„Kirche mit anderen“ sein

Praktische Beispiele für Nachhaltigkeit und Sozialraumorientierung von Gemeinden aus Kassel
Lebensmittel-„Fairteiler“ in der Kasseler Hoffnungskirchengemeinde: 20 Menschen arbeiten hier in einem interkulturellen Team zusammen und geben „gerettete“ Lebensmittel an Bedürftige weiter.
Foto: Andreas Fischer
Lebensmittel-„Fairteiler“ in der Kasseler Hoffnungskirchengemeinde: 20 Menschen arbeiten hier in einem interkulturellen Team zusammen und geben „gerettete“ Lebensmittel an Bedürftige weiter.

Vielen Kirchengemeinden steht ein großer Veränderungsprozess bevor. Doch wohin genau können sie sich entwickeln? Ruth Gütter, Pfarrerin in Ruhestand und langjährige Referentin für Nachhaltigkeit der EKD, stellt positive Beispiele aus ihrer Heimatstadt Kassel vor. Sie zeigen, warum Nachhaltigkeit und Sozialraumorientierung wichtige Kriterien in den Debatten um die Nutzung von Kirchengebäuden sein sollten.

Wir leben in Zeiten vielfältiger Krisen. Der Ukrainekrieg und seine Folgen, politische und wirtschaftliche Eruptionen, die Zunahme von sozialen Ungleichheiten, das Ergebnis der Wahlen in Ostdeutschland, in den USA sowie das Ende der Ampelkoalition 2024 – das alles erzeugt bei vielen ein Gefühl der Unsicherheit. Viele sorgen sich um die Zukunft der Demokratie und auch ganz persönlich um die eigene Zukunft. Hinzu kommt, dass auch die kirchlichen Institutionen sich in einer Krise befinden, weil sie Mitglieder und mit ihnen auch Finanzen sowie Gestaltungsspielraum verlieren.

Angesichts dieser vielen Krisen, die alle in sich schon eine große Herausforderung sind, gerät fatalerweise das in den Hintergrund, was nach Überzeugung vieler Wissenschaftler die größte Herausforderung der Gegenwart ist: die Klimakatastrophe. Deren Auswirkungen werden nicht nur immer massiver und bedrohlicher, sie stellen das Überleben der Menschheit ganz grundsätzlich in Frage.

Das alles fordert auch die Kirchen heraus. Die Evangelische Kirche in Deutschland und auch die Landeskirchen haben sich dazu klar positioniert. Schöpfungsverantwortung und Verantwortung für ein gerechtes und friedliches Zusammenleben werden in vielen Stellungnahmen immer wieder als wichtige Aufgabe der Kirche beschworen. Klimaschutzkonzepte und Klimaschutzgesetze wurden verabschiedet, mit denen die eigene kirchliche Praxis im Bereich Nachhaltigkeit verbindlicher und glaubwürdiger werden soll.

Harald Welzer fordert in seinem Buch Zeitenende, dass es angesichts dieser multiplen Krisen mehr „Orte des Zusammenhaltes“ geben muss, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Akteure in einen Austausch kommen und eine Verständigung darüber stattfindet, welche Visionen wir als Gesellschaft für ein gutes Leben für alle haben. Als einen solchen möglichen Ort des Zusammenhaltes schlägt er unter anderem ehemalige oder noch bestehende Kirchen vor. Das ist eine Steilvorlage für die aktuellen kirchlichen Reformprozesse, die eine Verschlankung kirchlicher Strukturen und Umnutzung von kirchlichen Gebäuden diskutieren (siehe auch Schwerpunkt in  zz 11/2024). In der Tat gibt es seit einigen Jahren in Diakonie und Kirche interessante Konzepte zur Sozialraumorientierung. Mit diesen werden die Kirchengemeinden stärker als bisher als Kooperationspartner im Sozialraum verstanden, der sich gemeinsam mit anderen für das Gemeinwohl und für die Stärkung derer einsetzt, die besonders verletzlich sind.

Das ist alles sehr zu begrüßen. Aber wo, so frage ich mich, werden in den Reformprozessen um die Zukunft der Kirche eigentlich diese Aspekte der Nachhaltigkeit und der Sozialraumorientierung berücksichtigt? Aus meiner Wahrnehmung geschieht dies eher selten. Und wenn, dann nur auf theoretischer Ebene. Von Erfahrungen und Suchbewegungen, wie es in der Praxis aussehen könnte, wenn Nachhaltigkeit und Sozialraumorientierung mehr Gewicht hätten, möchte ich berichten.

