„10:30 Uhr: Abendessen für Schwerarbeiter“
Die Familie Bonhoeffer pflegte im Berlin der 1920er- und 1930-er Jahren ein großbürgerliches Familienleben in Berlin-Grunewald[1]. Die Theologin Jutta Koslowski beschäftigt sich schon lange mit den Details. Sie hat im Privatarchiv von Cornelie Großmann, der Tochter Klaus Bonhoeffers, diesen augenzwinkernden Text, eine Art Hausordnung für die Berliner Villa der Familie gefunden, der hier erstmals veröffentlicht wird.
Der untenstehende Text wurde um das Jahr 1925 von Klaus Bonhoeffer[1] geschrieben. Am 27. Februar 1925 hatte er seine Promotion als Dr. iur. an der Universität Heidelberg abgeschlossen und lebte nun wieder in seinem Elternhaus in Berlin, wo er sein Referendariat in der juristischen und handelspolitischen Abteilung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie absolvierte und zugleich am Berliner Kammergericht tätig war.
Der Anlass für die Entstehung dieses Textes ist nicht bekannt – jedenfalls versucht Klaus (der für seinen Witz und seinen Sinn für Situationskomik bekannt war),[2] auf humorvolle Art und Weise die Zustände in seinem Elternhaus zu beschreiben und dabei zugleich die juristische Fachsprache aufs Korn zu nehmen, mit der er sich in seiner täglichen Arbeit plagte.
Der Reiz dieses Textes, der bisher unveröffentlicht und der Bonhoeffer-Forschung nicht zugänglich war, liegt darin, dass hier auf ganz unkonventionelle Weise Einblick in das Familienleben der Bonhoeffers und ihrer erwachsenen Kinder gewährt wird: Nicht in der bekannten Weise eines seriösen Nachrufs, geprägt vom Wissen über den tragischen Fortgang der Familiengeschichte, sondern aus der damaligen Situation heraus und mit einer fast unbeabsichtigten Authentizität, wie sie die Satire ermöglicht.
Klaus Bonhoeffer als Jugendlicher, Foto ca. 1914.
Verfassung
Präambel: Die Verfassung ist eine patriarchalische.
Organisatorischer Aufbau.
Das Haus Bonhoeffer ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung.
Den Ehrenvorsitz hat Frau Präsident von Bonhoeffer.[3]
Inhaber ist Geheimrat Bonhoeffer.[4]
Alleinige Geschäftsführerin ist Frau Paula Bonhoeffer.
Die Letztere kann und soll in besonderen Fällen, wenn es nach ihrem Ermessen erforderlich ist, Sachverständige hinzuziehen, insbesondere
Frau Dr. Czeppan[5] als Wirtschaftsrat
Frau Dr. Leibholz[6] als Hauskunstwart
Frl. von Hase[7] als grossen Moralstab
Frau Geh[eim]rat Czerny[8] als Nachrichtendienst
Oberlehrer Dr. Czeppan[9] – in politischen Dingen
In medizinischen Fragen entscheidet die alleinige Geschäftsführerin selbst.[10]
Eine halbe Stimme erhalten die männlichen Abkömmlinge des Inhabers, sobald sie das 30. Lebensjahr überschritten haben.[11] Doch sollen auch die nichtstimmberechtigten Abkömmlinge bei wichtigen Angelegenheiten gehört werden.
Von den weiblichen Abkömmlingen wird erwartet, dass sie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres Gelegenheit gefunden haben, eine Zweigniederlassung zu gründen.[12]
Die Verfassung ist von Gottes Gnaden. Anträge auf Aenderungen werden als Blasphemie erachtet und verfolgt.[13]
Die Kinder von Klaus Bonhoeffer: Thomas, Cornelie und Walter (ca. 1939).
Verhalten im Hause selbst.
Allgemeines:
Nachtruhe ist unbedingt einzuhalten in der Zeit von 10 Uhr abends[14] bis 6 1/2 Uhr[15] morgens, zu welcher Stunde sich der Inhaber und die Geschäftsführerin erheben; insbesondere Lärmen, lautes Sprechen in den Kleiderablagen und in den Treppenfluren ist zu vermeiden.
Die Vorschrift findet keine Anwendung auf den Inhaber und die alleinige Geschäftsführerin selbst. Diese haben vielmehr das Recht, zu jeder Stunde, auch zur Nachtzeit, Mitgliedern des Hauses aus berechtigten Gründen in vernehmlicher Weise Vorhaltungen zu machen wegen Verletzung der Hausordnung.
