„Geburt eines neuen Syriens“

Für die christliche Minderheit in Syrien scheint sich ein gewisses Zeitfenster geöffnet zu haben. Und inmitten der vielen widersprüchlichen Entwicklungen brauchen alle internationale Unterstützung, die bereit sind, sich auf einen „zivilen Staat“ einzulassen. Das meint Uwe Gräbe, Nahostreferent der Evangelischen Mission in Solidarität.
Das Staunen des jungen Pfarrers aus Aleppo war noch Stunden später in seiner Textnachricht erkennbar: „Die Situation ist völlig unklar. Auf der syrischen Seite der Grenze waren keine Wachtposten. Niemand. Technisch gesprochen bin ich in den Libanon eingereist, ohne je aus Syrien ausgereist zu sein.“ Um Weihnachten herum war er gekommen, um in der libanesischen Hauptstadt Beirut eine kleinere Geldspende abzuholen, die unser Werk für seine Gemeinde dorthin überwiesen hatte. Und ein syrischer Grenzübergang ohne Kontroll- und Sicherheitspersonal – das war wohl eine völlig neue Erfahrung für ihn.
So verwirrend wie die Situation an der Grenze, so ist sie wohl generell für viele gesellschaftliche Gruppen – insbesondere auch für Christinnen und Christen – nach dem Kollaps des Assad-Regimes am 8. Dezember in Syrien. Seit die Rebellen unter Führung der „Organisation zur Befreiung Syriens“ (Hayat Tahrir ash-Sham, kurz: HTS) die Macht in Damaskus übernommen haben, wirken alle Prognosen für die Zukunft in Syrien ein wenig wie ein Lesen im Kaffeesatz: Die einen verweisen beunruhigt auf Nachrichten über die Schändung eines Heiligenschreins hier oder die Zerstörung eines Weihnachtsbaumes dort; mit Sorge nehmen sie einschüchternde Auftritte bärtiger Milizionäre, die Neubesetzung wichtiger Positionen im Staat oder Manipulationen an den schulischen Lehrplänen wahr. Kritisch sehen sie, wenn politische Entscheidungen neuerdings in der Moschee verkündet werden – statt im Parlament oder Regierungssitz.
Andere hingegen berichten von den vielen ermutigenden Gesprächen, welche die neuen Herrscher nun bereits an zahlreichen Orten mit Kirchenvertretern geführt haben – besonders nachdrücklich etwa am Silvestertag: allesamt offenbar mit dem Ziel, Vertrauen zu schaffen und die Kirchen darin zu bestärken, dass sie ihren Dienst fortführen können wie eh und je. Mit der Ungewissheit angesichts solch widersprüchlicher Entwicklungen stehen Christinnen und Christen nicht alleine da: Insbesondere kurdische Vertreter in der internationalen Diaspora warnen davor, welch verheerende Folgen ein islamistisches Regime in Damaskus sowie mögliche Abkommen dieses Regimes mit der Türkei für die kurdischen Gebiete Syriens haben könnten. Eines hat man in der Vergangenheit gelernt: Wo eine gesellschaftliche Gruppe bedrängt wird, da ist die nächste bedrängte Gruppe meistens nicht fern.
Auffällig ist bei alledem, wie schnell sich insbesondere die Kirchenleitungen zur Zusammenarbeit mit den neuen Herrschern bereit erklärt haben: Schon am 6. Dezember – zwei Tage vor der Flucht des Diktators aus Damaskus – ergreift Pfarrer Joseph Kassab, Oberhaupt des „Hohen Rates der Evangelischen Gemeinschaft in Syrien und dem Libanon“ das Wort an der „Near East School of Theology“ (NEST) in Beirut. In der Verwaltungsratssitzung dieses kleinen theologischen Seminars der „mainline-protestantischen“ (presbyterianischen, armenisch-evangelischen, lutherischen und anglikanischen) Kirchen im Libanon, Syrien, Jordanien, Palästina und Israel plädiert er nachdrücklich dafür, die sehr positiven Äußerungen und Zusagen des Rebellenführers Ahmed al-Scharaa (bis dahin eher bekannt unter dem Kampfnamen Abu Muhammad al-Dscholani) zunächst einmal ernst zu nehmen.
