf Leben und Tod haben. In der palliativen Tagesklinik der Kliniken Essen-Mitte ist dafür oft die Oberärztin der Onkologie, Almuth Brundert, zuständig. Auch sie hält es für wichtig, dass die Patienten spirituell begleitet werden: „Das gilt nicht nur für diejenigen Menschen, die in ihren Religionen aufgehoben sind, im Christentum, im Islam oder in anderen Glaubensrichtungen.“
Die erfahrene Hämatologin wünscht sich, dass bald jede onkologische Abteilung in Deutschland eine integrierte Palliativmedizin hat. „Damit Sterbende von der ersten Tumordiagnose bis zum Ende angemessen betreut werden.“ So wie in Essen-Mitte mit dem Palliativteam: Katharina Alfs koordiniert den täglichen Ablauf auf der Station. Außerdem arbeitet der evangelische Seelsorger und Pfarrer Uwe Matysik mit.
Die Frage nach dem Warum
Er betreut alle Stationen im Krankenhaus, insbesondere die Onkologie. Seit Jahren beobachtet er, wie die spirituelle Begleitung an Bedeutung gewinnt: „Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Seelsorge, sondern alle Mitarbeitenden.“ Im Laufe der Jahre hat Uwe Matysik viele Gespräche mit Sterbenden geführt. Er ist sich sicher, dass es einen Unterschied macht, ob ein Mensch existentielle Fragen allein mit sich selber ausmacht oder ob er ein Gegenüber hat. „Im Austausch kann der Patient seine Not loswerden, vielleicht auch verzweifelt herausschreien oder weinen. Im Miteinander ist es leichter, sich dem Unausweichlichen zu stellen und gleichzeitig das gelebte Leben zu würdigen und mit Freundlichkeit zu betrachten. So wird die Frage nach dem Warum erträglicher.
Jedes Jahr sterben in Deutschland rund eine Million Menschen, nahezu die Hälfte davon in einem Krankenhaus, viele von ihnen an Krebs. Für Matysik ergibt sich daraus die theologische Frage, ob sich Jesus krebskranken Menschen zugewandt hätte. „Das ist ja nicht selbstverständlich. Denn die meisten Menschen folgen eher dem Instinkt, einen Bogen um diese Krankheit zu machen. Jesus aber würde die Kranken wahrnehmen. Er würde sich ihre Lebensgeschichte liebevoll anhören. Und er hat der christlichen Gemeinde den Auftrag gegeben, sich um Kranke und Sterbende zu kümmern.“
In Deutschland werden Fragen zum Tod und zu dem, was danach kommen könnte, noch immer meist der konfessionsgebundenen Seelsorge zugeordnet. In den Niederlanden, der Schweiz und in Großbritannien arbeiten schon lange religionsunabhängige Professionelle, die sich akademisch auf die spirituelle Begleitung vorbereitet haben. An deutschen Universitäten sind solche Angebote noch neu. Im Wintersemester 2024 begann an der Universität Münster erstmals ein Masterstudiengang mit dem Titel „Spiritual Care“. Und an der Technischen Universität München gibt es einen Forschungsschwerpunkt „Spiritual Care“ mit verschiedenen Projekten und Veranstaltungen.
Gesetzlich verankern
Doch auch außerhalb der Universitäten gibt es zahlreiche Bestrebungen, Spiritual Care in das deutsche Gesundheitswesen zu integrieren. Im Salon der Zeche Zollverein in Essen sind Expertinnen und Experten aus Praxis, Politik und Wissenschaft zu einer Tagung mit dem Titel „Spiritual Care – heute“ zusammengekommen. Pfarrer Uwe Matysik ist auch dabei. Er erläutert das Anliegen der Konferenz: „Das Thema soll auch auf politischer Ebene gestärkt werden, um die spirituelle Begleitung gesetzlich zu verankern. Da gibt es noch Nachholbedarf.“ Eine der Vortragenden ist Astrid Giebel, evangelische Theologin im Vorstandsbüro der Diakonie Deutschland. Vor ihrem Studium der Diakoniewissenschaften absolvierte sie eine Ausbildung als Krankenschwester. Nicht zuletzt auf Grund ihrer ernüchternden Erfahrungen während der Arbeit im Krankenhaus ist es ihr wichtig, dass würdevolles Sterben ermöglicht wird. „Zu meiner Zeit wurde noch im Badezimmer gestorben. Die Schwesternschülerin wurde daneben gesetzt und niemand bemühte sich um würdiges Sterben“, sagt die Theologin.
Einen wichtigen Impuls erhielt die deutsche Palliativbewegung im Jahr 1972 durch die Veröffentlichung des Buches Interviews mit Sterbenden. Darin entwarf die Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross ein Modell mit fünf Phasen: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Ihre Beschreibung des Erlebens und Verhaltens von Sterbenden hatte großen Einfluss auf die Palliativpflege. Dennoch dauerte es bis in den Dezember 2015, bevor ein Hospiz- und Palliativgesetz in Kraft trat, das die Versorgung Sterbender regelt. Astrid Giebel vermutet: „Mit Spiritual Care werden wir wohl einen ähnlich langen Zeitraum brauchen, bis das Bewusstsein für die Notwendigkeit wirklich vorhanden ist.“
Im Vorstand der Diakonie Deutschland ist Astrid Giebel zuständig für die theologische Grundsatzarbeit in den sozialpolitischen Handlungsfeldern. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt sie. „Für die meisten therapeutischen Teams ist der seelische Schmerz noch kein Thema. In der Anamnese wird er nicht erfasst. Wenn die Tränen rollen, wird das nicht notiert.“ Die Dimension des Spirituellen sei im Krankenhaus ständig präsent, werde aber fachlich nur selten wahrgenommen: „Die Seele Sterbender hat Schmerzen angesichts ihrer Endlichkeit, nicht nur ab und zu, sondern täglich. Darauf reagiert die Gesundheitsversorgung mit Sprachlosigkeit.“
Andreas Boueke
Andreas Boueke ist Journalist. Er lebt in Bielefeld.