Als Nachtzeit im Sinne dieser Bestimmung gilt auch die Nachmittagsstunde von 3–4 Uhr.
Das Verhalten der Mitglieder des Hauses regelt sich nach der Vorschrift der Reichsverfassung. Sie geniessen jedoch insofern eine Vorzugsstellung als sie 1.) berechtigt sind, nicht nur sämtliche Mitglieder des Hauses, sondern auch den Inhaber selbst in der Rede zu unterbrechen und so die Unterhaltung auf hauswirtschaftliche Fragen hinzulenken, 2.) als das Primat ihrer Arbeit vor der Arbeitsleistung sämtlicher übrigen Hausangehörigen als gegeben angesehen wird.
Zur Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen dem Hauptsitz in Grunewald und den Zweigniederlassungen in Stuttgart[16] und Hamburg[17] hat die alleinige Geschäftsführerin täglich mindestens drei Gespräche zu führen.[18] Auch übernimmt sie die schriftliche Korrespondenz. – Die Telephonanlage mit 6 Hausapparaten dient in erster Linie den Privatgesprächen der Töchter des Hauses mit ihren Freundinnen, gegebenenfalles mit ihren Verlobten. Soweit dieser Zweck hierdurch nicht beeinträchtigt wird, kann die Telephonanlage auch vom Inhaber benutzt werden. Eine Unterbrechung des genannten Privatgespräches durch Zwischenschaltung seitens des Inhabers gilt nicht als Beeinträchtigung.
Wegen ihrer fortschrittlichen Gesinnung liegt die Fürsorge und Förderung des Rundfunkdienstes allein der Ehrenvorsitzenden ob.[19] Der Inhaber und die alleinige Geschäftsführerin sollen gegenüber dem Rundfunk einstweilen eine abwartende Haltung einnehmen, bis es der gebildeten Gesellschaft möglich geworden ist, sich ein abschliessendes Urteil über diese Neuerung zu bilden.
Die Mahlzeiten.
Das gemeinsame Frühstück der Familie findet um 7 1/2 Uhr[20] statt. Um 11 Uhr findet beratende Mitgliederversammlung bei einer Tasse Kaffe in der Hauptniederlassung oder im Teeraum A. Wertheim[21] oder bei Miericke[22] statt.
Mittagessen nach 4 mal gongen pünktlich.
Um 4 Uhr wird ein leichter Tee gereicht. Gäste können eingeführt werden.[23]
6.20 Uhr 1. Abendessen für Konzertbesucher und dergleichen.
7.30 Uhr 2. Abendessen. Drei Gänge.
10.30 Uhr 3. Abendessen für Schwerarbeiter.
Stolperstein zum Gedenken an Klaus Bonhoeffer, der kurz vor Kriegsende von den Nazis ermordet wurde (Alte Allee 11 in 14005 Berlin).
[1] Von 1916 bis 1935 wohnten die Eltern von Klaus Bonhoeffer, Karl und Paula Bonhoeffer, in der Wangenheimstraße 14 in (Berlin-)Grunewald, 1935 übersiedelte das Ehepaar in die Marienburger Allee 43 nach Berlin-Charlottenburg. Dort befindet sich heute die Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus.
[1] Vgl. zu ihm die erste Monographie, die aktuell erschienen ist: Koslowski, Jutta: Wer war Klaus Bonhoeffer? Annäherungen an einen unbekannten Widerstandskämpfer, Gütersloh 2023 (siehe auch: https://zeitzeichen.net/node/11467 ).
[2] Seine jüngere Schwester Susanne charakterisiert Klaus Bonhoeffer so: »Seine Freude am guten Witz und Humor (auch am unfreiwilligen) war ebenso groß wie seine Abscheu vor faden Späßen. Einen unanständigen Witz hätte er bestimmt nie weitererzählt, wenn er nicht noch mehr komisch als unpassend war. Er konnte wunderbar fabulieren; bei den Erlebnissen, die er berichtete, geriet er oft so in Feuer, dass er zum Münchhausen wurde. […] Trotz einem gewissen Zug zur Melancholie, der sich besonders in seiner Schulzeit bemerkbar machte und erst in den Studenten- und Referendarsjahren durch eine größere Sicherheit abgelöst wurde, war er doch bei allem Unfug, den der Geschwisterkreis unternahm, der spiritus rector, und man konnte mit ihm Pferde stehlen.« In: Koslowski, Jutta (Hg.): Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer. Die Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffers jüngster Schwester Susanne Dreß. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Jutta Koslowski, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2018 [im Folgenden abgekürzt: ADL].
