Thomas Müntzer gilt als umstrittener Reformator: Zunächst glühender Anhänger Martin Luthers, später dessen scharfer Gegner, der sich als Führer der Bauernschaft verstand. Der Frage, was uns Thomas Müntzer heute, 500 Jahre nach seinem Tod, noch zu sagen hat, geht der Praktische Theologe und niedersächsische Landesbeauftragte gegen Antisemitismus, Gerhard Wegner, nach.
Was hat man nicht alles aus ihm gemacht. Einen vom Teufel besessenen Allesverderber, wie Martin Luther ihn brandmarkte. Oder den wahrhaftigen Heiland und Erlöser, „Liebknecht mannigfach verwandt, als unerbittlicher Organisator deutlich genug, um selbst Lenin und seinem Geschlecht nicht fernzustehen“, wie Ernst Bloch ihn 1921 feierte. Auf jeden Fall: einen Urkommunisten und Anführer der ersten großen europäischen Revolutionsbewegung am Beginn der Neuzeit. Thomas Müntzer (1489–1525), ein „Theologe der Revolution“ avant la lettre. Geliebt von den Linken und gehasst bei den Rechten – wobei die Nazis ihm allerdings auch etwas abgewinnen konnten.
Feiern zu seinen Ehren gab es mindestens alle hundert Jahre. Anlässlich des 400. Jubiläums des Bauernkrieges 1925 wurde gar in Eisleben ein Massendrama „Thomas Müntzer“ uraufgeführt, das Berta Lask im Auftrag der KPD verfasst hatte. Dem „klassenbewussten Proletariat der Gegenwart“ sollte der revolutionäre Klassenkampf seiner Vorfahren nahegebracht werden. Und anlässlich des 450-jährigen Jubiläums 1975 gab die DDR die Erstellung eines eindrucksvollen Panoramabildes zum Bauernkrieg bei Werner Tübke in Auftrag. In Frankenhausen stellt dies das markanteste Erinnerungszeichen an jene Zeit dar, auch wenn – oder vielmehr, gerade weil – Thomas Müntzer ganz und gar nicht heroisch dargestellt wird. Kurz vor der Wende, im September 1989, wurde es eröffnet.
Zumindest in der linken Tradition ist Müntzer mithin ein Großer. In seinem 500. Jubiläumsjahr freuen sich aber auch einige, seine damalige Wirkung vermindern zu können, und erklären ihn mit einer Figur aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ zu einem „Scheinriesen“ (Thomas Kaufmann). Nur aus der Ferne sei er groß. Sicher stellt Müntzer historisch gesehen nur eine Episode im gesamten Bauernkrieg dar. Aber man sollte ihn nicht verkleinern. Denn ohne ihn gäbe es nur eine halbe Reformation. Er wollte die große Luther’sche Idee der Freiheit des Christenmenschen nicht nur im Herzen tragen, sondern sie auch in der politischen Gestaltung des Landes realisiert sehen. So verkörpert er einen christlichen Glauben, der zaghaft anfing, Menschenrechte zu leben. Die Theologie der Wittenberger aber schreckte vor ihren eigenen Folgen zurück und legitimierte, reduziert auf „Herzensbildung“, den Terror der Herrschenden. Die Argumentationen aller Beteiligter sind mit großer Bereitschaft zu Leid und Gewalt durchsetzt und deswegen heute schwer zu ertragen. Aber im Rückblick wird deutlich, wie sehr Reformation und Revolution zusammengehören: Wenn christlicher Glaube nicht tatsächlich zum Opium des Volkes (Karl Marx) verkommen soll, müssen Luther und Müntzer zusammengebracht werden.
Worum ging es? Am Ende des Mittelalters zählten 90 Prozent der Bevölkerung zu den Bauern, dem niedrigsten gesellschaftlichen Stand, dessen Aufgabe darin bestand, den übrigen zehn Prozent zu dienen und gehorsam zu sein. Sie „galten als die menschlichen Naturwesen schlechthin – grob, ungeschlacht, primitiv und sündig, den Tieren, mit denen sie lebten und umgingen, nahe verwandt“ (Thomas Kaufmann). Zusammengerottet waren sie nichts anderes als Pöbel. Und den Pöbel könne niemand besser regieren als ein Tyrann, so Martin Luther. Ähnlich blickte man später auf die Frauen, auf Juden, Sinti und Roma, oder in der kolonialen Sicht auf die autochthonen Afrikaner. Dass damals die Bauern für sich die christliche Freiheit reklamierten, war etwas Ungeheuerliches: Die Verachteten begannen, selbst zu denken und zu handeln.
