Wir brauchen mehr Religionsunterricht

Warum theologische Selbstaufklärung allen gut tut
Blick in die Fankurve des FC Schalke 04
Foto: Bredehorn Jens /pixelio.de
Blick in die Fankurve des FC Schalke 04

In einem aktuellen Gastkommentar in der taz rüttelt der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl am Religionsunterricht: Das Schulfach sollte gestrichen – und „religiöse Erziehung“ von den Kirchen übernommen werden. Der Jenaer Religionspädagoge Thomas Heller meint: Vielen Dank für die Überlegungen. Aber wir brauchen nicht weniger, sondern mehr religiöse Bildung.

Wenn der FC Bayern München in der Allianz Arena spielt, sind die Grenzen zwischen Himmel und Erde eingerissen und die Türen zur Ewigkeit weit geöffnet. Das lässt sich nur im Nominalstil beschreiben: 75.000 Menschen. Jubel. Fluch. Offensive. Schmerz. Alkohol. Verdammnis. Erlösung. Und mitten drin immer wieder die Lieder der Südkurve: „Heute, morgen und für alle Zeit, Du bist die Konstante, die auf ewig bleibt!“ Oder: „Ich gebe mein Herz für Dich. Für Bayern lebe ich. Ich lass Dich nie im Stich!“

Die Epiphanien der Allianz Arena stehen exemplarisch für den Sachverhalt, dass wir uns auch in einer zunehmend säkularen Welt nach Orientierung sehnen. Das Leben ist chaotisch und kompliziert: Da ist es hilfreich, wenn wir an etwas glauben. Das muss nicht ein Fußballverein sein – andere Menschen richten ihr Leben an Kinofilmen aus. Für viele ist der Erwerb von Dingen wichtig, manche verabsolutieren das Auto, nicht selten speziell das dieselbetriebene. Auch religiöser Fundamentalismus, Extremismus und Verschwörungstheorien können Halt im Leben geben. Die Weihnachtswerbespots des Lebensmitteleinzelhandels verkaufen uns die Familie als „Ort der Erlösung“. Und wichtig vor allem: „Leg dich nicht mit Swifties an!“ Da kann eine freundliche Doppelrezension, die einzig den Fehler macht, Swift zwar als „Pop-Adel“ zu bezeichnen, Beyoncé aber noch ein klein wenig besser zu finden, dazu führen, dass der Posteingang mit Morddrohungen überflutet wird.

Der Fan und das Heilige

Die Theologie hat hierfür die passende Deutung parat: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“ (Martin Luther). Auch unsere Sprache hat diese Nähe der eben genannten Phänomene mit Religion längst antizipiert: Wir sprechen (neutral bis affirmativ) vom Einkaufstempel und vom Starkult sowie (ironisch) von Björn Höcke als Heiland. Um das Fußballspiel zwischen Schweden und Deutschland am 23. Juni 2018 zu beschreiben, nutzen die Tagesthemen mehrfach den Erlösungsbegriff – und immer wieder sprechen die interviewten Fans vom „Glauben an den Sieg“. Apropos: Fan kommt vom lateinischen Fanum (Tempel, Heiligtum). Ein Fan ist also jemand, der in den Bereich des Heiligen entrückt ist.

Nun ließe sich fragen: So what? Sollen alle nach ihrer Fasson selig werden. Hauptsache, mein Rasen ist grün. Das passt dazu, dass wir geneigt sind, so ziemlich alles zu tolerieren, was nicht ungefragt unsere Haut durchdringt. Dazu sage ich: Nein, der Planet ist zu heiß und die Extremist:innen sind zu viele, als dass wir zu allem „Ja und Amen“ sagen können. Wenn aktuell Hollywood brennt und knapp 60.000 Bäume gepflanzt werden müssen, um den CO2-Fußabdruck eines einziges Bundesliga-Spieltages zu kompensieren, dann gehen die Orte, an die Menschen ihr Herz hängen, uns alle an.

