Stolberg und sein Müntzer

In seiner Geburtsstadt ist der Reformator Thomas Müntzer vielerorts präsent
Stolberg
Foto: Kathrin Jütte

Das Städtchen Stolberg in Sachsen-Anhalt nennt sich noch heute Thomas-Müntzer-Stadt. Auch 500 Jahre nach Müntzers Tod lassen sich hier im Harzer Vorland Spuren finden, die an den Theologen und Reformator erinnern. Eine Erkundung mit zeitzeichen-Redakteurin Kathrin Jütte.

Auf alle Fälle kannte Thomas Müntzer das 1470 erbaute spätgotische Fachwerkhaus in der heutigen Rittergasse 14, das älteste seiner Art. Das „Kleine Bürgerhaus“ liegt nur einen Katzensprung vom Marktplatz von Stolberg entfernt mit seinem imposanten Rathaus. Zu Müntzers Zeiten eine Bergbaustadt, wie es sie viele im Harz gab. Jahrhundertelang wurden hier Eisen, Silber, Gold und Zinn gefördert, seit dem 13. Jahrhundert Münzen geprägt. Davon erzählen die weithin sichtbaren Halden des Kupferschieferbergbaus, wegen ihrer Spitzkegelform als Pyramiden des Mansfelder Landes benannt. Heute gilt Stolberg, das zu DDR-Zeiten den Titel „Thomas-Müntzer-Stadt“ im Namen führte, als ein Kleinod. Fachwerk-Pracht ist allgegenwärtig, dahinter 1 400 Einwohner. Sie gehören mit 17 Orten zur Einheitsgemeinde Südharz in Sachsen-Anhalt.

Zwischen drei Tälern

Stolbergs Ensemble aus mittelalterlicher Fachwerkkulisse und Kopfsteinpflastergassen erstreckt sich idyllisch über drei am Markt zusammenlaufende Täler. Oberhalb der Stadt thront das alles überragende Schloss aus dem 13. Jahrhundert, Residenz der Stolberger Grafen und Fürsten. Und die Martinikirche, in der Thomas Müntzer wahrscheinlich getauft wurde.

1989 schuf der Bildhauer und Grafiker Klaus Messerschmidt zum 500. Geburtstag Thomas Müntzers das Denkmal auf dem Stolberger Marktplatz.
Foto: Kathrin Jütte

1989 schuf der Bildhauer und Grafiker Klaus Messerschmidt zum 500. Geburtstag Thomas Müntzers das Denkmal auf dem Stolberger Marktplatz

Ungewissheit herrscht um sein Geburtshaus, darüber streiten sich die Forscher. Fest steht: In unmittelbarer Nachbarschaft zum mittelalterlichen Seigerturm soll es gestanden haben. Ob links- oder rechtsseitig in der Niedergasse, die noch zu DDR-Zeiten Thomas-Müntzer-Gasse hieß, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aber an dem modernen Fachwerkhaus in der Niedergasse 2, das einen Kunstgewerbe- und Souvenirladen beherbergt, erinnert eine Gedenktafel an den berühmten Sohn der Stadt.

Dass Müntzer tatsächlich in Stolberg am Harz geboren wurde, daran gibt es kaum Zweifel. Er selbst nennt seinen Geburtsort im Inskriptionsvermerk der Frankfurter Universitätsmatrikel (1512) und im Prager Manifest (1521). Unbekannt ist dagegen das Geburtsjahr, um 1490 gilt als wahrscheinlich.

Blick auf den mittelalterlichen Seigerturm.
Foto: Kathrin Jütte

Blick auf den mittelalterlichen Seigerturm.