Verteidigung mit göttlichem Recht
Nicht das Volk greift die Obrigkeit an, es wird angegriffen und verteidigt sich mit göttlichem Recht. „Die Herren machen das selber, daß in der arme man feyndt wird.“ Die Bauern lösten sich aus ihren rechtlichen Gebundenheiten, die nichts als Ausbeutung waren, und sprengten so das Herrschaftssystem. Gefeiert wurde das alte Ideal von einer bürgerschaftlich-genossenschaftlich organisierten Gemeinde, in der die Gleichheit aller Wirklichkeit wurde, wie in der Urgemeinde „Omnia sunt communia“ (Apostelgeschichte 2,44 und 4,32). „Sie, die Massen von Bauern und Stadtbewohnern, marschierten zusammen und kampierten im Freien, setzten ihren gesamten Besitz und ihr Leben aufs Spiel, als sie versuchten, eine Welt herbeizuführen, in der Reiche und Arme, Adelige und ‚gemeine Männer’ Brüder wären.“ (Lyndal Roper) In einer höchst eindrucksvollen Weise hat die Künstlerin Käthe Kollwitz diesen Geist in ihrem grandiosen Zyklus Bauernkrieg (1902–1908) Gestalt werden lassen.
Der Theologe und Historiker Hans-Jürgen Goertz fasst Müntzers Grundgedanken zusammen. Unter der Führung des Heiligen Geistes werde in „einem tiefgreifenden, teilweise schmerzhaften Umbruch im Innersten des Menschen“ die alte Ordnung Gottes wiederhergestellt. In dieser Richtung deutete er den Bauernkrieg als Beginn eines Herrschaftswechsels des realen Menschen. Das ließ ihn offen sein für das, was geschah, und verbot einen Rückzug in die mystische Innerlichkeit, aus der er kam. Seine Sache war die tatsächliche Transformation, in der es zu bestehen galt. „Das Wort Gottes ist nicht das außerhalb des Menschen wirkende Wort der Bibel, sondern das den Menschen im Abgrund seiner Seele ansprechende Wort, mit dem das ursprüngliche Einvernehmen zwischen Gott und Mensch wiederhergestellt und die von Kreaturenfurcht und Sünde bestimmten Verhältnisse in eine neue Ordnung gesetzt werden.“ Dieses Wort verwirklicht sich in den kampfbereiten Auserwählten. Ohne die Bereitschaft zum Leiden und ohne Gewalt geht es nicht. Die gottlosen Regenten werden es nicht überleben! „Lasst euer Schwert nicht kalt werden von Blut!“ „Dran, dran, dieweil yhr tag habt. Gott gehet euch für, folgt!“ Müntzer war mittendrin. Er stand mit aller Konsequenz, letztlich mit seinem Leben, an der Seite der Armen. Diese Bedeutung steigert sich noch durch Luthers maßlose und hassverzerrte Rhetorik gegen ihn. Wider seinen eigenen Willen steigert Luther Müntzers Bedeutung – und macht ihn damit erst richtig groß. Wenn Müntzer in der Arbeiterbewegung mit Karl Liebknecht identifiziert wurde, dann Luther mit Gustav Noske. Nun wird mit diesen Vergleichen kaum noch jemand etwas anfangen können. Aber es sieht schon etwas anders aus, wenn man aus dem Darmstädter Wort der EKD von 1947 zitiert: „Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.“ Damals ging es um das Versagen der Kirchen gegenüber der Arbeiterbewegung – und genau das begann mit Luthers Rolle in den Bauernkriegen.
Thomas Müntzer wäre eine solche Einschätzung der Kirche nicht neu gewesen. Er machte schon damals seine Erfahrungen mit Lutherischer Innerlichkeit und Luthers nie konsequenter Kritik der Herrschenden. Da hatte sich der wortmächtige Mann ganz vorne auf die Bühne begeben und 1520 in einem bis heute viel zitierten Traktat die „Freiheit des Christenmenschen“ propagiert. Ein durch die Jahrhunderte leuchtender Text. Seine Quintessenz war: Alle Christen sind durch Christus befreit. Wozu? Um sich gegenseitig zu dienen. Das klingt harmlos, aber Luther konkretisiert dieses Dienen in einer gewaltigen Sozialvision: „Sieh, auf diese Weise müssen Gottes Güter aus dem einen in den anderen fließen, dass ein jeder sich seines Nächsten so annehme, als wäre er es selbst. Aus Christus fließen sie in uns …. Aus uns sollen sie fließen in die, die sie nötig haben … Siehe, das ist die Natur der Liebe, wenn sie wahrhaftig ist.“ Was war das anderes als Umverteilung zugunsten der Armen? Meinte Luther es auch so? Hatte er bedacht, dass solche Sätze geradezu als Ruf nach einer Neuordnung der sozialen Verhältnisse verstanden werden mussten?
Gegenseitiges Dienen
So verstanden es jedenfalls Müntzer und die Bauern. Das gegenseitige Dienen akzeptierten sie im dritten ihrer zwölf „Memminger Artikel“ als Leitsatz auch für sich. Aber sie folgerten darüber hinaus, dass es wegen des allen Menschen geltenden Freikaufs durch Christi Blut keine Leibeigenschaft mehr geben sollte. Und sie setzten gutgläubig darauf, dass ihre bisherigen Herren „als wahre und rechte Christen uns gern aus der Leibeigenschaft entlassen werden“. So nahmen sie die großartige Freiheitsvision Luthers beim Wort, beließen es aber nicht beim Bedenken im Herzen, sondern reklamierten für sich selbst reale Freiheit und Gerechtigkeit.