[3] Julie Bonhoeffer, die Großmutter, die seit 1924 bis zu ihrem Tod im Jahr 1936 bei Familie Bonhoeffer wohnte. r
[4] Karl Bonhoeffer.
[5] Maria Horn, das langjährige Kindermädchen der Familie Bonhoeffer, hat mit Ende Dreißig Dr. Richard Czeppan geheiratet, den früheren Lateinlehrer von Klaus und Dietrich. Diese Verbindung war von Klaus befördert worden (vgl. ADL, S. 19–22).
[6] Sabine, die dritte Bonhoeffer-Tochter, hat am 6. April 1926 den Jurist Dr. Gerhard Leibholz geheiratet. Sabine hatte besonders ausgeprägte künstlerische Neigungen und hat nach Abschluss der zehnten Klasse eine Kunstschule besucht.
[7] Hier ist vermutlich Elisabeth von Hase gemeint, die unverheiratete Schwester von Paula Bonhoeffer (vgl. ADL, S. 55 f. – wo ihre Charakterisierung allerdings nicht den Eindruck erweckt, als habe sie zum Moralisieren geneigt).
[8] Möglicherweise die Ehefrau von Adalbert Czerny, der ein Kollege von Karl Bonhoeffer war und an der Berliner Charité die Schule für Kinderheilkunde begründet hatte.
[9] Richard Czeppan legte im Allgemeinen ein ›oberlehrerhaftes‹ Verhalten an den Tag, war jedoch bei den Bonhoeffer-Söhnen sehr beliebt.
[10] Diese Bemerkung ist insofern erstaunlich, als Karl Bonhoeffer ein renommierter Arzt war, der sich stets um die gesundheitlichen Belange seiner Familie gekümmert hat.
[11] Hier wird der einzige Grundsatz der Präambel (»Die Verfassung ist eine patriarchalische«) nochmals humorvoll karikiert und bestätigt: Erst mit dreißig Jahren erhalten die männlichen Nachkommen ein halbes Stimmrecht – Frauen haben in der Familie Bonhoeffer überhaupt keine Entscheidungsbefugnis (ungeachtet der ›matriarchalischen‹ Stellung der »Frau Präsident« und »alleinige[n] Geschäftsführerin« Paula Bonhoeffer)!
[12] Dies wird von Susanne in ihren Lebenserinnerungen anders dargestellt. Über die Heirat ihrer Schwester Sabine schreibt sie: »Es wurde ihr abgeraten – wie uns allen immer abgeraten worden ist, nicht direkt, sondern im Allgemeinen und Speziellen, sich so früh zu binden. ›Vor dem 25. Geburtstag kommt eine Ehe überhaupt nicht infrage‹, sagte mein Vater immer wieder, aber erfolglos.« (ADL, S. 41).
[13] Paula Bonhoeffer hatte ein starkes Traditionsbewusstsein und legte Wert darauf, dass bestimmte Rituale (etwa in der Advents- und Weihnachtszeit oder bei Hochzeiten) mit quasi-liturgischer Feierlichkeit vollzogen und eingehalten wurden.
[14] Hierzu schreibt Susanne: »Die Eltern gingen Punkt zehn nach oben, und seitdem bin ich davon überzeugt, dass zehn Uhr der richtige Moment ist, um ins Bett zu gehen.« (ADL, S. 277).
[15] D.h. 6.30 Uhr.
[16] Ursula und Rüdiger Schleicher lebten damals in Stuttgart, wo 1925 ihr zweites Kind geboren wurde (bevor Rüdiger 1927 nach Berlin zurückkehrte, um als Regierungsrat im Reichsverkehrministerium zu arbeiten).
[17] Nachdem Christine Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi am 12. Februar 1925 geheiratet hatten, wohnten sie in Hamburg, wo Hans am Institut für auswärtige Politik tätig war.
[18] Eberhard Bethge charakterisiert Paula Bonhoeffer in seiner großen Dietrich Bonhoeffer-Biographie so: »Paula Bonhoeffer war eine sehr anregende und nie kapitulierende Mutter. Sie wußte jede Aufgabe interessant zu machen und über Hemmungen hinweg zu helfen. […] Das Menschliche interessierte sie mehr als das Naturwissenschaftliche. Auf den ausgedehnten Spaziergängen in Wölfelsgrund oder Friedrichsbrunn sah sie im Unterschied zu ihrem Mann nur wenig von Wald und Getier; sie wollte sich ununterbrochen unterhalten, wollte hören und raten. Dann nahm sie das Ausdenken der nächsten Schritte ganz gefangen. Dabei erstickte sie trotz ihrer Energie durchaus nicht, was sich bei anderen an Eigenem regte. Wenn sich irgendwo Initiative zeigte, stellte sie sich sofort darauf ein und förderte sie zu ihrer eigenen Gestalt.« (Bethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, Gütersloh 92005 [Erstveröffentlichung 1967], S. 39).
