Weil ich in früheren Jahren in den Genuss gekommen bin, mich im Fundus mehrerer Pfarrersbibliotheken bedienen zu dürfen, haben sich in meinem Bücherregal zahlreiche Bücher über Albert Schweitzer eingefunden. In der ehemaligen DDR, in der die vormaligen Eigentümer der Bücher wirkten, wurden reichlich Schweitzer-Bücher verlegt. Der Leipziger Pfarrer Rudolf Grabs ist dabei besonders hervorgetreten. Da gibt es Biografien, Anthologien von Schweitzer-Texten, Gemeinde- und Erbauungsliteratur. Hinzu kommen kleine Heftchen und Bilderbücher.
Schweitzer dominiert die theologischen Altbestände in meinem Bücherregal, als ob es sich bei ihm um den bedeutsamsten Theologen des 20. Jahrhunderts handelt. Eine bemerkenswerte Spätfolge der Vereinnahmung, die das DDR-Regime dem Theologen, der längst als Arzt in Lambaréné wirkte und als Friedensnobelpreisträger weitere Prominenz erlangte, angedeihen ließ. Schweitzer-Bücher, darauf konnten sich DDR-Kulturpolitik, Kirchen und theologisches Verlagswesen gut einigen. Eine erstaunliche Parallele zum in diesem Jahr wegen des 500. Bauernkriegsjubiläums in den Fokus der Aufmerksamkeit rückenden Thomas Müntzer (s. Januar-Ausgabe der zeitzeichen).
Post-koloniale Kritik
Zum 150. Geburtstag Albert Schweitzers am 14. Januar 2025 fällt das Echo auf das Leben und Werk Schweitzers deutlich geringer aus. Auf Instagram begegneten mir ein paar gefällige Kacheln der evangelisch.de-Redaktion, die auf ihnen ausgewählte Sätze des Interviews mit Heinrich Bedford-Strohm anlässlich des Jubiläums anbot. Immerhin ein Prozent der evangelisch.de-Follower:innenschaft hinterließ einen Like beim Beitrag. Bedford-Strohm hielt am Dienstag dieser Woche den Festvortrag zum 150. Geburtstag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, dessen Manuskript hier zum Download steht.
Außerdem ist mir auf Bluesky noch die Kritik von Jürgen Zimmerer an Schweitzer untergekommen. Der Historiker und Afrikawissenschaftler ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg und bringt sich regelmäßig in (post-)koloniale Debatten ein. In einer kurzen Sendung des Kulturprogramms des Saarländischen Rundfunks hat Zimmerer seine Kritik, Schweitzer sei immer ein Befürworter des Kolonialismus geblieben, ein wenig ausführlicher ausgeführt. Der „Mythos Lambaréné“, von dem auch meine alten DDR-Bücher leben, gehöre „dekolonialisiert“, erklärt Zimmerer, der „Urwalddoktor“ sei „der Inbegriff des White Saviors“.
Die post-koloniale Kritik an Schweitzer ist keineswegs neu. Im evangelisch.de-Interview bekennt Heinrich Bedford-Strohm: „Was den Umgang mit dem Kolonialismus angeht, werden wir heute sicher neue, viel kritischere Antworten geben müssen. Aber mit seiner Arbeit in Lambaréné hat er schon damals gegen den von extremem Machtgefälle geprägten Eurozentrismus seiner Zeit bezeugt, dass jeder Mensch, egal wo er lebt, gleichermaßen zum Bilde Gottes geschaffen ist und ein Leben in Würde, inklusive einer angemessenen Gesundheitsversorgung, verdient.“
Ökologische Leidsensibilität
Zimmerer will Schweitzer auch keineswegs verdammen, sondern wünscht sich an dessen Beispiel eine vertiefte Befassung mit kolonialistischen Mustern, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen, und darüber hinaus explizit auch eine Auseinandersetzung mit dessen Pazifismus und Rüstungskritik. In seinem Berliner Festvortrag befasst sich Heinrich Bedford-Strohm, der Vorsitzender des Zentralausschusses (!) des Ökumenischen Rates der Kirchen ist, vor allem mit Schweitzers Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ und dem Zusammenhang zwischen Ästhetik und Ethik beim „großen Organisten“ und Bach-Connaisseur.
Kontext dafür ist beim ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden und bayerischen Altbischof, der auch zeitzeichen-Herausgeber ist, nicht allein „der Konflikt in Israel und Palästina“, sondern vor allem die Klimakrise: „Auch wenn Albert Schweitzer die ethischen Implikationen der notwendigen ökologischen Transformation unserer hoch komplexen globalisierten Wirtschaft noch nicht durchdenken konnte, so muss die ökologische Leidsensibilität, zu der er schon vor 100 Jahren aufgerufen hat, als wesentliche Grundlage für die Bewusstseinsveränderung gesehen werden, die für eine solche ökologische Transformation so dringend nötig ist.“
Ich bin mir sicher, dass zum Jubiläum irgendwer auch noch den Theologen Schweitzer, seinen Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung und vielleicht noch weitere Aspekte seiner Biografie und seines Schaffens hervorholen wird. „Nur wer Schweitzer als Theologen kennt, weiß um die tiefsten Energien dieses Lebens“, stellte Rudolf Grabs bereits 1958 fest. Vielleicht gibt es da draußen sogar jemanden, der oder die sich mit dem theologischen Verlagswesen in der DDR (noch) sehr gut auskennt und vom Schweitzer-Biografen Rudolf Grabs erzählen kann? Da mir die Schweitzer-Bücher, die zum Teil nicht für den Verkauf außerhalb der DDR bestimmt waren, auch in westdeutschen Bücherregalen begegnet sind, könnte man hier vermutlich auch ein Kapitel des deutsch-deutschen Wissenstransfers schreiben.