Wie es dann weiterging, ist bekannt. Zunächst schien der Reformator Einsicht zu zeigen. Da sich die Herren dem Evangelium verschlossen hätten, strafe Gott sie nun mit dem Aufstand ihrer Untertanen. Gott selbst wüte mittels der Bauern gegen sie. Aber daraus sprach keine Sympathie für Letztere. Denn missverstanden hätten sie ihn! Die dummen Bauern! „Es soll niemand Leibeigener sein, weil Christus alle befreit hat. Was ist das? Das heißt, dass christliche Freiheit ganz fleischlich gemacht wird.“ Christliche Freiheit habe nichts mit politischen oder sozialen Veränderungen zu tun, muss das ja wohl heißen. Und setzt noch einen drauf: Die Leibeigenschaft abzuschaffen, bedeute gar, einem Herrn seinen Besitz zu rauben. Die Bauern würden den reinen Egoismus anbeten. Sie seien nichts weiter als Sünder und Verbrecher.
Unterdrückung und Ausbeutung abschaffen? Im Gegenteil: Sie zu erdulden sei Christenpflicht. Den Bauern fehle der Leidenswille – stattdessen seien sie gewaltbereit. Freiheit gebe es nur als innere Überzeugung – nicht in der sozialen Realität. Es geht um reine Gesinnungskommunikation: Wie viel Leiden den Menschen tatsächlich zugemutet werde, sei letztlich gleichgültig, da kann noch so viel über Liebe geredet werden. So auch Melanchthon: Die Leibeigenschaft abschaffen zu wollen, sei ein Missbrauch der allein im Herzen realisierbaren christlichen Freiheit. Nicht mehr, sondern weniger Freiheit stünde den Bauern zu. Alle nur denkbaren Strafen wären für sie gerechtfertigt. Luther zog diese Gedanken später mit seiner antihumanistischen Schrift über den unfreien Willen ins Grundsätzliche, wie der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann gezeigt hat. Er machte im Grunde genommen alle Menschen zu egoistischen und vom Satan besessenen Bauern: Niemand könne von sich aus etwas wirklich Gutes tun! Es regiere ein unerklärlicher Gott, dem man sich unterwerfen müsse, wenn man das Heil erlangen wollte. Freiheit wurde endgültig zur Fiktion.
Das – heutige – Skandalon einer aktiven Bejahung von Gewalt und Leid kann nicht übersehen lassen, dass mit Müntzer und den Bauern vor 500 Jahren etwas zum ersten Mal durchbrach, was später als Menschenrechte, Volkssouveränität und letztlich Demokratie verwirklicht wurde. Das war von der Wiederentdeckung christlicher Freiheit durch Luther inspiriert, wurde aber von ihm nur als bewusste Verdrehung der eigenen Thesen verstanden. War das zwingend? Auch die Bauern verfolgten ein relationales Verständnis einer gemeinschaftlichen Freiheit, in der man sich als aufeinander Angewiesene verstand: Die Herren sollten nicht abgeschafft werden, sondern sich so verhalten, dass der Bauer ihnen gerne diente. Ein westlich-liberales Verständnis von Freiheit als totaler Unabhängigkeit des Individuums hätten sie – wie Luther – abgelehnt. Eine sehr deutsche Sache war dieser Aufstand eben auch.
Purer Terror
Die Folge war der pure Terror. Mindestens 100 000 Bauern wurden ermordet. Luther soll deswegen Alpträume gehabt haben. Müntzer war schon lange vorher klar, dass Luthers Thesen zwar revolutionär klangen, aber nichts weiter als der Zuckerguss über Ausbeutung und Leid waren. Der über Jahrhunderte sehr lebendige deutsche Untertan wurde auf einem Berg von Leichen zur Welt gebracht. Allerdings war das nicht das Ende, denn es gab auch realen Wandel. Der Historiker Peter Blickle hat auf den im Januar 1526, nach der Niederlage der Bauern, geschlossenen Memminger Vertrag hingewiesen, den das Reichsstift Kempten mit seinen Untertanen schloss. Faktisch wurden in ihm die Leibeigenschaft kassiert, Eigentum garantiert und reale Freiheiten zugestanden. Das Stift erhielt faktisch eine Verfassung, so Blickle, in der auch die einst Verachteten Rechte erhielten.
Es hätte also auch anders ausgehen können, wenn das Menschenbild des Wittenbergers nur ein wenig freundlicher gewesen wäre und er sich selbst gemäßigt hätte. So steigerten sich beide Seiten in ihre Absolutismen und kultivierten ihren Hass auf den jeweils anderen. Im Rückblick aber bleibt deutlich, „dass die Verkündigung der Rechtfertigung des Sünders ohne die Erhebung der Armen und die Befreiung der Unterdrückten unvollständig bleibt“ (Jürgen Moltmann).
Gerhard Wegner
Gerhard Wegner ist Direktor i.R. des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. Er lebt in Coppenbrügge.