Geschotterter Parkplatz
Unser Kolumnist Christoph Markschies konnte kürzlich ein Rätsel in seiner Familiengeschichte entwirren – zumindest ein stückweit. Dieses Erlebnis und Gedanken von Hannah Arendt bringen ihn dazu, weiterhin, wo möglich nach Tatsachen zu suchen und der angeblichen „Krise der Faktizität“ entgegenzuwirken.
Die Frage ist so unschuldig, so banal, dass ich mich wirklich nicht erinnere, wann ich sie erstmals meinen Vater gestellt habe. Aber an die Antwort erinnere ich mich. Die war nämlich gar nicht banal. Ich fragte also irgendwann meinen Vater: „Sag mal, wie viele Brüder hatte eigentlich Dein Vater?“. Mir war nämlich aufgefallen, dass alle anderen Kinder in der Schule irgendwelche Onkel und Tanten hatten, ich aber väterlicherseits keine. Nun hätte ja die Antwort nahegelegen: „Keine. Mein Vater war Einzelkind, wie ich es bin“. Aber mein Vater antwortete mit einem grundgütigen Lächeln, dass ihn auch sonst charakterisierte: „Das weiß ich nicht. Aber ein Bruder war sehr nett, hieß Martin und war Bierfahrer“. Diese Antwort – und ich habe sie mehrfach identisch erhalten – verwunderte mich nun nicht wenig. „Du musst doch wissen, wie viele Onkel Du hast?“. Nein, mein Vater wusste nicht, wie viele Brüder sein Vater und wie viele Onkel er entsprechend hatte.
Noch rätselhafter wurde diese mehrfach gegebene Antwort, als einmal während eines Besuches des einstigen Leipziger Kindermädchens meines Vaters meine Mutter das klingelnde Telefon abnahm und nach kurzer Verständigung mit der Person, die anrief, in den Raum rief: „Lothar (so hieß mein Vater), da ist eine Person am Telefon, die behauptet, Deine Cousine zu sein“. In diesem Augenblick warf das einstige Kindermädchen, die den schönen ostpreußisch-litauischen Namen Marthchen Taszis (gesprochen: „Taschies“, 1904-2003) trug, bestimmt vom Sofa her ein: „Leg schnell auf, bestimmt eine Betrügerin“. Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter am Telefon sagte, denn der Einwurf dürfte am anderen Ende der Leitung zu hören gewesen sein (so wie es zu hören war, wenn mein Vater aus dem Arbeitszimmer rief: „Sag, ich bin nicht da“, wenn jemand anrief, den er nicht sprechen wollte). Aber ich weiß noch, dass sie sehr schnell auflegte. Seitdem ging ich davon aus, dass irgendein Drama, dass man mir nicht erzählen wollte oder dass meinem Vater auch gar nicht mehr bekannt war, meinen Großvater von seinen Brüdern getrennt hatte, außer von Martin, dem netten Bierfahrer.
Diese Vermutung eines Dramas verstärkte sich, als mir mein Vater noch erzählte, dass für die Ausbildung seines Vaters, also meines Großvaters, kein Geld mehr da gewesen sei und er deswegen eine Ausbildung zum Diakon im Evangelischen Johannesstift Berlin-Spandau absolvieren musste, obwohl er gern Tischler geworden wäre – und zum Beleg zeigte man mir ein hübsches Holzkistchen mit Schnitzerei oben und an den Seiten, das noch heute neben meinem Schreibtisch steht. War mein Großvater seinen Brüdern etwa zeitlebens böse, weil kein Geld für seine Ausbildung mehr da war? Oder waren die ihm böse und zahlten nichts für die Ausbildung?
Ablenkung von der Aufregung
Jahrelang hatte ich schon vor, im Berliner Johannesstift, einer von Wichern begründeten großen diakonischen Einrichtung meiner Heimatstadt, einmal nach den Akten meines Großvaters zu fragen, war aber bis vor kurzem nie dazu gekommen. Es braucht eine Weile, bis man von Berlin-Mitte, wo ich lebe und arbeite, dorthin gefahren ist. Und Zeit ist eigentlich immer knapp. Seit einiger Zeit habe ich aber eine neue Sekretärin, die sich für Ahnenforschung interessiert, für mich einfach einen Termin im Archiv des Johannesstiftes verabredete und ihn in den übervollen Kalender schmuggelte, lustigerweise an einem Tag im November, an dem eine wichtige Entscheidung für mein weiteres Berufsleben anstand. Also fuhr ich, froh über ein wenig Ablenkung von meiner Aufregung, nach Berlin-Spandau, zumal das Datum einer der letzten Arbeitstage des bisherigen Archivleiters war und die weitere Benutzbarkeit der Materialien durchaus unklar ist.
