Der letzte Dessauer Universalgelehrte Andreas Hillger hat wieder einen Roman vorgelegt. Mittlerweile seinen vierten und wieder mit historischem Sujet – mit dem er in mehrfacher Hinsicht eine Brücke zu seinem exzellenten Erstling gläserne zeit schlägt. Jenem Buch, das in die Geschichte hinter den Geschichten des Bauhauses in Dessau einführt wie kein zweites. Endete gläserne zeit mit der Schließung des Bauhauses und dem Triumphzug des Nationalsozialismus, spielt der nun jüngst erschienene Roman Totale nur ein Dutzend Jahre später während des Zusammenbruchs des seinerzeit erst verkündeten Tausendjährigen Reiches. Er ist wieder im Umfeld der Kunst angesiedelt und verarbeitet dabei neuerlich eine Liebe.
Andreas Hillger erzählt eine Geschichte rund um Kolberg: die Verfilmung der sinnlosen Verteidigung der Festung Kolbergs unter August Neidhardt von Gneisenau – der aufwändigste und teuerste Propagandafilm der Nazizeit, der zugleich zu den wichtigsten historischen Filmdokumenten dieser Zeit gehört. 1943 in Auftrag gegeben, dauerten die Dreharbeiten so lange, dass der Film erst kurz vor Kriegsende fertig gestellt wurde. Premiere hatte er in La Rochelle, dem letzten deutschen Stützpunkt in Frankreich. Eingekreist von Alliierten, musste der Film dort per Fallschirm abgeworfen werden. Die Parallelen zwischen der Handlung des Films und dem nahenden Ende des Deutschen Reichs waren unverkennbar. Die NS-Propaganda warf mit den Schauspielerinnen und Schauspielern der Zeit wie Heinrich George, Paul Henckels, Irene von Meyenhoff und Kristina Söderbaum sowie Regisseur Veit Harlan noch einmal alles in den Ring, um Opferbereitschaft und Siegeswillen für den totalen Krieg zu schüren.
Andreas Hillger erzählt vorzugsweise aus drei Perspektiven. Dabei verlässt er sich in der Inszenierung dessen auf seinen eigenen Erfahrungsschatz als Librettist, Dramaturg und Regisseur und übernimmt im Aufbau schließlich die Arbeitsweise dessen, wovon er erzählt: die eines Films. Anfangs schneidet er unerbittlich hart Szenen aneinander, deren Zusammenhang zunächst mysteriös erscheint. Erst allmählich lichtet sich alles. Bis dahin heißt’s: dranbleiben. Das ist mit den Hand und Hirn zugeworfenen Mosaiksteinen zunächst keine leichte Sache. Aber Aufgeben ist keine Option – gar keine! Denn wieder einmal ist Andreas Hillger der große Erzähler und verdichtende Magier. Er baut mit historischem Detailwissen und sublimer Personenzeichnung so viel Spannung auf, dass die Puzzleteile wie Filmsequenzen allmählich zu einem großen, starken Film werden. Mit drei Perspektiven: der Geschichte Kays, der, kriegsuntauglich verwundet, als Requisiteur bei den Dreharbeiten dabei war und nun, im Winter 1945 im Tauentzien-Palast in Berlin, zum ersten Mal den fertigen Film sieht und dabei von seinen Erinnerungen überwältigt wird.
Der Geschichte Gerdas, die als Fotografin der AGFA-Werke Wolfen ebenfalls bei den Dreharbeiten dabei war, dort die Geliebte Kays war und nach verspäteter Rückkehr nach Wolfen dort von der Werbeabteilung ins Arbeitslager strafversetzt wird. Und schließlich Sequenzen des originalen Films selbst – die ein großes, einfühlsam wie unerbittlich erzähltes, tragisches Ganzes ergeben.
Die Lektüre fesselt einmal mehr, weil Andreas Hillger neben der großen erzählerischen Kraft auch ein großer Darsteller des verletzlich Menschlichen in seiner Schönheit und Schwäche ist – ohne jede Attitüde, ohne Schlagscheinwerfer oder journalistische Reduktion auf Schaulust und Zurschaustellung. Diese besondere Gabe, die weit über bildreiche Metaphorik und detailreiche Beschreibung hinausgeht, ermöglicht es ihm, seine Figuren so zu entwickeln, dass seine Geschichten mehr sind als ein Fernrohr in die Zeit. Sie sind eine liebevolle Lupe auf die darin verstrickten Menschen und ihre Suche nach dem Glück.
Klaus-Martin Bresgott
Klaus-Martin Bresgott ist Germanist, Kunsthistoriker und Musiker. Er lebt und arbeitet in Berlin.