„Ich wölt, daß ich doheime wer“

Eine biografische Notiz zu Sophie Scholl von 1941
Unwohl gefühlt? Sophie Scholl (1. Reihe rechts unten) bei einer Feier während ihrer Zeit beim Reichsarbeitsdienst, 1941.
Foto: Stadtarchiv Crailsheim – Sammlung Hartnagel
Unwohl gefühlt? Sophie Scholl (1. Reihe rechts unten) bei einer Feier während ihrer Zeit beim Reichsarbeitsdienst, 1941.

An einer festlich gedeckten Kaffeetafel haben sich zwölf junge Frauen aufgestellt. Alle tragen gestreifte Pyjamas. Übermütig lachen sie, und einige prosten mit Kaffeetassen und Weinflaschen dem Fotografen zu. Es ist vermutlich eine Geburtstagsfeier am 9. Mai 1941, und das Geburtstagskind ist mit auf dem Foto: Ganz unten rechts hockt Sophie Scholl, die an jenem Tag zwanzig Jahre alt wurde. Aufgenommen ist das Bild im Arbeitslager Krauchenwies bei Sigmaringen am Rande der schwäbischen Alb, wo Sophie Scholl für sechs Monate mit den anderen Frauen stationiert war. Sie war dort unglücklich, sie fühlte sich wie eine Gefangene, fremd und unverstanden. Ihr fehlte die geistige Auseinandersetzung. Für sie waren die anderen Frauen unkultiviert, als Gesprächsthema hätten sie nur „Männer“, klagte sie ihrer Schwester Inge.

Was mag Sophie Scholl gedacht haben, als das Geburtstagsfoto entstand? Selbstverständlich können wir es nicht genau sagen, aber wir wissen aus ihren Briefen, was sie beim Unkrautjäten und während ihrer Freizeit bewegte. In ihrem Geburtstagsmonat schrieb sie an ihre ältere Schwester Inge, sie habe heute Mittag den vollständigen Text des Liedes aus dem Jahr 1430 „Ich wölt, daß ich doheime wer“ gefunden und ihn gleich aufgeschrieben. Sie schätze das Lied sehr, weil es ausdrücke, was man selber nicht sagen könne. Zeile für Zeile kopiert Sophie Scholl fein säuberlich in Sütterlin den mittelhochdeutschen Wortlaut (hier nur die ersten drei und die 12. und letzte Strophe): (1) Ich wölt, daß ich doheime wer / und aller welte trost entbehr. (2) Ich mein, doheim in himmelreich / da ich Got schowet ewinclich. (3) Woluf min sel, und richt dich dar! / Do wartet dein der engel schar. (…) (13) Ade! welt! Got gesegen dich! ich var dahin gen himmelrich. Dann setzt Sophie Scholl noch den Autor darunter: „Heinrich von Laufenberg“. Darüber hinaus sendet sie Inge die Noten der Melodie, die im Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) als die ursprüngliche angenommen wurde. Und sie fügt den Satz eines unbekannten Komponisten für dreistimmigen (Frauen-)Gesang hinzu.

„Nur eben so“

Sophies Lied ist voller Jenseitssehnsucht, voll Heimweh, aber nicht nach einem irdischen Zuhause, etwa ihrem Wohnort Ulm oder gar dem Geburtsort Forchtenberg, sondern einem himmlischen. Trotz aller Kritik an der Oberflächlichkeit, dem nur schönen Schein der „Welt“ (Strophe 11), bleibt diese doch für den Dichter segenswert (Strophe 13). Das wird Sophie Scholl gefallen haben, denn sie liebte die Natur sehr und wäre manchmal sogar gerne ganz und gar in ihr aufgegangen, wie es das Foto zeigt, auf dem sie sich an eine Birke schmiegt. Dazu passt, dass sie sich beim Unkrautjäten in Krauchenwies wünschte, ohne Verantwortung zu sein „nur eben so“.

Das steht in starkem Gegensatz zu dem politischen Einsatz, den sie mit ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigte, aber das machte sie auch gelassen, als sie vom Hausmeister der Universität beim Verbreiten von Flugblättern ertappt und festgenommen wurde. Zu ihrer Mutter soll sie angesichts ihres bevorstehenden jähen Endes gesagt haben; „Ach Mutter, die paar Jährchen“ oder; wie es in Sophies hoch geschätztem Lied lapidar lautet, im Himmelreich „sind doch tausend Jahr wie heut …“ Die wahre Heimat war für Sophie Scholl das Himmelreich. Es ist kein Wunder, dass sie sich unter den ausgelassenen anderen Frauen im Arbeitslager auf dem Foto unwohl fühlt. Mit ihren Sinnen ist sie in diesem Bild ganz woanders: „Ich wollt, ich wär daheim“, hat sie vielleicht gedacht.

Sophie Scholl konnte gelassen sterben, weil sie daran glaubte, wirklich heimzugehen. Die letzten Worte ihres Bruders Hans sind protokolliert. Er rief: „Es lebe die Freiheit!“ Sophie könnte gedacht haben: „Ade, Welt, Gott segne dich! Ich fahr dahin gen Himmelreich!“ 

 

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