Labore im Stadtteil

In Kassel gibt es seit Anfang 2024, angestoßen von dem Fachbereich Nachhaltigkeitsforschung der Universität Kassel, sogenannte „SDG-Labs“. Das sind Reallabore in einigen Stadtteilen, bei denen es darum geht, wie die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals) der UN durch eine breite Partizipation umgesetzt werden können. Für einen begrenzten Zeitraum wurden Stadtteilläden eingerichtet, in denen Bürger und Bürgerinnen sich darüber austauschten, wie ihr Stadtteil im Sinne der Nachhaltigkeit lebenswerter werden kann und Menschen mehr Selbstwirksamkeit im Bereich Nachhaltigkeit erleben können. Solche Prozesse stießen auf eine überwältigende und sehr vielfältige Resonanz. In unserem Stadtteil Kassel-Kirchditmold fanden innerhalb von nur zwei Monaten über 80 Veranstaltungen statt: Von gemeinsamer Bearbeitung von Grünflächen, Baumpflanzaktionen, Kreativwerkstätten zu Upcycling, Kleidertauschbörsen, Informationsveranstaltungen zu Food-Sharing, Selbsterntefeldern, Gemeinwohlökonomie, Bürgersolarberatung bis hin zu sehr gut besuchten Diskussionsveranstaltungen um Verkehrs- und Klimapolitik reichte das Spektrum. Da unsere Kirchengemeinde gleichzeitig einen Prozess zu einer „ökofairen Kirchengemeinde“ durchlief, brachte sie sich ebenfalls vielfältig ein. Sie stellte dort ihre Pläne für eine nichtfossile Kirchenheizung wie auch für ein nachhaltiges Nachbarschaftszentrum vor. Eine besonders schöne „Frucht“ des Prozesses im Stadtteil ist der gemeinsam organisierte monatliche „Feierabendmarkt“ um die Kirche herum, bei dem man regionale und biologische Produkte kaufen und sich bei einer Tasse Kaffee, einem Bier oder einer Biobratwurst unkompliziert treffen und austauschen kann.

Die Erfahrungen dieser „Reallabore“ zeigen, dass es viele Menschen gibt, die sich trotz aller Demokratieverdrossenheit gern für das Gemeinwohl und für Nachhaltigkeit engagieren, wenn sie erleben, dass sie tatsächlich vor Ort etwas bewirken können und dabei noch mit anderen in einen lebendigen Austausch kommen.

Ideen für ein nachhaltiges Nachbarschaftszentrum in Räumen der Kirchengemeinde passen sehr gut in diesen Prozess. Ursprünglich angestoßen wurden sie aber durch Planungen der Landeskirche, wonach künftig nur noch etwa ein Drittel der Gebäude finanziert werden kann. Für die anderen müssen neue Konzepte und Kooperationspartner gefunden werden. Schon frühzeitig hat sich in unserer Gemeinde eine Gruppe gebildet, die Pläne für die Nutzung einer Kirche und des Gemeindehauses gemeinsam mit anderen Akteuren aus der Nachbarschaft entwickelt. Da diese Kirche – erbaut in den 1960er-Jahren – sich in einem Umfeld mit sozialem Wohnungsbau befindet, ist neben besonderen Gottesdienstformen ein „nachhaltiges Nachbarschaftszentrum“ mit Mittagstisch aus geretteten Lebensmitteln sowie weiteren sozialen und nachhaltigen Angeboten geplant, so etwa „Fairteiler“, also Orte, an denen gespendete Lebensmittel kostenlos abgeholt werden können, „Repaircafés“, Kreativ- und Spieleangebote und vieles mehr. Noch ist aber offen, ob dieses Konzept genügend finanzielle Unterstützer findet, um es umzusetzen.

Geld von der EU

Vorbild für ein solches Nachbarschaftszentrum könnte ein Zentrum in einem anderen Kasseler Stadtteil sein, das schon seit zwölf Jahren besteht. In einem sozialen Brennpunkt gelegen, hat die dortige Kirchengemeinde sich schon früh für die sozialen Herausforderungen in ihrem Umfeld geöffnet und Räume für einen Mittagstisch, für Suchtberatung und für Werkstätten zur Beschäftigung von Arbeitslosen bereitgestellt. Eine große Chance für einen weiteren Schritt ergab sich durch ein EU-finanziertes soziales Stadtbauprogramm, in dessen Rahmen das Gemeindehaus grundlegend saniert und zu einem Stadtteilzentrum umgebaut wurde, das heute vom Diakonischen Werk und einem Kulturverein mit vielfältigen Angeboten betrieben wird.

Bedingung der Finanzierung war, dass das Haus für 25 Jahre für öffentliche Zwecke genutzt wird. Die Umwandlung des Gemeindehauses geschah nicht aus finanzieller Not oder mangelndem Eigenbedarf, sondern aus dem Willen der Kirchengemeinde, mit anderen gemeinsam etwas für die Menschen vor Ort zu bewirken. Die Kirchengemeinde nutzt die Kirche weiter für Gottesdienste, aber auch für Konzerte und soziale Zwecke wie etwa eine Essensausgabe. Der Pfarrer, der 2012 in die Gemeinde kam, hat dieses Konzept der Sozialraumorientierung konsequent interkulturell weiterentwickelt. Migrationsgemeinden haben hier eine Heimat gefunden und auch eine interkulturelle Musikarbeit. Heute finden in der Kirche dreimal in der Woche Essensausgaben für Bedürftige statt, organisiert durch ehrenamtlich arbeitende Migranten. Über Stunden verwandelt sich die Kirche in eine Markthalle, in der gerettetes Gemüse und Obst sowie Backwaren sortiert und in Haushaltsportionen schließlich an rund 50 Personen ausgegeben werden, die sich durch Bescheinigungen des Jobcenters ausweisen müssen. Am Sonntag werden in dieser „Markthalle“ Gottesdienste der deutschen Gemeinde und von zwei Mi­grationsgemeinden gefeiert.

Bei den aktuellen Reformprozessen ist die Frage zentral, welche Kirche wir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit sein wollen. Beide gerade beschriebenen Kirchengemeinden waren und sind durch den konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung geprägt. Sie stehen für eine „Kirche mit anderen“, wie sie zum Beispiel die öffentliche Theologie in einer Weiterentwicklung einer „Kirche für andere“ (Bonhoeffer) vertritt.

Beate Hofmann, Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, hat sich ebenfalls für ein Leitbild stark gemacht, das sich am Gemeinwohl orientiert. Sie fordert eine veränderte Haltung, weg vom „Wir und Die“ zu „Was können wir mit anderen zum Gemeinwohl beitragen?“, weg vom „Wir laden ein“ zum „Wo werden wir gebraucht?“, weg vom traditionellen Modell zu einem „missionalen Modell“.Falsche Leitlinien

Mein Eindruck ist, dass sich die Reformprozesse insbesondere im Bereich Gebäude in der Praxis jedoch nicht in erster Linie an solchen theologischen Leitvorstellungen orientieren, sondern an wirtschaftlichen, an gebäudetechnischen und städtebaulichen Fragen. Das führt dazu, dass Gemeinden, die eine historische, ortskernprägende oder energetisch intakte Kirche haben, aber eher nach dem „traditionellen Modell“ einer Ortsgemeinde arbeiten, weiterhin unhinterfragt eine finanzielle Förderung bekommen. Andere Gemeinden, die zwar Innovationen planen und sich zu einer „Kirche mit anderen“ entwickeln wollen, gehen leer aus, weil ihre Kirche keine historische Bedeutung hat, in schlechtem energetischen Zustand oder eben nicht im Ortskern steht, sondern eher im prekären Randbezirk.

Müsste es nicht eigentlich umgekehrt sein? Dass die Gemeinden, die neue innovative Modelle entwickeln, gefördert werden – mit Beratung und nicht zuletzt auch mit Finanzen? Zwar gibt es in der EKKW auch einen Innovationsfond, aber der fördert leider keine Baumaßnahmen. Dabei ist es kein Spaziergang, eine „Kirche mit anderen“ zu werden, dieser Prozess erfordert viel Zeit und Kraft. Es bedeutet, viele Planungsrunden mit Ehrenamtlichen zu drehen, Gespräche mit potentiellen Kooperationspartnern zu führen, Fördermöglichkeiten zu eruieren, Förderanträge zu schreiben et cetera. Und das alles neben der laufenden klassischen Gemeindearbeit.

Auch eine „Kirche mit anderen“ wird eine Kirche bleiben, die ein Ort der spirituellen Gemeinschaft und der Vergewisserung im Glauben bleibt. Denn auch die, die mit anderen Kirche sein wollen, brauchen die Hilfe dessen, der für sie da ist mit seinem Trost und Segen. Aber dabei bleiben sie nicht stehen. Als „Kirche mit anderen“ wollen sie ein „Ort des Zusammenhaltes“ sein und mit vielen anderen danach suchen, wie ein gutes Leben für alle aussehen kann. 

 

Links zum Thema
www.mi-di.de/themen/sozialraumorientierung

www.sdgpluslab.de/themenjahre/energie-umwelt/zukunftsorte-kirchditmold

www.stadtteilzentrum-wesertor.de/startseite

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