Heilige Kühe überall

In welchem Schulfach diskutieren wir das? Die Antwort ist klar: im Religionsunterricht. Die Religionspädagogik hat hierzu bereits vor Jahrzehnten die passenden Konzepte entwickelt. In unserem Fach bezeichnen wir sie als kulturhermeneutisch, medienweltorientiert oder ideologiekritisch. In Schulbücher, in Curricula und in das Lehramtsstudium hat das vielfältig Eingang gefunden. Insofern schmerzt es, wenn Stefan Kühl in einem aktuellen taz-Beitrag den Religionsunterricht als „Deutschlands heilige Kuh“ bezeichnet. Denn das Gegenteil ist der Fall: Heilige Kühe stehen bei uns überall herum (Fußball, Dieselautos, etc.). Der Religionsunterricht kann helfen, sie zu erkennen. Er kann, das ist zumindest der Plan, Schüler:innen bei einer theologischen Selbstaufklärung unterstützen. Woran hänge ich eigentlich mein Herz? Und wie ist das zu beurteilen? Das sind Fragen, die für alle Menschen wichtig sind, unabhängig von ihrer Konfessions-/Religionszugehörigkeit und auch quer durch alle Lebensalter. Indem wir sie bedenken, wird die eine oder andere heilige Kuh freundlich zur Seite geschoben und der Weg wird frei in eine Zukunft, die etwas grüner, etwas weniger geldbestimmt und etwas demokratischer ist. Der Religionsunterricht ist insofern wichtig für alle und tut allen gut.

Grundsätzlich kann dies auch in anderen Schulfächern, zumindest ähnlich, geleistet werden: im Politik-, Deutsch- oder Geschichtsunterricht. Der Religionsunterricht ist hier jedoch besonders gefordert und geeignet. Denn er kann einerseits aus Traditionen schöpfen, die vergleichbare Problemstellungen schon vor über 2.000 Jahren bedacht haben. Besonders erwähnenswert sind hier beispielsweise die biblischen Ausführungen nun nicht zu heiligen Kühen, sondern zum Goldenen Kalb (Ex 32,1–29). Und zum Zweiten darf er sich über seine Perspektive im Klaren sein: Er wird gemäß Artikel 7.3 des Grundgesetzes „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt.

Wehrhafte Pädagogik

Denn von welcher Basis aus können all die heiligen Kühe erkannt und beurteilt werden? Das ist in vielen Schulfächern gar nicht mal so klar und kann dazu führen, dass die impliziten Prägungen einzelner Lehrkräfte zum Tragen kommen. Ich selbst habe (bereits lange nach 1989/90) einen Geschichtsunterricht erlebt, in dem Spartacus und Thomas Müntzer als Vordenker und Urahnen der DDR verehrt wurden – ohne dass mir je bewusst wurde, dass diese Deutungen vielleicht aus einer spezifischen politischen Perspektive heraus resultierten, die mir damit zugleich schmackhaft gemacht werden sollte. 

Im Religionsunterricht ist die Perspektive hingegen klar: Zum Beispiel evangelische und katholische Religionslehrer:innen sind nicht nur dem Grundgesetz verpflichtet, sondern auch den Forderungen der Bibel u.a. nach Nächsten- und gar Feindesliebe. Sie sollen beitragen, die Schöpfung zu bewahren, und wahrhaftig sein. Deswegen sind sie u.a. im Rahmen einer wehrhaften Pädagogik im Umgang mit der AfD auch besonders gefordert. Diese Perspektivität muss nicht allen gefallen, aber sie ist wenigstens explizit: Sie ist bekannt und daran können sich Kritiker:innen abarbeiten. Übrigens nicht zuletzt auch im Religionsunterricht selbst: Religionskritik, u.a. mit Blick auf die Theorien von Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Sigmund Freud und Tilman Moser, ist ein Standardthema dieses Unterrichts. Oft berichten Schüler:innen, dass sie nirgendwo so kritisch über Religion sprechen wie im Religionsunterricht.