Historisierung und Kritik
Auch finde ich es erstaunlich, dass offenbar unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus in den Köpfen der deutschen Theologen eine vertiefte Befassung mit dem „guten Menschen“ von Lambaréné einsetzte. Mit gewaltigem zeitgeschichtlichen Abstand vermute ich darin etwas hemdsärmelig auch eine Geistesbewegung, die sich von eigener Schuld und Verstrickung abgekehrt hat.
In seiner Vorbemerkung zu „Albert Schweitzer: Denker aus Christentum“ von 1958 schreibt Grabs, man könne von Schweitzer „als einer religiös äußerst bemerkenswerten Gestalt von besonderem Typus“ sprechen. Bisschen deutscher Geniekult geht halt immer. Die „geistige Gestalt Schweitzers“, erklärt Grabs weiter, sei die eines „Tatmystikers“. Das erinnert mich nicht allein an den Moder mancher Traditionslinien des deutschen Idealismus, sondern auch an andere Theolog:innen des 20. und 21. Jahrhunderts, die von „Mystik und Widerstand“ (Dorothee Sölle) und auch im Kontext der Klimabewegung der vergangenen zehn Jahre immer wieder vom Wechselschritt von Spiritualität und Aktivismus, Aktion und Kontemplation geschrieben haben und sprechen.
Wie auch beim anderen, noch ein wenig prominenteren protestantischen Heiligen des 20. Jahrhunderts, Dietrich Bonhoeffer, gehört es sich heute wohl, dem Pathos von Jubiläen und Gedenktagen – die Ermordung Bonhoeffers jährt sich im April zum 80. Mal - auch eine gründliche Historisierung und Kritik beizugesellen. Auch Heinrich Bedford-Strohm gesteht angesichts der postmortalen Kritik an Schweitzer ein: „Man hat ihm mangelnde Unterstützung anti-kolonialistischer Befreiungskämpfe, unzureichende medizinische Professionalität, aber auch übermäßige Selbstinszenierung vorgeworfen. Und es wäre auch falsch, ihn heute im Sinne moralischer Heldenverehrung gegenüber solcher Kritik immun machen zu wollen.“
Die Frage der Hoffnung
Dann aber befasst sich Bedford-Strohm mit der Kritik des emphatischen Idealismus in der Ethik Schweitzers, wie sie vom slowenischen Philosophen Borut Ošlaj vorgetragen wurde. Fehlt Schweitzers Ethik der nötige Realitätssinn? In der Frage klingen die (kirchen-)politischen Debatten unserer Tage an, in denen Christ:innen und Kirchen gelegentlich „Gutmenschentum“ vorgeworfen wird. Bedford-Strohms Synthese lautet: „Idealismus ohne Analyse der strukturellen Ursachen von Unrecht ist zahnlos. Analyse von strukturellen Ursachen ohne Idealismus ist umgekehrt allerdings herzlos, trostlos und vermutlich mangels am Ziel orientierter Veränderungskraft letztlich auch wirkungslos.“ Mit Bonhoeffer bekennt er darum zum Schluss: „Es ist keine Schande zu hoffen, grenzenlos zu hoffen.“
Es ist die Hoffnung, von der Bedford-Strohm meint, dass Christ:innen und Kirchen sie der Gesellschaft schuldig sind, gerade in Zeiten, die doch recht trostlos und hoffnungsleer erscheinen. „Zuversicht“ wird in Deutschland auf Wahlplakaten derzeit geradezu eingefordert. Die Kraft dazu bringen momentan nicht allzu viele Menschen auf, auch weil unter dem Ansturm der Hiobsbotschaften und schlechten Nachrichten unbestreitbare Fortschritte auf dem Weg zu mehr Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung untergehen zu drohen.
Nicht verfügbar
Vielleicht ist es darum doch nicht ganz falsch, von Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer und den anderen Christenmenschen zu erzählen, die in noch viel hoffnungsloserer Zeit gelebt haben? Sollte ich die Schweitzer-Briefe und Bilderbände doch aus dem Bücherregal hervorholen? „Es sind gerade die vielen biblischen Hoffnungsgeschichten vom göttlichen Wirken in scheinbar ausweglosen Situationen“, schreibt Stephan Kosch in der aktuellen Ausgabe der zeitzeichen, „die für dringend benötigte Zuversicht sorgen“.
Hoffnungsgeschichten zu erzählen ist dringend geboten. Aber allein durch die Geschichten und auch durch das feierliche Zelebrieren von Jubiläen stellen sich Hoffnung und Zuversicht nicht ein. Womöglich müssen wir neu mit einer Hoffnung rechnen lernen, die sich vorübergehend in der Form von Abwesenheit darstellt, die nicht verfügbar ist und bei allem guten Willen nicht erzeugt werden kann. „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“, formuliert der Hebräerbrief hübsch widersprüchlich und beschreibt den Urvater Abraham als ein Beispiel solchen Glaubens. Er zog aus „und wusste nicht, wo er hinkäme“.
Philipp Greifenstein
Philipp Greifenstein ist freier Journalist sowie Gründer und Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“: https://eulemagazin.de