Wegweisendes Wort

Klartext
Foto: privat

Mehrfaches Dé­jà-vu

1. SONNTAG NACH EPIPHANIAS, 12. JANUAR

Siehe, die Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde wird vor euch hergehen in den Jordan … Und ganz Israel ging auf trockenem Boden hindurch, bis das ganze Volk über den Jordan gekommen war. (Josua 3,11+17)

From the river to the sea. Diese Losung klingelt beim Lesen des Josuabuches in den Ohren. Das Fernziel gewaltbereiter amerikanisch-jüdischer Siedler, die Palästinenser für immer aus dem Westjordanland zu vertreiben, haben propalästinensische Sympathisanten auf antiisraelischen Demonstrationen umgekehrt: Der Staat Israel soll für immer ausgelöscht werden. Denn mit der Losung from the river to the sea ist das umkämpfte Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer gemeint. 

Die Geschichte vom lang ersehnten Einzug des jüdischen Volkes ins Land Israel bewirkt ein mehrfaches Déjà-vu: Sie erinnert an seinen Auszug aus der Sklaverei in Ägypten. Wie Gott einst das Schilfmeer nahe dem Golf von Suez teilte und die Israeliten trockenen Fußes hindurchführte, führt er sie jetzt durch den Jordan. 

Die gute Nachricht: Der „Völkermord“ an den Vorbewohnern des Landes findet nur auf dem Papier statt. Die schlechte Nachricht: Weil er in der Bibel steht, hat er im Christentum eine verheerende Wirkung entfaltet. Dabei verzichtet Josua, der vermeintliche Eroberer, auf eine Truppenparade und Waffenschau und lässt stattdessen die Bundeslade vorangehen, Gottes Wort in seiner Tora, Wegweisung für Jüdinnen und Juden. 

Ein weiteres Déjà-vu: Wieder ist es ein Jehoshua/Jesus, ein Kind des jüdischen Volkes, der nach der Flucht nach Ägypten in sein Land zurückkehrt und am Jordan durchs Wasser gezogen wird. 

 

Klare Kante

2. SONNTAG NACH EPIPHANIAS, 19. JANUAR

Eure Liebe sei ohne Hinter­gedanken. Nennt das Böse beim Namen und werft euch dem Guten in die Arme. Liebt einander von Herzen wie Geschwister und übertrefft euch gegenseitig darin, einander Achtung zu erweisen … Seid jederzeit gastfreundlich. (Römer 12,9–10+13)

Was auf den ersten Blick wie eine Moral aus dem Poesiealbum daherkommt, erweist sich als Ideal mit Bodenhaftung, als Ausdruck wahrer Liebe. Aber die Versuchung liegt nahe, das Christentum als „universale Liebesreligion“ gegen die jüdische „Stammesreligion“ mit ihrer „Vergeltungsethik“ auszuspielen. Dabei ist die Liebes-Ethik des Apostels Paulus mit ihrem Verzicht auf Vergeltung und der Aufforderung zur Liebe genuin jüdisch.

Es geht um Geschwisterliebe. Aber mit der in Kirchen gebräuchlichen Anrede „Geschwister“ habe ich ein Problem. Denn sie verschleiert häufig, wo die Entscheidungskompetenzen liegen. Aber etwas hat der familiale Begriff trotzdem für sich: Geschwister kann ich mir nicht aussuchen. Und wie ich mich in einer Familie vorfinde, die ich nicht gewählt habe, muss ich lernen, auch in der Kirche mit Mitmenschen zu leben, ja sie zu lieben, deren Lebensstil, persönliche und politische Einstellungen mir unsympathisch sind. Respekt vor dem Anderssein des Anderen ist aber nur das Stichwort für etwas, das heute – nicht nur in der politischen Auseinandersetzung – immer mehr abhandenkommt. 

Ein Letztes: Wer seine Geschwister liebt, muss sich einmischen, klare Kante zeigen, notfalls auch Schuld auf sich laden, um das Böse zu überwinden. Denn wahre Liebe ist eben beides: warm, herzlich, mitfühlend, zugleich respektvoll, vernünftig, Distanz wahrend.

 

Neues Leben

3. SONNTAG NACH EPIPHANIAS, 26. JANUAR 

Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte ihr: „Gib mir zu trinken!“ … Da sagte die Samariterin zu ihm: „Du bist ein Jude, und ich bin eine Samariterin. Wie kannst du mich um etwas zu trinken bitten?“ … Darauf antwortete Jesus: „Wer von diesem Wasser hier trinkt, wird wieder Durst bekommen. Aber wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben.“ (Johannes 4,7+9+13–14)

Die Einladung der neuen Nachbarin überraschte mich. Denn außer einem flüchtigen Gruß gab es in der Nachbarschaft kaum Kontakte. Aber dann traf ich auf eine bunte und hochinteressante Mischung von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Sprache. Und die hätte ich ohne die neue Nachbarin nie kennengelernt.

Das war vielleicht auch der Fall, als Jesus erschöpft und durstig durch das biblische Samaria im heutigen Westjordanland wanderte und am Jakobsbrunnen (in der Stadt Nablus) eine Samaritanerin um Wasser bat. 

Die kleine Minderheit der Samaritaner gibt es noch. Anders als für Juden sind für sie nur die fünf Bücher Mose Heilige Schrift. Im israelischen hebräischsprachigen Cholon bei Tel Aviv leben sie, und beim palästinensischen arabischsprachigen Nablus liegt ihr heiliger Berg Garizim. Dort treffen sie sich jährlich zum samaritanischen Pessach. Jede Familie schlachtet ein Lamm, und wie bei einem riesigen Grillfest wird es gemeinsam verzehrt. 