Im Archiv des Evangelischen Johannesstifts bekam ich die Akte meines Großvaters, des Diakons Gustav Markschies, geboren am 18. November 1883 in Insterburg/Ostpreußen, heute Tschernjachowsk im Kaliningrader Oblast, gestorben am 28. September 1965 in Leipzig.
Diakon Gustav Markschies, der Großvater des Autors (1883–1965). Foto: privat
Die erste große Überraschung beim Studium der Unterlagen im Johannesstift war, dass der von meinem Vater als freundlich charakterisierte Martin Markschies mit dem Beruf Bierfahrer erst einmal der Vater meines Großvaters, sein Großvater und mein Urgroßvater war. Von Brüdern war leider in den Unterlagen nichts zu lesen, ob Martin einen Sohn Martin im selben Beruf hatte – ich weiß es immer noch nicht. Aber die dramatische Geschichte vom unausgebildeten Insterburger Jungen, der Diakon werden musste, stimmte leider auch nicht. Mein Großvater Gustav war, bevor er am 9. April 1910 in die Diakonenschule des Ev. Johannesstiftes eintrat, sehr wohl ausgebildet worden. 1899 bis 1903 machte er bei der Druckerei August Quandel in Insterburg eine Lehre als Schriftsetzer und war vor wie nach der Militärzeit beim 33. Füsilier-Regiment in Gumbinnen ab 1907 als Schriftsetzer-Gehilfe beim dort verlegten Ostpreussischen Tageblatt tätig.
In den Akten fand sich das Schulentlassungszeugnis der Insterburger Knaben-Volksschule von 1897, der „Confirmations-Schein“ der Ev.-luth. Kirche Insterburg aus demselben Jahre, vor allem aber ein handgeschriebener Lebenslauf für das Johannesstift. Darin war zu lesen, dass mein Urgroßvater Martin Markschies bereits starb, als mein Großvater fünf Jahre alt war. Weil sein Sohn Gustav Markschies in der Knabenschule so fleißig lernte, erhielt er als Prämie ein Buch „Kaiser Wilhelm der Große“, wie er im Lebenslauf stolz vermerkte. Für eine kurze Zeit 1908/1909 war der von seiner Firma sehr geschätzte Schriftsetzer im neu eröffnete Postscheckamt in Danzig tätig, das eine eigene Druckerei aufbaute, kehrte dann aber wieder nach Insterburg zurück. Im Insterburger und Danziger CVJM wurde er, so schließt sein Lebenslauf, angeregt, ins Evangelische Johannesstift einzutreten.
Gänzlich kurios
Dem Gesuch auf Aufnahme in die Diakonen-Ausbildung des Evangelische Johannesstifts lag auch das Arbeitszeugnis der Druckerei Quandel bei, die seine Stellung im Betrieb noch näher als die eines „ersten Typograph-Maschinensetzers“ beschrieb und ihm „soliden Lebenswandel, Fleiß, Ordentlichkeit und Pünktlichkeit“, „artiges und bescheidenes Wesen“ bescheinigte.
Gänzlich kurios übrigens fand ich übrigens, dass mindestens Teile der Berufsbiographie meines Großvaters meinem eigenen Vater durchaus noch bekannt gewesen sein dürften, denn in den Akten fand sich auch ein Brief, den er 1968 im Zusammenhang eines Rentenantrags bei der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte an das Johannesstift geschickt hatte, um einige ihm unbekannte Details aus den Akten seines Vaters zu erfragen, die für den lückenlosen Nachweis der Beschäftigungszeiten benötigt wurden. Hatte er das alles vergessen, als er mir die Geschichte vom armen, unausgebildeten jüngsten Kind einer unbekannten Zahl von Brüdern erzählte? Oder phantasierte er sich die Realität etwas romantischer zusammen, als sie in Wahrheit gewesen ist?
