Der bekannte Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in seinem neuen Buch Erfahrungen des Verlusts als ein Grundproblem der Moderne. Der Theologe Horst Gorski, bis 2023 Vizepräsident der EKD in Hannover, buchstabiert diese Erkenntnisse im Blick auf den Glauben und das Wirken der evangelischen Kirche aus. Er konstatiert: Es gibt ein Problem.
Immer wieder kommen Impulse zum Nachdenken über die Kirche aus den Sozialwissenschaften. Das ist nicht so verwunderlich, wie es zunächst scheinen mag, denn die Kirche kann ihr Dasein in der Welt nur im Dialog mit einem Verständnis ebendieser Welt beschreiben. Kirchentheorie braucht Gesellschaftstheorie, um einen Blick auf das Umfeld zu gewinnen, in dem die Kirche lebt und das Evangelium weitersagt. Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz hat in seinem neuen Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ einen Theorieansatz zum aktuellen Verständnis unserer Gesellschaft vorgelegt. Er schlägt vor, unsere Gegenwart unter dem Gesichtspunkt der Verluste zu betrachten, die die Menschen verarbeiten müssen. Letztlich geht es um den Verlust der Zukunft als etwas, auf das man hoffen kann.
Reckwitz beschreibt zunächst das Fortschrittsnarrativ, das von der Moderne seit etwa 250 Jahren erzählt wird und aus dem ihre Entwicklung maßgeblich Energie bezog. Er buchstabiert dies aus für die drei Bereiche Ökonomie, Technik und Staat. Sehr vereinfacht gesagt: Es wird allen Menschen mit fortschreitender Zeit wirtschaftlich besser gehen, ihr Leben wird durch technischen Fortschritt erleichtert werden, gesundheitliche Risiken werden durch medizinischen Fortschritt zunehmend abgefedert, und der Staat wird zu einem rechtsstaatlichen, liberalen Rahmen, in dem die Individuen in Freiheit leben, sachlich informiert vernunftgerichtete Diskurse führen und so die besten Entscheidungen für die Zukunft treffen können.
Auf diesem Weg hat es immer nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste gegeben. Der Adel verlor Privilegien, die Kirche Macht, die Industrialisierung brachte die Verelendung der Arbeiterfamilien mit sich, die Großfamilien mit ihren unterstützenden Funktionen lösten sich auf, in den Städten wuchs die Anonymität, die Zweckrationalität verdrängte das Mitgefühl. Dafür aber wurde das Leben durch technische Errungenschaften leichter, der Mittelstand kam zu mehr Wohlstand, Krankheiten konnten geheilt, die Kindersterblichkeit gesenkt werden, die Freiheiten in der persönlichen Lebensgestaltung nahmen zu, und immer mehr Menschen konnten auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen.
„Verlustparadox“ der Moderne
Reckwitz nennt diese Gegensätze das „Verlustparadox“ der Moderne. Sie wurden zu einer Erzählung verwoben, die besseres Leben für alle in Aussicht stellte, auch für die, die bisher daran noch nicht teilhatten. Die Zukunft würde auf jeden Fall besser werden als die Gegenwart, erst recht als die Vergangenheit. Krisen, sowohl auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene, wurden als „Dellen“ in der Aufwärtsbewegung gedeutet. So konnten selbst Verluste und Rückschritte als Teil des Weges zu einer besseren Zukunft gedeutet werden. Manche Wissenschaftler sehen einen Ursprung dieses Fortschrittsnarrativs im christlichen Glauben an eine Heilsgeschichte. Das Fortschrittsnarrativ der Moderne ist aus dieser Sicht eine Art Säkularisat der christlichen Endzeithoffnung. Reckwitz macht vor allem drei Faktoren aus, die das Fortschrittsnarrativ derzeit in Frage stellen: die ökologische Krise; die Tatsache, dass die westlichen Gesellschaften im globalen Zusammenspiel offenbar den Zenit ihrer Macht überschritten haben; und die demografische Entwicklung einer alternden Gesellschaft, der die Ressourcen für ein „Immer mehr und immer besser“ ausgehen. Diese (und andere Faktoren) bringen, sagt Reckwitz, den Fortschrittsmotor so gründlich zum Stottern, dass man fragen muss, ob wir womöglich auf den Verlust der Moderne selbst zugehen. Auf jeden Fall, so beobachtet er, reagiert die Gesellschaft, reagieren die Menschen auf diese Erschütterungen sehr sensibel und mit Verunsicherung.
