Fakten, Fakes und Fiction

Müssen Biopics historisch korrekt sein?
Zwei Filmplakate
Der Bachfilm begeisterte, der Bonhoeffer-Film steht uns noch bevor ...

Der Film „Bach – ein Weihnachtswunder“ begeisterte Millionen Fernsehzuschauer. Aber es wurde vielfach moniert, dass die Handlung komplett erfunden sei. Die deutsche Premiere eines neuen Kinofilms über Dietrich Bonhoeffer steht noch aus. Auch hier wurde im Vorfeld harsche Kritik an den Fakten laut. Der Journalist Arnd Henze, der auch den Bonhoefferfilm gut kennt, unterzieht beide Filmfiktionen einem Vergleich.

Fünf Millionen Zuschauer können nicht irren: Das Biopic „Bach – Ein Weihnachtswunder“ hat der ARD eine Traumquote beschert. Auch die Kritiken waren überwiegend freundlich, und nicht zuletzt: Viele im Publikum dürften durch den Film ermutigt worden sein, die verstaubte CD nach Jahren wieder aus dem Regal zu holen oder das „Weihnachtsoratorium“ bei Spotify zu suchen.

Dass die Filmhandlung in wesentlichen Teilen Fiktion ist, erscheint dabei zweitrangig. „Virtuos“ nennt der Intendant des Leipziger Bachfestes, Michael Maul, die „nassforsche Vermischung von belegten und erdachten Elementen“ und räumt offen ein, dass die historischen Belege so lückenhaft sind, dass die fiktionalen Anteile übermächtig werden mussten: „Hätten wir, die Bachpolizisten, das Drehbuch geschrieben, wäre es ein Stummfilm geworden und die Mattscheibe weiß geblieben.“

Damit ist die Frage, wie nah an den Fakten ein Biopic erzählt werden muss, allerdings noch nicht beantwortet. Und wer Kritik an so viel künstlerischer Freiheit als „Beckmesserei“ abtut, entzieht sich der Frage, wo die Grenzen zwischen notwendiger fiktionaler Freiheit und Geschichtsverfälschung verlaufen. Diese Frage stellt sich nicht nur beim „Weihnachtswunder“, sondern noch dringlicher bei einem weiteren Spielfilm, der seit November in den US-Kinos läuft und im März auch in die deutschen Kinos kommen wird: „Bonhoeffer: Pastor, Spy, Assassin“. Aus der Polarität der beiden Film lassen sich Standards und Kriterien ableiten, die für den Umgang mit dem Genre insgesamt hilfreich sein können.

Nichts versprochen

Bleiben wir zunächst bei Bach. Der Film verspricht weder in der Werbung noch in der Umsetzung eine historisch korrekte Abbildung. Gleichwohl hätte man auf einer Schrifttafel schon deutlich machen können, dass wir über die Entstehung des Weihnachtsoratoriums wenig wissen und der ganze Plot der großzügigen Fantasie von Drehbuch und Regie entspringt. Noch besser wäre es gewesen, das wundersame Weihnachtsmärchen mit einer klug erzählten Dokumentation über Bach und sein spannungsreiches Wirken in Leipzig zu ergänzen. Hier haben die ARD-Planer vermutlich auch nicht geahnt, wie erfolgreich der Spielfilm grad durch seine eher märchenhaft-schlichte Erzählform werden würde.

Ganz anders der Spielfilm über Dietrich Bonhoeffer, der von den rechtsreligiösen Angel Studios vertrieben wird. Das Biopic verspricht explizit die „untold true story“ über den 1945 hingerichteten Theologen und Widerstandskämpfer. Das geht weit über das sonst übliche „based on a true story“ hinaus. Wer einen solchen Maßstab setzt, muss sich dran messen lassen. Wenn dann in der US-Werbung Bonhoeffer mit einer Waffe in der Hand posiert, wird das Versprechen schon auf den ersten Blick zur vorsätzlichen Lüge. Jeder weitere faktische Fehler falsifiziert den vollmundigen Anspruch zusätzlich. Ist es wichtig, ob Bonhoeffer im KZ Flossenbürg oder auf einem Bauernhof hingerichtet wurde? Ja, weil das Publikum bei dem Versprechen einer „untold true story“ in dem Glauben aus dem Kino geht, dieses historisch wichtige Ereignis habe sich auch genau so abgespielt. Die Grenze zwischen Fakten und Fakes lösen sich auf. Ein Ort wie Flossenbürg wird aus der Geschichte einfach ausradiert. 

Jenseits harter Fakten

Eine solche Gefahr stellt sich beim „Weihnachtswunder“ so nirgends. Allzu offensichtlich steht nicht die historische Rekonstruktion, sondern eine mehr oder weniger überzeugend und unterhaltsam erzählte Familiengeschichte im Zentrum. Ob es im Jahre 1734 wirklich schon einen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer gab? Geschenkt! Ob die Idee zum recycelten Eingangschor tatsächlich erst am Tag vor der Aufführung entstand? Geschenkt! Ob Anne Magdalena wirklich nichts Wärmeres im Kleiderschrank hatte, um ihr Dekollete vor der eisigen Kälte zu schützen? Geschenkt! Ob die Trompeter die Fanfaren im Eingangschor wirklich ohne Proben so perfekt hinbekommen haben? Geschenkt!

Es gibt aber noch eine zweite Ebene jenseits harter Fakten, um die historische Integrität von Biopics zu diskutieren. Dabei geht es um die Frage, ob ein Film seinen Protagonisten und der Zeit gerecht wird oder ein Zerrbild schafft, das den zukünftigen Umgang mit dem historischen Erbe Schaden vergiftet. Auch hier lässt sich am Beispiel der Filme zu Bach und zu Bonhoeffer der Unterschied deutlich machen. 

Besonders sympathisch kommt Johann Sebastian Bach im Film nicht rüber. Ebenso wenig sein Gegenspieler, der Stadtrat Stieglitz. Die vielen Bachsöhne verkörpern gegensätzliche Klischees, Anna Magdalena ist die makellos perfekte Hausfrau und Mutter. Aber am Ende haben sich dann doch alle lieb und das Wunder nimmt seinen Lauf. Die Geschichte des Leipziger Thomaskantors muss nicht neu geschrieben werden. Keine Kantorei muss im kommenden Jahr ihre Aufführung ändern. Vielleicht läuft der Vorverkauf dafür sogar noch ein bisschen besser. War sonst noch was? 

Nicht immer gerecht

Dafür fehlt dem Film aber auch die geniale Abgründigkeit eines Biopics wie „Amadeus“, das vor vierzig Jahren den Kultstatus von Wolfgang Amadeus Mozarts gerade beim jungen Publikum in eine neue Dimension führte – zu Lasten allerdings des Hofkomponisten Salieri, der vermutlich für eine ganze Generation zur künstlerischen Persona non Grata wurde. Ich gebe zu: auch wenn „Amadeus“ den Maßstab der Fairness gegenüber seinen Protagonisten hier deutlich verletzt, gehört der Film bis heute zu meinen unerreichten Favoriten. Kunst ist nicht immer gerecht. Möge Salieri mir meine doppelten Standards verzeihen. Und mögen zukünftige Generation dem Hofkomponisten wieder Gerechtigkeit zukommen lassen.

Beim Bonhoeffer-Spielfilm führt die Abwägung dagegen zu einem völlig anderen Ergebnis. Selbst wenn man für den deutschen Markt auf die Waffe in der Hand verzichtet, Bonhoeffer nicht mehr im Titel als „Attentäter“ ankündigt und auch nicht mehr verspricht, eine bisher unerzählte wahre Geschichte zu bieten: dieser Film verzerrt die historischen Fakten so stark, dass im Ergebnis eine gefährliche Geschichtsklitterung bleibt. 

Eine Schlüsselszene im Film mag das verdeutlichen: Der von August Diehl gespielte Pfarrer Martin Niemöller hält am Sonntag nach der Reichsprogromnacht 1938 eine mutige und leidenschaftliche Predigt gegen die Ausgrenzung der Juden. Dabei spricht er die unter der Kanzel sitzenden uniformierten Nazis direkt an. Die verlassen mit drohenden Blicken die Kirche. Die übrige Gemeinde stärkt ihrem Pfarrer mit tosendem Beifall den Rücken. Kurz darauf wird Niemöller verhaftet und ins KZ gebracht.

Fake-Predigt Niemöllers

In dieser Szene stecken gleich mehrere gravierende Fakes: Niemöller wurde bereits im Juli 1937 verhaftet. Er konnte also gar nicht nach den Novemberpogromen 1938 predigen. Er hat sich aber auch vorher nie öffentlich gegen die Verfolgung der Juden gestellt – was er nach 1945 immer wieder offen zugegeben hat. Deshalb basiert die Fake-Predigt auch ausgerechnet auf Texten, die Niemöller nicht während der NS-Zeit, sondern erst im selbstkritischen Rückblick verfasst hat – inclusive dem berühmten Zitat: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen…“. Und schließlich: Eine trotzig applaudierende Gemeinde ist so fern der Realität, dass selbst Bonhoeffer-Darsteller Jonas Dassler schon am Set vergeblich protestiert hat. Sein Argument: „Wären die Menschen damals tatsächlich so mutig gewesen, hätte es den Holocaust vielleicht nicht gegeben.“

In der Abwägung zwischen fiktionaler Freiheit und historischer Verfälschung kann das Urteil deshalb nur kritisch ausfallen: Die gesamte Szene schafft eine Heroisierung Niemöllers und der Bekennenden Kirche, die das bis heute wirkmächtige Narrativ unterstützt, die Deutschen (und erst recht die Christen) seien ein Volk von Widerstandskämpfern gewesen. In einer Zeit, in der die Erinnerungskultur brüchig geworden und historisches Wissen kaum noch vorhanden ist, kann eine solche Inszenierung die mühsame zeitgeschichtliche Differenzierung der zurückliegenden Jahrzehnte mit dem Hintern wieder einreißen. Die AfD mit ihrem Ruf nach einer „180 Gradwende in der Erinnerungspolitik“ wird Danke sagen! Das mag nicht beabsichtigt gewesen sein und bleibt auch durch die Kunstfreiheit gedeckt – fordert aber umso notwendiger zu entschiedenem Widerspruch heraus.

Ähnliches gilt für die irre Szene, in der Dietrich Bonhoeffer in London vergeblich darum bittet, von Churchill Sprengstoff für ein Attentat auf Hitler zu bekommen. Kann man sich wirklich wünschen, dass Schulklassen so einen Unfug sehen - und danach tatsächlich glauben, der Widerstand gegen Hitler habe sich wie in einem Bondfilm für ganz Arme abgespielt? Dass solche Verfälschungen nicht ungefährlich sind, zeigt der Slogan, mit dem „Angel Studios“ das Bild von Bonhoeffer mit der Knarre vermarktet hat: „Der Kampf gegen die Tyrannei beginnt jetzt!“ – und das wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl in den USA.

Harmlose Fantasieschöpfungen

Wie harmlos sind dagegen die Fantasieschöpfungen im „Weihnachtswunder“. Ob Stadtrat Stieglitz tatsächlich vorhatte, das Weihnachtsoratorium zu verbieten? Der Plot ist einfach zu schön, um ihn nicht aus den realen Konflikten um die Rolle der Musik im Gottesdienst zu einem Duell unter trotzigen Männern zu verdichten. Der mögliche Schaden beim zukünftigen Hören der Musik: eher gering!

Das Gegenbeispiel des Bonhoeffer-Films zeigt aber, dass fiktionale Freiheit kein Freibrief sein darf, historische Fakten zu verbiegen und ideologisch gefügig zu machen. Respekt vor der historischen Integrität realer Vorlagen verlangt genau dieses Abwägen, wie weit und in welcher Form sich eine spannende Dramaturgie von den realen Fakten frei machen kann und darf. Dabei spielt der Kontext eine zentrale Rolle. Da sich tradierte Erzählungen von St.Martin über Nikolaus bis Krippenspiel ohnehin in einem metafaktischen Bereich abspielen, sollte an einen Film mit dem Titel „Weihnachtswunder“ kein höherer Anspruch angelegt werden. 

Ein Film aber, der mit einem zeitgeschichtlichen Stoff in komplexe und polarisierte gesellschaftliche Debatten eingriffen will, darf die Grenzen zwischen Fakten und Fakes nicht vorsätzlich verwischen – und wo es aus notwendigen dramaturgischen Gründen doch geschieht, sollte es zumindest die Integrität des Geschehens nicht korrumpieren. Das gilt für Drehbuch und Regie ebenso wie für die Schauspieler, die ihren Figuren gegenüber im Wortsinn gerecht bleiben müssen. 

Es ist gut, wenn über solche Abwägungen immer wieder gestritten wird. Wer historisch Fragwürdiges im „Weihnachtswunder“ hinterfragt, ist kein „Beckmesser“, sollte aber gelassen berücksichtigen, um welches Genre es hier geht. Und umgekehrt: Wer sich die Freude an einer harmlosen Familienschmonzette nicht durch Faktenchecks verderben lassen will, sollte sich klar sein, dass dieser Maßstab gegenüber einem hochpolitischen Film wie „Bonhoeffer“ nicht ausreichen darf. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"