Was auch immer meinen Vater motivierte, so über seinen Vater zu seinem Sohn zu reden (ich verehre meinen Vater sehr, nur damit kein falscher Eindruck entsteht, und verdanke ihm viele der Fähigkeiten und Kenntnisse, die ich in meinem eigenen Beruf und Leben brauche) – einen Teil der wirklichen Lebensumstände von Gustav Markschies kann ich aufhellen und bin einigermaßen sicher, auch noch einmal zu erfahren, wie viele Brüder er hatte. So viele Markschies‘ gab es nicht in Insterburg vor 1914.
Es gibt neben unseren mehr oder weniger korrekten Erinnerungen, neben unseren Versuchen, uns die Wirklichkeit möglichst angenehm zu erzählen, glücklicherweise Tatsachenwahrheiten. Die jüdische Philosophin Hannah Arendt hat in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“, der 1964 im Zusammenhang des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem entstand, über Tatsachenwahrheiten nachgedacht. Eichmann log, wie wir heute wissen, dass sich die Balken bogen, aber ihm konnte damals mangels Beweismitteln nur ein Bruchteil dieser Lügen direkt nachgewiesen werden. Es fehlten dem Gericht die (durchaus existenten) Quellen für die Tatsachenwahrheiten.
Verdrehung der Tatsachenwahrheiten
Neben unbewussten Verdrehungen von Tatsachenwahrheiten durch Menschen, die sich nicht besser erinnern oder gern beim Erzählen etwas übertreiben (das möchte ich eigentlich gern auch für meinen Vater in Anspruch nehmen, wenn er von seinem Vater erzählte), behandelt Hannah Arendt die bewusste Verdrehung der Tatsachenwahrheiten durch die Politik. Es genügt, den Namen des Mannes zu nennen, der demnächst erneut als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wird, um zu realisieren, dass solche Verdrehungen auch heute Alltag im politischen Geschäft sind, obwohl sie es nicht sein sollten.
Leider gibt es philosophische Strömungen, die Tatsachenwahrheiten in Zweifel ziehen. Und leider gibt es soziologische Theorien, die prinzipiell das Insistieren auf Fakten problematisieren. Ich will nicht bestreiten, dass wir es mit einer „Krise der Faktizität“ zu tun haben, die der Bonner Wissenschaftsforscher David Kaldewey immer wieder beschreibt. Einflussreiche Akteure in Social Media versuchen, alternative „Fakten“ zu popularisieren und Tatsachenwahrheiten zu erschüttern.
Mein Großvater lebt schon so lange nicht mehr, dass ich kaum Erinnerungen an ihn habe. Wenn mir einstige Mitglieder seiner Jugendgruppen sagen, dass ich genauso predige und rede wie er, möchte ich eigentlich daran zweifeln. Weder klinge ich sonderlich ostpreußisch in meiner dialektalen Färbung noch bin ich von der erwecklichen Frömmigkeit des CVJM und des kaiserzeitlichen Evangelischen Johannesstiftes geprägt. Und auch mein Vater ist schon länger gestorben und hätte im kommenden Mai seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Insterburg ist heute eine russische Kleinstadt, an der Stelle, an der einst die lutherische Kirche stand, in der mein Großvater konfirmiert wurde, befindet sich heute ein geschotterter Parkplatz. Aber man kann eine ganze Menge Vergangenheit noch aus Quellen rekonstruieren und Tatsachenwahrheiten gegen die Erzählungen der eigenen Familie setzen. Man muss sich nur die Zeit nehmen, gründlich zu recherchieren.
Uns stehen Wahlen bevor. Wir müssen zwischen verschiedenen Narrativen darüber, was die Tatsachenwahrheiten sind, unterscheiden und uns entscheiden. Ich möchte dafür werben, sich diese Mühe zu machen. Man kann feststellen, was Tatsache ist. Das ist nicht eine naive Ansicht von armen Positivisten, sondern eine gute Möglichkeit, um sich in der Welt zu orientieren. Gelebte Aufklärung sozusagen. Ich werde mich im neuen Jahr nicht nur weiter mit der Familiengeschichte meines Großvaters beschäftigen. Ich werde auch weiter nach Tatsachenwahrheiten suchen. Hannah Arendt hat einfach Recht. Frohes Neues Jahr!
Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.