Treffen sich zwei Menschen auf der Straße. Die eine Person schiebt einen Kinderwagen, die andere beugt sich zum Baby hinunter und fragt: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ Die Antwort: „Ich weiß nicht, es kann noch nicht sprechen.“
Der Witz soll zeigen, dass Geschlechtsidentität nicht einfach von den Genitalien abhängt, sondern ein komplexes Merkmal ist, das nur die Person selbst bestimmen kann. Auch Menschen mit Vulva können Männer sein, Menschen mit Penis Frauen. Aber wie ist es eigentlich mit dem Kind in der Krippe, dem „Jesuskind“, wie es so schön geschlechtsneutral heißt? Ist es ein Junge oder ein Mädchen?
Vielleicht rollen Sie jetzt innerlich mit den Augen und fragen: Ist es nicht mal genug mit diesem Gender-Thema? Muss jetzt auch noch das Geschlecht Jesu hinterfragt werden? Jesus war ein Mann. Da gibt es doch gar nichts zu diskutieren!
Wie die Engel
Das stimmt einerseits. Andererseits ist es schade, dass das Thema „Gender“ oft so emotional diskutiert wird. Denn sachlich betrachtet, bietet es viel Spannendes, gerade auch in Bezug auf Jesus. Das wird deutlich, wenn man das neue Buch von Anselm Schubert liest. Der Professor für Kirchengeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg hat ein dickes Werk mit dem Titel „Christus m/w/d“ veröffentlicht, in dem er einen umfassenden Überblick über christologische Geschlechterdebatten durch die Jahrhunderte gibt. Denn schon seit der Entstehung des Christentums wird darüber diskutiert, welche Bedeutung Jesu Geschlecht hat.
Der Kern des Problems liegt in der Idee, dass Jesus von Nazareth nicht nur „wahrer Mensch“, sondern gleichzeitig auch „wahrer Gott“ sei. Diese Doppelnatur wird im Allgemeinen so interpretiert, dass der Mensch Jesus von Nazareth männlichen Geschlechts war, der Erlöser Christus jedoch geschlechtslos. In der Antike waren manche sogar überzeugt, dass Jesu Körper gar keine Genitalien gehabt hätte, ähnlich wie die der Engel.
Wenn die katholische Kirche nur Menschen zum Priesteramt zulässt, die einen Penis haben mit der Begründung, Jesus sei ja auch ein Mann gewesen, dann ist das übrigens auch eine christologische Gender-Debatte. Lange Zeit war man allerdings bemüht, Christi Männlichkeit nicht allzu sehr zu betonen, um seine Akzeptanz als Erlöser für alle Menschen nicht zu gefährden. Damit klar wird, dass sein Heiland-Sein genauso für Frauen relevant ist, wurden Christus manchmal sogar weibliche Attribute wie nährende Brüste zugeschrieben.
Zweite Inkarnation
Doch es gab auch andere Ideen. Im Mittelalter kam das Argument auf, dass Jesus als Mann nur einen Teil der Menschheit verkörpern könne. Deshalb sei noch eine zweite Inkarnation nötig, diesmal aber in weiblicher Gestalt. In Mailand gab es im 13. Jahrhundert eine spirituelle Gemeinschaft, die die böhmische Königstochter Wilhelmina als Inkarnation Gottes verehrte; ihre Anführer*innen wurden um 1300 von der Inquisition getötet.
Auch später hörten die Probleme nicht auf. Im 18. und 19. Jahrhundert erschien Jesus plötzlich als nicht mehr „männlich“ genug. Denn zu dieser Zeit bildeten sich starre und binäre Geschlechternormen heraus, und nach diesem Maßstab galten viele von Jesu Eigenschaften nun als wenig viril, sondern vielmehr „typisch weiblich“ - wie Friedfertigkeit, Sanftmut und Empathie.
Aber vielleicht war Jesus ja auch der „erste neue Mann“, wie der Journalist Franz Alt 1989 in einem Buch behauptete? Sozusagen ein feministischer Wegbereiter? Eher nicht. Jesus von Nazareth war ein Kind seiner Zeit und taugt nicht als Kronzeuge für heutige Gender-Debatten. Er ist nur eben als Mensch - wie alle von uns - seit Geburt in gesellschaftliche Identitätskonstrukte verwickelt: Er ist Mann, Jude, Bürger des Römischen Reichs und vieles mehr. Und damals wie heute ist unklar, was das alles bedeutet: Dass Jesus Mann war und nicht Frau, dass er Jude war und nicht Heide. Und: Ist er wirklich ein Weißer, wie es die Nazis behaupteten? Oder nicht eher eine Person of Color?
Und so geht es immer weiter. Eine Religion, die Gott nicht als fernes, neutrales Wesen versteht, sondern glaubt, dass Gott Mensch geworden ist, kann sich solchen Debatten über Jesu „Allzumenschliches“ nicht entziehen - wohl wissend, dass es auf die damit verbundenen Fragen keine endgültige Antwort geben kann. Die menschliche Natur Christi, zu der auch seine Geschlechtsidentität gehört, fordert uns immer wieder aufs Neue heraus.
Antje Schrupp
Dr. Antje Schrupp ist Journalistin und Politologin. Sie lebt in Frankfurt/Main.