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Konjunktur der Gefühle

Emotionen haben Konjunktur. Von den Emojis bis zum Wutbürger beherrschen Gefühle unter Partnern, in den sozialen Medien, in Wahlkämpfen und Protestkundgebungen die Szene. Vernunft und Rationalität, seit der Aufklärung Normen einer argumentativen Streitkultur, werden als handlungsleitende Instanzen von den Gefühlen verdrängt, die auf der Piazza, in den Medien und Familien sich oft auch gewaltsam Ausdruck verschaffen.

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz hat das um sich greifende „Unbehagen in der Gefühlskultur“ in wiederholten Anläufen untersucht. In diesem Buch umreißt sie das Gesamtbild einer „explosiven Moderne“. Dabei macht sie klar, dass Emotionen nicht nur ein persönliches Befinden charakterisieren, sondern einer „sozialen Grammatik“ folgen; sie werden von sozialen Codes und kulturellen Standards geleitet: „Gefühle verlängern gewissermaßen den Arm der Gesellschaft im Selbst.“

Die psychischen Konflikte, der Stress und die Überforderung sind Illouz zufolge Symptome von gesellschaftlichen Mechanismen, welche die Menschen ihrer Lebenswelt entfremden. Über die Analyse dieser Mechanismen hinaus arbeitet sie die Pointe heraus, dass die Ursachen für die Gefühle von Enttäuschung, Furcht, Zorn, Neid und Scham ausgerechnet im System und in der Entwicklung der liberalen Demokratie liegen.

Die Heftigkeit dieser Konflikte lässt sich an einigen erschreckenden Zahlen ablesen. So ist in den Vereinigten Staaten in den Jahren von 2 000 bis 2021 die Selbstmordrate um 36 Prozent gestiegen. Die psychischen Probleme von jungen Menschen nehmen in den westlichen Gesellschaften zu, die Zahl der an Depressionen leidenden Jugendlichen hat sich dramatisch erhöht.

Eva Illouz führt eine Fülle von Situationsbeschreibungen für die Dynamik und die ruinöse Kollision von gesellschaftlicher Entwicklung und persönlicher Gefühlslage vor: Sie beschreibt die Hoffnungen und Enttäuschungen im „amerikanischen Traum“ von Aufstieg und Fortschritt, die Folgen von Zorn, Furcht und Nostalgie als politischen Emotionen im Kontext von Nationalismus und Demokratie. Sie stellt schließlich Scham, Stolz, Eifersucht und Liebe als Komplexe der Intimität in ihrer sozialen Dramatik dar.

Dazu nutzt Illouz eine Menge von wissenschaftlichen Studien sowie Texte der belletristischen Literatur von der Antike bis zu zeitgenössischen Romanen, Dramen und Dichtungen. Ein Beispiel ist die facettenreiche Darstellung der Furcht als Existenzangst, Furcht vor Strafe, aber auch vor politischer Verfolgung sowie vor Kriminalität und Krieg, nicht zuletzt die Funktion der Ängste im Zusammenhang mit der fürsorgenden, pastoralen Rolle des Staates, wie sie etwa vom weltweiten Lockdown in der Pandemiezeit ausgelöst wurde.

Hier hat sich nach Illouz’ Meinung die Auffassung von Hobbes bestätigt, dass „Furcht die mächtigste politische Leidenschaft ist und wir immer bereit sein werden, Freiheit für Sicherheit zu opfern“ – auch wenn es wie hier um den Schutz durch staatliche Fürsorge geht. „Die Politik der Furcht sucht – so schreibt sie – die liberalen Demokratien von innen heim und ist zu ihrem Hausgespenst geworden.“

Selbst die Hoffnung, „die konstitutive Kategorie des modernen Individualismus“, ist mit Enttäuschung, Neid, Ressentiment und Angst vermischt, „eine Kombination, die die besondere Beschaffenheit des modernen emotionalen Unbehagens ausmacht“. Denn „die Demokratisierung und das Gleichheitsideal müssen eine durch die kapitalistische Produktionsweise verursachte Klassenungleichheit zwangsläufig unerträglich werden lassen“.

Ein überaus aktuelles, lesenswertes Buch: Die Einzelanalysen sind stark, farbig und spannend, besonders bei der Beleuchtung der schillernden Nuancen und der manipulierbaren Vielfalt der Gefühle. Wenn man sich nach der Kenntnisnahme dieses Panoptikums freilich fragt, wie man sich auf diesem Schlachtfeld der Emotionen wehren kann, wenn unsereinem auch die Überlegenheit von Vernunft und rationalem Kalkül nicht hilft, lässt einen das Buch weitgehend im Stich; Eva Illouz ist keine Therapeutin! Eine fundamentale Einsicht teilt sich den Lesern freilich mit: Mit unserem persönlichen Gefühlshaushalt kommen wir in der explosiv gewordenen Postmoderne nicht zurecht, wenn wir uns nicht mit der sozialen Dimension unserer Emotionen auseinandersetzen.

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