Wer mehr erfahren will, der gehe in die Niedergasse 17. Ein prächtiges dreigeschossiges Renaissancefachwerkhaus aus dem Jahr 1535 mit schmucken Erkertürmchen und roten Fächerornamenten beherbergt die Alte Münze, das Heimatmuseum der Harzstadt. Claudia Hacker ist eine engagierte Museums- und Tourismusfrau, die den Laden mit ihrem Team am Laufen hält. Sie kann bei einem Rundgang wunderbar davon erzählen, wie das Haus ehemals als Berglehnsamt, Konsistorium und später auch als Amtsgericht genutzt wurde. Wie Stolberg vor dem Hintergrund des Eisen- und Silberbergbaus um 1150 erbaut und 1253 erstmals urkundlich erwähnt wurde, wie der Ort über 600 Jahre sein Münzrecht ausübte und wie manchen Taler ein Hirsch zierte, das Wahrzeichen der Stadt.

Am Balancier in der Alten Münze werden die Jahresmünzen geprägt.
Foto: Kathrin Jütte

Am Balancier in der Alten Münze werden die Jahresmünzen geprägt

Ob der Vater Müntzers hier am Ort als Münzmeister im Dienst der Stolberger Grafen stand, ist nicht belegt. Aber auf die nahezu vollständig erhaltene Werkstatt aus dem 18. Jahrhundert sind hier alle stolz, ein einzigartiges technisches Denkmal im deutschsprachigen Raum. Bei regelmäßigen Schauprägeterminen werden am Großen Balancier die Jahresmedaillen geprägt, im vergangenen Jahr die Fürstenpredigt 1524 zu Allstedt. Auf der hochfeinen Silbermünze erscheint Thomas Müntzer als Prediger auf den Stufen des Allstedter Schlosses hinter den drei mächtigen Schädeln der Fürsten. In diesem Jahr ist das Antlitz der Münze zeitgemäß dreigeteilt, Renaissancefachwerk aus Allstedt, Stolberg und Mansfeld. Und eine Jubiläumsmünze mit dem Motto des Gedenkjahres „Gerechtigkeyt 1525“ soll es geben, erklärt Claudia Hacker.

Müntzer schreitet voran

Sie will im Museum Geschichte fassbar machen. Doch noch sind die oberen Etagen und Räume in der Alten Münze leer. Denn das Museumsteam will die Ausstellungen im Gedenkjahr 2025 weiterentwickeln, erneuern und mit visueller Medientechnik ausstatten, damit sich der Besucher ab Ende März über die Münzstätten im Harz und über Geldgeschichte informieren kann, nach dem Motto „Geprägte Geschichte, Geschichte, die prägt“. Die obere Etage wird Thomas Müntzer und der Entwicklung von Reformation und Bauernkrieg im Südharz gewidmet werden. Schließlich hatten die durch die Reformation erlassenen Stadtordnungen Auswirkungen auf das Stadtleben.

Nahe dem Seigerturm soll Müntzers Geburtshaus gestanden haben. Eine Inschrift in der Niedergasse 2 erinnert an den berühmten Sohn der Stadt.
Foto: Kathrin Jütte

Nahe dem Seigerturm soll Müntzers Geburtshaus gestanden haben. Eine Inschrift in der Niedergasse 2 erinnert an den berühmten Sohn der Stadt.

Heute, an diesem Herbsttag, gibt nur ein kleines geöffnetes Giebelfenster den Blick auf das mittelalterliche Schloss frei. Still lagert der Ort, die Straßen abends sind leer, die Restaurants gefüllt. Einige Wanderer schauen in die Fenster der Geschäfte. Der weiträumige alte Markt erzählt von den reichen Bergbaujahren der heutigen Kurstadt. Vor dem historischen Rathaus erinnert ein Denkmal an Müntzers schauerliches Ende am 27. Mai 1525 vor den Toren Mühlhausens. Die vordere Figur stellt Müntzer dar, voranschreitend, aufrecht. Die Kutte des Predigers trägt er mit entblößtem Rücken, was seine Verwundbarkeit symbolisieren soll. Die vier Ecksäulen sind Abgüsse der Säulen mit geschnitzten Heiligenfiguren, die den Brand in Müntzers angeblichem Geburtshaus 1851 überstanden haben. Hinter ihm steht eine rätselhaft vermummte Gestalt. Die freundliche Nachtwächterin Elke Franke erklärt bei einem abendlichen Rundgang durch den Ort: Mit dieser wollte der Künstler Teile der Gesellschaft darstellen, die sich vor Müntzers Ideen verschlossen. Von ihr erfährt der Besucher auch, dass der Künstler Klaus Messerschmidt das Denkmal auf dem Markt zum 500. Geburtstag Thomas Müntzers 1989 schuf. Es waren noch andere Zeiten. Denn in der DDR wurde Müntzer als Sozialreformer und Bauernführer verehrt.