Stetes Ausbalancieren
Um die Verteilung und die Deutung von Verlusten werden Konflikte ausgetragen. Wer hat beispielsweise im Blick auf das Thema Flucht und Migration welche Verluste zu ertragen, wie sind sie zu deuten, und wie werden sie gewichtet? Zählen nur die Verluste derer, die ihre Heimat verlassen mussten? Wie verhalten sich dazu die empfundenen Verluste an Überschaubarkeit und Vertrautheit, ja Identität in den aufnehmenden Gesellschaften?
Reckwitz beschreibt, mit welchen Mechanismen reagiert wird: Der Populismus bewirtschaftet Verluste, indem er sie in Stimmungen umsetzt und sie sich politisch zunutze macht. Liberale Demokratien werden in illiberale oder autoritär gelenkte Demokratien überführt, um Verluste zentral steuern zu können. Erschöpfung führt zu politischem Desinteresse und zum Nachlassen der Aufmerksamkeit für die ökologische Krise, für Kriege und globale Konflikte. Weil das oben beschriebene Ausbalancieren von Verlusten und Gewinnen und die Hoffnung darauf, dass es für alle besser werden wird, nicht mehr funktionieren, kommt es, so Reckwitz, zur „Verlusteskalation“. Aus Immanuel Kants Frage „Was dürfen wir hoffen?“ werde auf diesem Wege die Frage „Was müssen wir fürchten?“. Nicht mehr die Zukunft erscheint verheißungsvoll, sondern die Vergangenheit wird verklärt. Und die Gegenwart ist das, was man mindestens zu bewahren hofft. Ob die Moderne aus dieser Krise verändert und gestärkt hervorgehen oder ob es zu einer nach-modernen Zeit, zu einem Verlust der Moderne kommen werde, ist aus seiner Sicht offen. Mit diesem Ausblick endet das 400 Seiten starke Buch.
Aus dem Blickwinkel dieser Theorie werfe ich einen Blick auf die evangelische Kirche in Deutschland (auf ihren Raum beschränke ich mich hier). Sie hat ihr konkretes Verständnis des Evangeliums in den letzten 40, vielleicht 50 Jahren mit den Paradigmen verbunden, die die Gesellschaft zunächst der kleinen (im Westen) und dann der großen Bundesrepublik bestimmt haben. Diese Paradigmen waren eben die der Moderne: die liberale Demokratie, das „öko-emanzipatorische Projekt“ (also das Vorhaben, die negativen Folgen der industriellen Moderne auf Mensch, Umwelt und Klima durch sachliche Aufklärung und dementsprechende Entscheidungen der vernünftigen Individuen zu beheben oder wenigstens zu mildern), die Orientierung an betriebswirtschaftlicher Planung, an ökonomischen Maßstäben von Effizienz und steigendem Wohlstand (nach 1990 schien dies zunächst weltweit die einzig verbliebene Zukunftsvision zu sein), die Diversifizierung der Lebensformen in einer offenen Gesellschaft und schließlich die Annahme, durch fortschreitende Universalisierung der Menschenrechte werde ein friedliches und gerechtes Zusammenleben in der Welt tendenziell zunehmen. Plakativ gesagt, wurden liberale Demokratie, Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Toleranz und eine diverse, offene Gesellschaft zu konkreten Markern des Evangeliums, sprich: Eine Welt, in der diese Kategorien und die mit ihnen verbundenen Werte verwirklicht werden, erscheint als die dem Evangelium von Jesus Christus am besten entsprechende. Das ist die evangelische Meta-Erzählung, die auch mich geprägt hat.