Eine überraschende Begegnung zwischen jenen, die sonst keinen Kontakt haben, ereignet sich zwischen dem Juden Jesus und der Samaritanerin. Sie reden über Wasser und über die Quelle des Lebens. Menschen müssen nicht für sich bleiben, sondern können einander frei von Vorurteilen begegnen. Jesus selbst ist die Quelle, die allen Lebensdurst stillt. Da fühlt sich das Leben plötzlich frisch und ermutigend an. Die eigene Lebensgeschichte wird zur Gottesgeschichte. Ihr Glanz strahlt auf andere aus. Und das wird zu einer Berufung, die das Leben für immer verändert.

 

Tröstender Blick

LETZTER SONNTAG NACH EPIPHANIAS, 2. FEBRUAR 

Mose bemerkte, dass der Dornbusch in Flammen stand und trotzdem nicht verbrannte … Gott rief ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der 
Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! ... Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt … Ich werde sein, der ich sein werde. (2. Buch Mose 3,2+4–5+7+14)

Das letzte Album des kanadischen Dichters und Musikers Leonard Cohen (1934–2016) mit dem Titel You want it darker erschien drei Wochen vor seinem Tod. Und dieses Album ist tiefer, ernster, dunkler als alle vorherigen, so als hätte er sein Kaddisch, das Totengebet, selbst geschrieben. Cohen, der sich immer als Jude bekannt hat, ringt mit Gott. Ob Gott ihn hört? Ob er unser Bitten und Flehen hört?

Um diese Frage geht es auch in der Geschichte vom brennenden Dornbusch, als Gott Mose in seinen Dienst nimmt. Gott braucht keinen bestimmten Ort und hat keinen Tempel, keine Kirche als Adresse, um angebetet zu werden. Aber wo er sich gerade verbirgt, ist heiliger Boden – und sei es ein trockener Dornbusch. Mose zieht die Schuhe aus, aus Respekt vor Gottes Eigentum.

Gott braucht auch keinen bestimmten Namen. Was ihn auszeichnet: Wie er mit seinem Volk in der Sklaverei litt, hört er das Schreien derer, die in Krankenhäusern, an Gräbern und auf Schlachtfeldern weinen.

Nur an dieser Bibelstelle enthüllt Gott seinen Namen: „Ich bin für euch da als der ich für Euch da sein werde“. Und er verhüllt ihn zugleich. Vier Buchstaben stehen für diesen Namen in der Hebräischen Bibel: JHWH. Dass niemand weiß, wie er auszusprechen ist und dass Juden die Bezeichnung Adonai („Herr aller Herren“) gebrauchen, schützt Gottes Heiligkeit vor Missbrauch, wie es das 2. Gebot gebietet. Dem Namen Gottes entspricht das „Hineni! Hier bin ich!“, das Mose spricht, ohne dass er weiß, was auf ihn zukommt. Und so hört sich auch bei Leonard Cohen der vielleicht tröstendste Blick auf das Ende an, demütig, ehrfürchtig, gelassen und bereit, wenn er mit reibeiserner Stimme singt „Hineni, hineni, I’m ready, my Lord!“

 

Offene Augen

4. SONNTAG VOR DER PASSIONSZEIT, 9. FEBRUAR 

Da kam ein starker Sturm auf. Die Wellen schlugen ins Boot hinein, sodass es schon volllief. Jesus schlief hinten im Boot auf einem Kissen. Seine Jünger weckten ihn und riefen: „Lehrer! Macht es dir nichts aus, dass wir untergehen?“ … Jesus fragte die Jünger: „Warum seid ihr so feige? Habt ihr keinen Glauben?“ (Markus 4,37–38+40)

Erst wenn ich die Umstände verstehe, vor deren Hintergrund Markus 30 Jahre nach Jesu Tod die Geschichte von der Sturmstillung verfasste, und ich einen Moment von mir selbst absehe, kann ich in sie eintauchen. Denn der Evangelist schreibt inmitten der Katastrophe des jüdisch-römischen Krieges. Viele Aufständische flohen damals in Booten über den See Genezareth. Aber sie wurden von den Römern eingeholt und umgebracht. „Der ganze See sah aus, wie von Blut gerötet und wie von Leichen angefüllt“, schreibt der jüdische Historiker Flavius Josephus (37/38–100 n. Chr.) in seinem Werk Bellum Judaicum.

Der See Genezareth heißt auf Hebräisch „Meer“. Und dieses Wort ist in der Bibel ein Sinnbild für das Chaos. Die zwölf Jünger auf dem wildgewordenen Meer sterben fast vor Angst (so wie das jüdische Volk, das im lebensgefährlichen Meer der Völkerwelt ums Überleben kämpft). Doch Jesus schläft. Und wo ist Gott? 

Jesus hält seinen Jüngern ihre Verzagtheit, ja Feigheit vor. Angesichts des heute immer lauter werdenden Antisemitismus und Rassismus bedeutet das: statt zu entsprechenden Äußerungen zu schweigen, deutlich zu widersprechen – auch mit dem Risiko, sich keine Freunde zu machen.

Jesu Weg in die Passion ist auch für uns kein Spaziergang. Ihm nachzufolgen, heißt auch: Augen, Ohren und Herz nicht verschließen vor denen, die die Menschenwürde verachten und sie zerstören wollen, und zugleich an der Hoffnung auf den festzuhalten, dessen Licht schon jetzt aufstrahlt – und der letztlich den Tod besiegen wird.

 

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