Theater in der Martinikirche: Einwohner aus Stolberg und der Region Mansfeld-Südharz proben das selbstverfasste Stück „Thomas Müntzer“.
Foto: Kathrin Jütte

Theater in der Martinikirche: Einwohner aus Stolberg und der Region Mansfeld-Südharz proben das selbstverfasste Stück „Thomas Müntzer“.

Straßen und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften trugen seinen Namen. Im Thomas-Münzer-Schacht wurde 1951 nördlich der Stadt Sangerhausen, kaum vierzig Kilometer von Stolberg entfernt, mit der Förderung von Kupferschiefer begonnen. Allerdings in der falschen Schreibweise seines Nachnamens. Auch zahlreiche Schulen führten seinen Namen, den Fünf-Mark-Schein der DDR zierte sein Konterfei.

Dass das Stolberger Denkmal am Markt noch steht, haben die Stolberger selbst entschieden. Bürgermeister Franke ließ nach der Wende abstimmen. Vom knappen Ergebnis für den Verbleib berichtet Nadja Witte im Friwi-Café gleich neben der Alten Münze. Sie ist Geschäftsführerin von Friwi Stolberg, einer Bäckerei für Kekse, Waffeln und Lebkuchen, seit 1891 eine Institution im Südharz. Sie spricht davon, dass Müntzer für sozialistische Ideen missbraucht wurde. Und die Konditorin zeigt stolz ihre neueste Kreation: Im Gedenkjahr garniert das Konterfei von Thomas Müntzer eine Kräuterpraline mit bitterer Schokolade. „Die Stolberger erkennen ihren Müntzer“, sagt Witte, die gleichzeitig auch Vorsitzende des Gewerbevereins ist.

Reformator ohne Porträt

Zur Geschichte gehört auch, dass von Thomas Müntzer kein authentisches Porträt existiert. Das älteste bekannte Bild ist ein Kupferstich des Künstlers Christoph van Sichern aus dem Jahr 1608. Auf neuen Wegen macht die Broschüre des Landkreises Mansfeld-Südharz auf das Gedenkjahr 2025 aufmerksam. Den Titel schmückt ein mit Künstlicher Intelligenz erzeugtes Por­trät Müntzers. Man hat die KI mit „Schlagworten zu Müntzer gefüttert“ und „die entstandene Grafik noch etwas angepasst“, an „Hand und Buch“.

Im Sommer spielt das Theater- projekt auf der mit neuen Bodenplatten und Sitzbänken ausgestatteten Waldbühne.
Foto: Kathrin Jütte

Im Sommer spielt das Theaterprojekt auf der mit neuen Bodenplatten und Sitzbänken ausgestatteten Waldbühne.

Weiter zum Rathaus. Das größte Fachwerkhaus des Ortes schmückt sich mit Medaillons der Stolberger Handwerkszünfte und einer außergewöhnlichen Sonnenuhr. Die breite Außentreppe führt den Besucher hinauf in die St.-Martini-Kirche. Dort, wo schon Luther und Müntzer gepredigt haben, geht es munter zu. „Brote, Brote, frisch und knusprig, frische Brote, Gurken, frische Gurken, und wenn Sie zwei kaufen, können Sie eine essen; Äpfel, Äpfel, die großen für einen Thaler, die kleinen für die Hälfte.“ Mittelalterlich gekleidete Marktfrauen und Bäuerinnen mit ihren Kindern preisen ihre Waren vor dem Taufstein aus Alabaster und Marmor. Zwischendurch tauschen sie sich über ihre Männer aus, die im Tagebau arbeiten. „Besser keinen Mann als so einen Suffkopf wie deinen Paule“, zischt die eine. „Im Wirtshaus am Stammtisch sitzen sie jetzt alle“, ruft eine andere.