Wenn wir aber das Ausbuchstabieren des Evangeliums für unsere Zeit mit den Paradigmen verbunden haben, die das Fortschrittsnarrativ der Moderne erzählen, was bedeutet dann die Krise dieser Paradigmen für das Ausbuchstabieren des Evangeliums? Bedeutet der Verlust des Fortschrittsnarrativs der Moderne auch den Verlust der evangelischen Meta-Erzählung, mit der große Teile der evangelischen Kirche in Deutschland, mich eingeschlossen, identifiziert sind? Und falls ja, was folgt daraus?
Das Evangelium ist bekanntlich in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Es kommt dann sachgemäß (also seinem Anspruch gemäß) zur Geltung, wenn es als ein kritischer und widerständiger Bezugspunkt des Lebens außerhalb der sichtbaren Alltagswelt verstanden wird und mit keiner sozialen oder politischen Bewegung identifiziert wird.
Methodisch stehen wir vor dem Problem, dass wir Menschen mit unserer Erkenntnisfähigkeit unausweichlich in einem hermeneutischen Zirkel stehen, also nicht einfach aus unserer Welt herausspringen und sie von außen betrachten können. Einen solchen „archimedischen Punkt“ haben wir nicht, auch nicht in Gestalt des Evangeliums. Denn auch dieses ist uns nur durch unsere menschliche Brille, nicht absolut, zugänglich.
Komplexe Verbindung
Das Evangelium von Freiheit, Menschenrechten, Toleranz und offener Gesellschaft mag uns zwar als das endlich zu sich selbst gekommene „echte“ Evangelium erschienen sein (und unsympathisch ist dieser Gedanke ja nicht), aber auch dieses Verständnis des Evangeliums ist eine komplexe Verbindung aus biblischer Botschaft und gesellschaftlichen Paradigmen. Die Weiterentwicklung unseres Verständnisses des Evangeliums erfordert deshalb methodisch ein Nachdenken auf mehreren Ebenen. Unser Verständnis des Evangeliums ist nicht das Ende der Geschichte, sondern zeitgebunden. Es würde zu kurz greifen, es gegen alle Veränderungen einfach nur schützen zu wollen. Aber ebenso wenig darf es preisgegeben werden. Es darf auch nicht aus Furcht vor dem Ende der Moderne dieses Ende voreilig vorweggenommen werden. Versuche, das Evangelium als Erzählung von Identität, Ausgrenzung und autoritären Herrschaftsformen neu zu buchstabieren, gibt es bereits.
Drei Gesichtspunkte nenne ich, die bei diesem Nachdenken nützlich sein können: Zum einen geht es um die Ressourcen, von denen wir leben und die uns helfen, mit Verlusten konstruktiv umzugehen. Resilienzstärkung aus dem Glauben an eine Kraft, die nicht von den Erschütterungen der Welt abhängt, würde auf individueller Ebene helfen, mit den Transformationen besser fertig zu werden. Ein anderer Gesichtspunkt ist die Verteilung der Verluste und ihrer Kosten. Wenn Verluste eskalieren, ist es dringlicher denn je, sie gerecht zu verteilen, ihre Folgen zu mildern und zu verhindern, dass sie auf die schwachen und vulnerablen Gruppen abgeschoben werden; dass Gewinne privatisiert, Verluste aber vergesellschaftet werden. Zuletzt: Wenn die Frage nach der Hoffnung nun abgelöst wird von der Frage, was wir fürchten müssen, so muss man vom christlichen Weltbild her antworten: Nichts, nichts müssen wir fürchten. Daraus allerdings müsste nun seinerseits ein Säkularisat gewonnen werden, das anschlussfähig ist an die gesellschaftlichen Diskurse um die Umsetzung in reale Politik und reales Leben. Anders gewendet: Was müssen wir tun, damit wir nichts zu fürchten haben? Wenn es gelänge, dies zu beschreiben, wäre dies ein Baustein, das Evangelium zeitgerecht auszubuchstabieren.
Literatur
Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 463 Seiten, Euro 32,–.
Horst Gorski
Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover.