Glanzlichter

Ein genialer Einwurf

Kant nannte Raum und Zeit die reinen Formen sinnlicher Anschauung a priori. Aber auch ohne reine Vernunft haben die höher entwickelten Tiere ihre zerebralen Synapsen, so dass auf diese Weise auch Löwe und Zebra „kantianisch“ sind. Auch Löwe und Zebra sind kantianisch. Das ist zunächst gut zu wissen! Yes!

Schmale Bücher können zuweilen fette Thesen testen. Ein gutes Beispiel ist der bei Matthes & Seitz erschienene Band von Stefano Levi Della Torre, Jahrgang 1942. Der Autor ist all in one: Architekt, Maler, Universitätslehrer in Mailand und ein in Italien prächtig eingeführter Autor. Der Text hat etwas Genialisches, Della Torre ist ein später Nachgeborener da Vincis. Bescheidenheitstopik ist ihm fremd. Es ist ein lustvoller Text, der jede Denkzumutung feiert. Mentale Insolvenz war gestern.

„Für den Gläubigen ist Gott ein Inhalt, für mich ist er eine Form des Denkens, eine Form der Perspektive. Gott ist die geistige Vergegenwärtigung der Totalität.“ Das ist ein Knaller, ein Bashing der Gläubigen eingeschlossen. Und prompt wird als Wahrheitszeuge kein Geringerer als Dante (wer sonst?) aufgerufen. Übersetzt heißt das: „Gott ist ein ‚Band‘, eine Zusammenfassung alles Seienden, dank derer jedes einzelne Ding in Beziehung steht zu allem anderen. Dieses Band ist die letzte Rahmung: eine Konzentration in direktem Widerklang mit dem Ganzen; eine zentripedale Perspektive in einer zentrifugalen Unermesslichkeit. Die Frage nach Gott betrifft also die umfassende Form des Wissens und des Denkens. Sie ist zu wichtig, als dass sie allein den Gläubigen überlassen werden dürfte.“ Della Torre positioniert sich gegen die Konzentration auf Inhalte: „Ist Gott Liebe, so werden jene umso mehr gehasst, deren Liebe nicht die unsere ist; ist er Gerechtigkeit, so geht der Hass gegen jene, die einer anderen Gerechtigkeit folgen; ist er Gnade, so trifft der Hass jene, deren tugendhaftes Handeln allein schon genügt.“ Gott ist ein Frame, eine Rahmung. Della Torre switcht fröhlich zwischen seinen Arbeitsfeldern hin und her: „Von der Malerei“, so Della Torre, „habe ich gelernt, dass das Ganze wichtiger ist als seine Teile.“ Also: „Jedes Werk ist gleichsam ein nostalgisches Element einer Totalität.“

Dieser herrlich mäandernde Text bietet mehr Glanzlichter, als ein Tannenbaum aufnehmen könnte. Etwa: „Was ist der Inbegriff der biblischen Sünde? Es ist nicht der Verstoß gegen das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen.“ Genau. Also? Schlanke Antwort: „Es ist die Idolatrie.“ Genauer: „Jede Sünde, vom Zorn über die Ichsucht, die Völlerei bis zur Wollust ist auf den Tatbestand der Idolatrie zurückzuführen als der Verabsolutierung eines Einzelnen.“ Aha! Spannend. Als gelernter Calvinist könnte man viel dazu sagen. Und so geht es weiter. Über Schöpfung und Naturwissenschaft etwa. Lieblinge wie Spinoza werden präsentiert. Traditionsfolien aufgerufen und umgeschrieben. Die negative Theologie hofiert. Etwas mehr über Kreativität hätte ich gerne gelesen.

Das Buch endet mit einem vorläufigen, melancholischen Fazit. Etwas überraschend taucht jetzt das Heilige prominent auf. „Das Unbestimmte, Unermessliche, Unverhältnismäßige schrieb man in der Antike dem Heiligen zu und damit der Religion, deren Aufgabe es war, hierfür ein menschliches Maß zu finden. Heute, wo das Übermaß an Informationen oder schlicht auch das Unwissen die Vernunft als Richtschnur des eigenen Lebens wie auch der Weltläufte schwächt und das bloße Meinen an die Stelle des Wissens tritt, steht zu befürchten, dass man mit Glaubensformeln den Weg zurück zum Heiligen bahnen will.“ Darüber lässt sich reden.

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Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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