Auf dem Weg nach Stolberg fallen die weithin sichtbaren Halden des Kupferschieferbergbaus, Pyramiden des Mansfelder Landes genannt, ins Auge.
Foto: Kathrin Jütte

Auf dem Weg nach Stolberg fallen die weithin sichtbaren Halden des Kupferschieferbergbaus, Pyramiden des Mansfelder Landes genannt, ins Auge.

„Bewegt euch einfach“, kommt der Zuruf von Regisseur Mario Jantosch aus der vordersten Kirchenbank. An diesem Herbstabend proben die Stolbergerinnen das eigens für Stolbergs berühmten Sohn geschriebene Stück. Was alles mit der Idee eines Theatermannes aus Bayern mit dem Ende des Reformationsjubiläums 2017 begann, findet in diesem Gedenkjahr seine letzte Aufführung. Auf der Bühne: Müntzers Gattin, mit ihr versammelt das gemeine Volk. Allein, es fehlt die musikalische Unterstützung vom Chor der Kantorei Goldene Aue und der Organistin Finja Schendzielorz. Nur ein kleines Team der sonst 70 Mitglieder zählenden Theatergruppe spielt heute Abend einige Ausschnitte. Zwischendurch fasst Jantosch die Geschichte zusammen: Ablassbriefe, Müntzers Widerspruch von der Kanzel, die Fahrt nach Wittenberg, der Streit, die Fürsten- und Feldpredigt, der Kampf. Doch während am Spielort in der Martinikirche Illustrationen der Schlacht gezeigt werden, werden im Sommer auf der eigens ausgebauten Waldbühne apokalyptische Reiter einziehen. Bedeutend ist auch: Alle Mitspieler kommen aus Stolberg oder der näheren Umgebung. Zum Team gehören ebenfalls Kinder und Jugendliche des örtlichen Kinderheimes „Albert Schweitzer Familienwerk Sachsen-Anhalt e. V.“ und Bewohner der „Villa Noah“ in Stolberg, ein Projekt für Menschen mit Suchterkrankungen.

Geschichte in Stein

Zurück ins Zentrum und doch eine Welt entfernt. Unweit des Stolberger Bahnhofs liegt ein kleiner Park. Am Rand eines Kinderspielplatzes verbirgt sich eine Skulptur. Sie zeigt Müntzer theatralisch marschierend als Fahnenschwenker. Für ein Foto muss das Werk von Ästen freigelegt werden. Der deutsche Bildhauer und Medailleur Robert Propf (1910–1986) hat Stolbergs zweites Müntzer-Denkmal geschaffen, zu DDR-Zeiten blieb es im Bürgerpark unbeachtet. „Freischneiden reicht nicht“, sagt Museumsfrau Claudia Hacker. Die Spielgeräte müssten zurückgesetzt werden, damit die Sichtachse freigegeben werde. Ja, da haben Eifrige vor einigen Jahren dem berühmtesten Sohn der Stadt Kinderspielgeräte vor die Nase gesetzt.

Versteckt hinter einem Kinderspielplatz verbirgt sich das zweite Müntzer-Denkmal in Stolberg.
Foto: Kathrin Jütte

Versteckt hinter einem Kinderspielplatz verbirgt sich das zweite Müntzer-Denkmal in Stolberg.

Was bleibt lebendig im Gedenkjahr von Müntzer, fern der versteinerten Geschichtsmomente? „Unten in der fremden Erde rufen uns die Toten zu, Söhne, Eltern, Brüder, Gatten, welche wir am liebsten hatten, viele starben im Felde, schuld bist du, und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen, werden die Menschen es niemals lernen?“ Fortwährend tönt das Rufen der Bäuerinnen und Kinder aus der Martinikirche im Ohr. 

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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