[19] Über Julie Bonhoeffer schreibt ihre Enkelin Susanne: »Sie freute sich sehr, wenn man auf ein Stündchen mit Stopfzeug oder Handarbeit zu ihr kam. Dann unterhielten wir uns über Thomas Mann oder Stefan Zweig, die ihre Nachtlektüre waren. Sie war literarisch immer auf dem Laufenden. Sie war auch die Erste in der Familie, die sich ein Radio anschaffte. […] Sie war so interessiert und aufnahmefähig, dass es leicht war, ihr eine Freude zu machen – von Bildbänden bis zum Patent-Teekocher, von modernster Literatur bis zum Heizkissen.« (ADL, S. 9 f.).
[20] D.h. um 7.30 Uhr.
[21] Das Kaufhaus von Abraham Wertheim in der Leipziger Straße in Berlin war 1897 eröffnet worden und war damals das größte Warenhaus Europas.
[22] Susanne berichtet darüber: »Viel Zeit brachte ich während meiner Brautzeit mit Einkaufen zu. Einkaufen war der Sport, den meine Mutter mit Vehemenz betrieb. Es gab Zeiten, wo sie sogar anfing, das Geld aufzuschreiben, das sie dabei ausgab. Und dann stand da immer ein Posten, der hieß ›Spesen‹! Das war das zweite Frühstück bei Miericke oder auf der Silberterrasse im KaDeWe oder im Erfrischungsraum Wertheim. Und das Taxi zurück – im warmen Sommer natürlich ein offenes. Die Spesen machten mir beim Einkaufen am meisten Spaß.« (ADL, S. 433 f.).
[23] Familie Bonhoeffer hatte einen großen Familien- und Freundeskreis und es waren stets viele Gäste im Haus. Nicht selten haben sich Verwandte sogar über Monate hinweg einquartiert (vgl. Bonhoeffer, Karl: Silvester-Tagebuch. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Jutta Koslowski, Gütersloh 2022, S. 109, S. 126 und S. 140). Im Jahr 1937 etwa vermerkt Karl Bonhoeffer in seinem Silvesterbuch: »Allein sind wir in diesem Jahr selten gewesen. Aus dem Gästebuch ergibt sich, dass wir an 263 Tagen Wohngäste hatten. Man kommt – und das ist hübsch – immer noch gerne zu uns. Allein zu Hause waren wir, wenn man die Ferien, in denen wir weg waren, abzieht, nur etwa 42 Tage.« (Bonhoeffer: Silvester-Tagebuch, S. 202). Vgl. dazu auch das Kapitel ›Verwandte und Gäste der Familie‹. In: ADL, S. 49–70). Susanne berichtet, dass bei Familie Bonhoeffer neue Freunde grundsätzlich willkommen waren, sie jedoch nach ihrem ersten Besuch einer kritischen Prüfung unterzogen wurden: »Wir hatten alle einen starken Drang nach Beziehungen, und das nicht nur in der Gruppe. Wir suchten Menschen, die auch in der Lage waren, uns zu Einzelkindern zu machen. Vielleicht war es das Bedürfnis nach dem einen wirklich guten Freund – und dabei nicht ›Geschwister‹, nicht ›so viele‹ zu sein, sondern etwas für sich allein zu haben und zu sein. Allerdings hatten es neue Freunde nicht leicht mit der starken Kritik der Geschwister, bis man sie durchgesetzt hatte und sie die Feuertaufe des ›auf die Schippe genommen Werdens‹ überstanden hatten. Diese heftige Kritik bewahrte uns manchmal auch vor Missgriffen und Enttäuschungen. Manchen brauchte man nur einmal am Familientisch oder im Gespräch mit meinem Vater zu sehen, um zu wissen, dass er besser nicht wiederkäme. War das aber nicht der Fall, dann wurde er in den Familienkreis aufgenommen: Er durfte nach kurzer Voranmeldung an jeder Mahlzeit teilnehmen und wurde Allgemeingut der Geschwister (ohne aber dadurch die spezielle Zweier-Beziehung zu stören).« (ADL, S. 284).
Jutta Koslowski
Dr. Jutta Koslowski ist Pfarrerin in Gnadenthal.