Religiöse Bildung und Religionsfreiheit

Die entsprechenden Lehrpläne sind von den Kirchen genehmigt. Insofern überrascht es dann doch, wenn Stefan Kühl ausführt, dass es den Kirchen maßgeblich darum gehe, „dass durch die Zwangsbeschulung mit religiösen Inhalten doch vielleicht der eine oder andere Gläubige hängen bleibt.“ Auf EKD-Ebene wurde solchen Intentionen spätestens 1958 im berühmten Schulwort von Weißensee eine Absage erteilt: Das kirchliche Engagement zielt auf einen „freien Dienst an einer freien Schule“ ab. Insofern ist auch der von Kühl erweckte Eindruck, dass der Religionsunterricht eine unzulässige Vermischung von Staat und Kirche sei, verkürzt. Hier gilt vielmehr: Dieser Unterricht ist ein herausragender Ausdruck der freiheitlich-demokratischen DNA unseres Landes. Denn wir leben in einem Staat, welcher, zumindest laut Grundgesetz, Vielfalt achtet und fördert. Unsere religiöse und weltanschauliche Pluralität muss sich nicht im Hinterhof, in Wohnzimmern und im Internet verstecken, sondern sie hat Platz auch im öffentlichen Raum. Lehrerinnen können selbstverständlich Kopftuch tragen. Selbstverständlich dürfen Moscheen, Synagogen und Kirchen gebaut und erhalten, religiöse Feiertage öffentlich gefeiert werden. Und selbstverständlich dürfen u.a. jüdische, alevitische und syrisch-orthodoxe, evangelische und katholische Eltern und Erziehungsverantwortliche entscheiden, ob ihre Kinder in ihrer Konfession/Religion gebildet werden – und ab 14 Jahren können es dann die Heranwachsenden selbst. Die Abmeldung ist dabei immer eine Option, entsprechende Alternativfächer stehen bereit.

Zentral ist hier weniger der von Kühl prominent zitierte Artikel 7.3 des Grundgesetzes, sondern vielmehr Artikel 4 mit der dort zugesicherten positiven und negativen Religionsfreiheit. Entsprechend gibt es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen auch sieben unterschiedliche Arten von Religionsunterricht, ergänzt durch das Alternativfach „(Praktische) Philosophie“. Denn der Religionsunterricht ist keineswegs nur eine Option für die beiden großen Kirchen, sondern steht allen Religionsgemeinschaften offen. Und nicht nur diese, sondern auch Weltanschauungsgemeinschaften können analoge Möglichkeiten nutzen. So wird bereits seit 1984 in Berlin das Schulfach „Humanistische Lebenskunde“ angeboten (seit 2007 auch in Brandenburg). Die Grundsätze werden hier durch den Humanistischen Verband Deutschlands bestimmt. Konzeptionell ist dies vollumfänglich zu begrüßen, u.a. weil von dieser Zusammenarbeit mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auch der Staat etwas hat. Die Begründung hierfür können die meisten Politik-, Jura- und Theologiestudierenden auswendig: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde).

Zurück zum Fußball

Meine Position ist also: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr religiöse (und auch weltanschauliche) Bildung. Angesichts der zahlreichen Phänomene, an die wir leichtfertig unser Herz verschenken, sollte eine solche Bildung zugänglich für alle sein. Der Forderung Stefan Kühls, den Religionsunterricht aus den Schulen zu verbannen, kann ich so kaum zustimmen. Gern würde ich darüber noch mehr schreiben, auch über weitere religionsdidaktische Ansätze. Ich muss jetzt aber meinen Schal und mein Trikot suchen. Denn schon bald spielt der FC Carl Zeiss Jena wieder. Oh, ich freue mich schon so. Bin geradezu elektrisiert. „Blau, Gold und Weiß! Diese Farben ich immer preis! Ob der hellste Sonnenschein lacht dem ersten Sportverein, ob ein Wetter ihn umdräu, diesen Farben bleib ich treu!“

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