Dieses Programm enthält Szenen, die für junge und empfindsame Zuschauer:innen nicht geeignet sind.
Jene gutgemeinte Warnung, die hübsch dialektisch zugleich als Triggerpunkt ihren Dienst leistet, weil sie einen hyperintensiven Kontakt mit der Wirklichkeit verspricht, muss per Mausklick abgearbeitet werden, dann ist man flink zurückgereist in die Jahre des Aufstiegs von Silvio Berlusconi: Unternehmer, viermaliger Ministerpräsident, Präsident des Fußballvereins AC Mailand etc. Die Berlusconi-Ära. Das Pailletten-Klima jener Jahre ist sofort wieder spürbar, wenn man sich auf die bei Arte frei zugängliche Serie 1992/1993/1994 einlässt und die komplexen und kompetitiven Beziehungsgrammatiken der fünf Hauptpersonen mitspielend entknäult. Gedreht wurde die Serie zwischen 2015 und 2019, Staffel 1 wurde erstmals 2015 deutsch synchronisiert auf Sky ausgestrahlt.
Sechsundzwanzig Folgen: Italienstunde.
Die dramaturgische Finesse der Serie besteht darin, die personelle Schattenwirtschaft um Berlusconi auszuleuchten, der als ‚Cavaliere‘ erst in der dritten Staffel stärker ins Zentrum rückt. Autor:innen (Ludovica Rampoldi, Alessandro Fabbri, Stefano Sardo) und Regisseur (Giuseppe Gagliardi) sind Managerinnen der Emotionen, denn vor allem die erste Staffel macht zunächst Hoffnung, sogar berechtigte Hoffnung: Die Erste Republik geht dank eines famosen und unfassbar mutigen Staatsanwalts Antonio Di Pietro (Antonio Gerardi) als Leiter der Mailänder Antikorruptionsabteilung unter.
Besiegbare Filzokratie
Eine Filzokratie scheint, lässt man das juristische Bremspedal los, besiegbar! Die Macht der korruptionsverseuchten Altparteien kommt in einem rasanten Tempo ans Ende. Einer von Di Pietros Assistenten ist Luca Pastore (Domenico Diele), zusätzlich angetrieben durch einen persönlichen Rachefeldzug: Er hat sich durch wissentlich verseuchte Blutkonserven mit HIV infiziert.
Good Guys. Yes. Expertise plus Ecken und Kanten.
Immer stärker in den Vordergrund rücken: der Marketing-Direktor und Spin-Doctor Leonardo Notte (Stefano Accorsi), mit einem gewinnenden Lächeln gesegnet, eine herrliche Mischung aus Don Camillo, Joker und Grinch – mit Vorteil Don Camillo. Und dieser Notte wird von einem unersättlichen Hunger nach Sexualität herumgeworfen. Ist er in politischen Geschäften extrem selbstbeherrscht, dann leidet er unten rum an einer Affektinkontinenz. Er ist unter sexuellem Triggerdauerbeschuss. Sein unstillbarer Paarungswille macht ihn erpressbar. Er löst eine prompt inszenierte Erpressung durch Totschlag eines korrupten Polizisten, kommt, weil unersetzbar, davon, überlebt auch die Berlusconi-Dekaden und schafft es, seine eigene Fluglinie als börsenfähiges Unternehmen abzusichern.
Ihm zur Seite steht – die Metaphorik ist mächtig unterkomplex – Veronica Castello (Miriam Leone, zugleich Miss Italia 2008, Moderatorin des Frühstücksfernsehens Rai Uno, erfolgreiche Schauspielerin), Sexarbeiterin in den höheren Kreisen mit Aufstiegssyndrom. Sie, die alle Frequenzen der Ekstase beherrscht, schafft es schließlich kurzfristig auf einen Ministerinnensessel – Berlusconi kann Dankbarkeit –, sichtbar geplagt von der Angst vor dem Älterwerden.
Auf- und Abstieg
Und dann ist da noch der Milieu-Aufsteiger Pietro Bosco, mit großartiger Leibpräsenz gespielt von Guido Caprino, ein ehemaliger Soldat, beschäftigt mit einer persönlichen Realitätsentsorgung, der seine Etikettenunsicherheit als Wutbürger bearbeitet, in der Lega Nord aufsteigt, Staatsekretär wird, aber sein Ehrverständnis verleitet ihn dazu, den Mord an seinem Vater zu rächen. Der Absturz ist vorprogrammiert. Aber in Liebesdingen triumphiert er final über seinen ewigen Widersacher Notte.
Ich lese diese prächtig gecastete und großartig affektiv orchestrierte Inszenierung als Blaupause für den mehrfachen Aufstieg von Donald Trump. Soeben noch sind die Italiener begeistert, wie konsequent die Granden der Altparteien in die Knäste einfahren, oder von der unsichtbaren Hand der Mafia berentet werden oder sich aus Scham suizidieren, dann finden sich alle plötzlich im Aufwachraum der Geschichte wieder. Was ist passiert?
Ohne Köpfe
Weil alle Altparteien akephal, also ohne Köpfe, dastehen, weil Unordnung, sogar Chaos herrscht, entwickelt sich schleichend die Sehnsucht nach einer ordnenden Gestalt, sagen wir: einem ‚Cavaliere‘, dem es inzwischen gelungen ist, die Medien, vor allem das Fernsehen, ein Stück weit gleichzuschalten und die Geldströme umzulenken. Das Drehbuch für den Aufstieg (von Notte geschrieben) arbeitet clever und smart mit Angst und der Sehnsucht nach neuer Stabilität. Nachhaltig und konsequent wird eine autoritäre, sich als Feierbiestkultur verkleidende Übernahme durchgesetzt, die eine männliche Perspektive exekutiert. Medienpsychologinnen und die feministische Filmkritik sprechen von male gaze. Veronica Castello ist das Objekt der Begierde. Die Figur erinnert an Ilona Staller, die unter ihrem Künstlernamen Cicciolina (Fleischklößchen) als Pornodarstellerin Karriere machte und von 1987-1992 im Parlament in Rom saß. Kurzzeitig war sie verheiratet mit dem US-Künstler Jeff Koons. Im Film ist die kulturelle Semantik nur männlich umgesetzt.
Trump und seine Spin-Doctoren haben diesen Dreh bei Berlusconi intensiv studieren können. Wozu benötigt man Wahlprogramme, wenn es einen Spin-Doctor gibt! Der male gaze triumphiert. Trump ist der neue Cavaliere in seiner zweiten Staffel.
Bunga Bunga – die nächste. Man hätte es wissen können.
Trump ist wie Berlusconi ein Spieler. Oder meint er es doch ernst? Kungelt er mit der Apokalypse? Flirtet er mit der Disruption, von der sein Spin-Doctor Elon Musk schwafelt?
1992/1993/1994 Eine italienische Chronik
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.