Am 16. Dezember schließlich veröffentlicht Kassab eine Weihnachtsbotschaft, in der er seine Freude angesichts der Hoffnung auf die „Geburt eines neuen Syrien“ zum Ausdruck bringt und an die historische Rolle von Protestanten in der syrischen Unabhängigkeitsbewegung erinnert. Ungefähr zeitgleich rufen auch der rum-orthodoxe Patriarch Johannes X. von Antiochien, der syrisch-orthodoxe Patriarch Mor Ignatios Ephrem II. Karim und der melkitische (griechisch-katholische) Erzbischof Joseph I. Absi jeweils unabhängig voneinander zum Engagement für ein „neues Syrien“ auf; als Basis wird beispielsweise die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates genannt. Die christliche Nachrichtenagentur SiriacPress verweist gar auf Aktivisten überwiegend christlicher Parteien, die in Städten wie Hassake und Qamishli im Nordosten Syriens auf die Straße gegangen seien, um das Ende des Assad-Regimes zu feiern. Und in der libanesischen Presse erklärt der maronitische Erzbischof von Damaskus, Monsignore Samir Nassar, zur Rolle der Kirchen unter dem Assad-Regime sehr selbstkritisch: „Als Christen haben wir uns nie geschämt. Aber wir waren nicht mutig genug, die Wahrheit zu sagen.“
In der weltweiten Ökumene mag man sich da ein wenig die Augen reiben: War man in den vergangenen Jahren nicht immer wieder irritiert gewesen angesichts des engen Verhältnisses vieler syrischer Kirchenoberhäupter zum Assad-Regime? Und hatten nicht auch zahlreiche ökumenische Partner das Narrativ übernommen, dass dies wohl die einzige „Lebensversicherung“ für die Kirchen in Syrien war? Wer bei internationalen ökumenischen Begegnungen nachfragte, ob die syrischen Christinnen und Christen denn keine Angst hätten, was auch mit ihnen geschehen könnte, wenn dieses Regime einmal stürzen sollte – der konnte sich durchaus unbeliebt machen. In der Region weiß man um solche Irritationen. „Schöne Worte“ seien die aktuellen Stellungnahmen seiner syrischen Amtsgeschwister, erklärt ein langgedienter, leitender Pfarrer im Libanon. Ein weiterer Versuch zu überleben – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn wer wollte denn den Überlebenswillen seiner Geschwister geringschätzen? Viele von denen, die sich so äußern, hätten Assad doch tatsächlich von Herzen verehrt – aber durchaus nicht alle.
Wo es keine schützende Macht gibt, kommen Christen allzu leicht unter die Räder. Für die Stadt Hassake im Nordosten Syriens gilt das etwa. Die mit den USA verbündeten kurdischen Streitkräfte und das Militär des Assad-Regimes hatten hier einen fragilen modus vivendi miteinander gefunden, zugleich interveniert die Türkei immer wieder militärisch, die riesigen Gefangenenlager mit IS-Angehörigen bilden eine tickende Zeitbombe, und allzu oft machen die kurdischen Behörden den Christen das Leben schwer – etwa, was die Rolle des Kurdischen oder der traditionellen Kirchensprachen an den christlichen Schulen betrifft. Jetzt meldet sich eine junge Pfarrerin – erst seit 2017 gibt es in Syrien die Frauenordination – von dort per Textnachricht: Die Assad-Soldaten seien zwar verschwunden, aber die Lage noch undurchschaubarer als zuvor. Das Öffnen der kirchlichen Schule ist mit einem hohen Risiko verbunden. „Betet für uns“, schreibt die junge Frau.
Stets abhängig
Vollzieht sich jetzt womöglich abermals nichts als ein weiterer „Wechsel der Schutzmacht“? Das Osmanische Reich war es gewesen, welches den anerkannten, nichtmuslimischen Gemeinschaften („Millets“) in seinem Herrschaftsbereich einst einen Platz als geschützte Minderheiten zugewiesen hatte: niemals gleichberechtigt, stets abhängig vom Wohlwollen der Mehrheit – aber zumindest mit einem geregelten Status versehen. Als sich dann im kolonialen Zeitalter Russland zur Schutzmacht der Orthodoxen in der Levante erklärte, und Frankreich zur Schutzmacht der Katholiken, da bedeutete dies folglich keine prinzipiell neue Rollenzuweisung für die Christen. Moderne Diktatoren in Nahost haben das System schließlich perfektioniert. Insbesondere Baschar al-Assad spielte meisterhaft auf der Klaviatur des Gegeneinander-Ausspielens der unterschiedlichen Minderheiten in seinem Reich, um sich dann als einzig möglicher Beschützer dieser Gemeinschaften zu inszenieren. Könnte dies nun womöglich auch das Interesse der neuen Herrscher sein?
Auch wenn sich manche Christen in Nahost durchaus immer wieder mit solchen Schutzverhältnissen arrangiert haben, so ist doch das ceterum censeo so vieler nahöstlicher Referentinnen und Referenten bei internationalen Begegnungen seit jeher ein anderes: „Wir sind keine Minderheit!“ Dies mag sich für europäische Partner verwunderlich anhören – denn was anders als eine quantitative „Minderheit“ sind die einigen Hunderttausend Christinnen und Christen in Syrien, die von den einst mehr als anderthalb Millionen dort noch übriggeblieben sind? Für christliche Repräsentanten ist eine „Minderheit“ (beziehungsweise arabisch aqaliyeh) jedoch niemals nur ein quantitativer Begriff, sondern vielmehr qualitative Bezeichnung einer Gruppe von Schutzbefohlenen, die zwar über einen anerkannten Status, keinesfalls jedoch über gleiche Rechte wie die Mehrheit verfügen.
Daher muss man die positiven Signale der syrischen Kirchenleitungen an die neuen Herrscher genau lesen: Stets wird das „neue Syrien“, an dessen Aufbau sie sich beteiligen möchten, als „ziviler Staat“ mit gleichen Rechten für alle „Komponenten“ beziehungsweise „integralen Bestandteile“ (jedoch niemals: „Minderheiten“) bezeichnet. Monsignore Samir Nassar bringt es am Ende seiner Ausführungen auf den Punkt: „Wir dürfen nicht als Gemeinschaft denken, sondern als Bürgerinnen und Bürger.“
Solche Stellungnahmen wollen heute im Kontext eines wegweisenden Papieres gelesen werden, welches unter dem Titel „Wir wählen das Leben in Fülle“ (auch in deutscher Übersetzung auf www.wechooseabundantlife.com ) im Oktober 2021 von einer konfessionell gemischten Gruppe christlicher Theologinnen und Theologen aus dem Nahen Osten präsentiert wurde. Dieses Papier knüpft ausdrücklich an jene Modelle in der Geschichte an, die nicht in Schutzverhältnissen denken – konkret an die Nahda beziehungsweise arabische Aufklärung in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert, sowie an den Arabischen Frühling von 2011. Auf dieser Linie lauten die Kernbegriffe in dem Dokument „Synodalität“ und „Bürgerschaft“ (Citizenship). Während das erste eine innerchristliche (durchaus ökumenisch gedachte) Kategorie der Entscheidungsfindung darstellt, tritt das zweite explizit in Konkurrenz zu traditionellen Schutzverhältnissen: Nicht als Angehörigen einer anerkannten Gemeinschaft kommen Menschen bestimmte Rechte zu, sondern explizit als Bürgerinnen und Bürgern ihres Staates.
Wenn syrische Kirchenleitungen jetzt daran anknüpfen, dann gehen sie damit ein beträchtliches Risiko ein: Ein Kirchenoberhaupt hat nach traditionellem Verständnis einerseits die absolute Loyalität seiner Gemeinschaft zum Staatsoberhaupt zu garantieren, verfügt dabei aber andererseits auch über eine enorme Autonomie nach innen. Diese drückt sich etwa dadurch aus, dass das gesamte Personenstandsrecht (und damit ein hohes Maß an Kontrolle über die Angehörigen der jeweiligen Gemeinschaft) in den Händen der Gerichtshöfe der anerkannten Gemeinschaften liegt. Kirchliche Richter urteilen dort nach kirchlichem Recht ebenso wie muslimische Richter nach Scharia-Recht (übrigens selbst in einem westlich orientierten Staat wie Israel!). Wie viele solcher Privilegien in Syrien als einem „zivilen Staat“ (dessen staatliche Gesetzgebung dann freilich nicht allein auf der Scharia beruhen darf) aufgegeben werden müssten, ist noch ganz und gar unklar.
Immerhin scheint jetzt ein gewisses Zeitfenster, ein window of opportunity, geöffnet zu sein – so, wie der Grenzübergang dem jungen syrischen Pfarrerskollegen offenstand. Inmitten aller noch so widersprüchlichen Entwicklungen brauchen diejenigen jetzt alle internationale Unterstützung, die auch nur annähernd bereit sind, sich auf einen „zivilen Staat“ einzulassen: durch massive humanitäre Hilfe und die Aufhebung internationaler Sanktionen, um dem geschundenen Land wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen; ebenso durch den Ausbau diplomatischer und zwischenkirchlicher Beziehungen. Wenig hilfreich ist dabei, wenn etwa die Bundesregierung in ihrem „Acht-Punkte-Plan“ vom 11. Dezember für Syrien fordert, „dass Minderheiten geschützt“ werden sollen. Hier hätte sich ein genaueres Hinhören gelohnt, was etwa Islamisten unter „Minderheitenschutz“ verstehen. Eine Unterstützung des Modells der „Bürgerschaft“ hingegen würde unter anderem die Verteidigung von Frauenrechten und auch – im Sinne einer Subsidiarität – die Arbeit der christlichen Schulen stärken, die traditionell zum Kern des kirchlichen Engagements in Nahost gehören. Dass dies gelingt, ist alles andere als sicher. Es wäre jedoch insbesondere den syrischen Christinnen und Christen nur zu wünschen.
Uwe Gräbe
Pfarrer Dr. Uwe Gräbe ist Nahostreferent der Evangelischen Mission in Solidarität und Geschäftsführer des Evangelischen Verein für die Schneller-Schulen.