„Die Gottlosen haben kein Recht zu leben“
In einer Welt, die sich immer wieder mit religiös begründeter Gewalt auseinanderzusetzen hat, lohnt es sich, das Verhältnis zwischen religiös begründeter gesellschaftlicher Utopie und biblisch legitimierter Gewalt unter die Lupe zu nehmen. Rüdiger Schmitt, Theologieprofessor der Universität Münster, beschreibt die Position Thomas Müntzers zu Gewalt.
Im kollektiven Gedächtnis Gesamtdeutschlands hat sich ein Bild von Thomas Müntzer als Sozialrevolutionär und konsequenter Kämpfer für die Armen und Entrechteten seiner Zeit festgesetzt und das von Luther und seinen Mitstreitern geprägte Image Müntzers als Aufrührer und fanatischer „Schwärmer“ überlagert. Auch die evangelische Kirche hat den einst Verfemten längst wieder eingemeindet. Die Wahrnehmung Müntzers als Freiheitskämpfer ist in Werner Tübkes monumentalem Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen, aber auch in Gestalt anderer Denkmäler an den Wirkungsstätten des radikalen Reformators im wahrsten Sinne des Wortes ikonisch geworden. Dass man Müntzer heute in der Forschung differenzierter als zwischen den Extremen „Freiheitskämpfer“ oder „Fanatiker“ wahrnimmt, zeigen schon die zahlreichen Arbeiten aus Ost und West, die zu seinem 500. Geburtstag 1989 erschienen sind.
Das „Jubiläum“ des großen Bauernkrieges 2025 bietet eine gute Gelegenheit, über Müntzer und sein Verhältnis zur Gewalt noch einmal neu nachzudenken. Zumal es sich lohnt, in einer Welt, die sich immer wieder mit religiös begründeter Gewalt auseinanderzusetzen hat, das Verhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen religiös begründeter gesellschaftlicher Utopie und biblisch legitimierter Gewalt bei Thomas Müntzer unter die Lupe zu nehmen. Können wir heute die Radikalisierung des Reformators als eine „puritanische Verschärfung“ hin zu einer „Totalen Religion“ (Jan Assmann) begreifen? Wollte Müntzer mit Gewalt einen Gottesstaat auf biblischer Fundierung errichten?
Der Prophet Daniel
Die wichtigste Schrift, in der Müntzer die theologische Begründung für den Gebrauch von Gewalt darlegt, ist seine 1525 erschienene „Auslegung des andern Unterschieds Danielis“ (meist als die „Fürstenpredigt“ bezeichnet), eine Interpretation des zweiten Kapitels des Danielbuches mit der Deutung eines Traums des babylonischen Königs Nebukadnezar von aufeinanderfolgenden Weltreichen durch den Propheten Daniel. Ein zentraler Faktor in Müntzers Rechtfertigung von Gewalt ist sein eigenes Selbstverständnis: Müntzer verstand sich als Prophet mit göttlicher Sendung, als ein neuer Daniel oder gar Mose. Hierzu gehört, dass Müntzer wie viele seiner Zeitgenossen glaubte, das jetzige Zeitalter sei das letzte vor der Wiederkunft Christi. Er selbst aber sei von Gott dazu aufgerufen, die Endzeit vorzubereiten. Da Müntzer sich selbst als Prophet gesehen hat, beruft er sich nicht nur auf die Schrift als Autorität, sondern auf die eigene, unmittelbare Begabung durch den Geist Gottes. Dieser Anspruch, sozusagen einen direkten Draht zu Gott zu haben, trug ihm dann auch den Vorwurf Luthers und Melanchthons ein, ein „Schwärmer“ zu sein, der seine eigenen Eingebungen und Visionen für wichtiger hält als die Bibel. Zwar glaubten auch die beiden Wittenberger Reformatoren an Vorzeichen und beschäftigten sich eingehend mit deren Deutung, doch subjektive Eingebungen und Visionen waren ihnen suspekt: Echte Propheten gibt es nur in der Bibel.
Die als apokalyptisch erfahrene Situation der Gegenwart hat Müntzer im Rahmen seiner Erwartung einer nahen Endzeit als Erfüllung der Prophezeiung von Daniel 2 vom kommenden Reich Gottes gedeutet. Das bei Daniel prophezeite letzte, fünfte Reich ist das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Müntzer als ein Zeitalter der Heuchelei bezeichnet. Müntzers Lehre von einer kommenden Herrschaft der Frommen vor dem Jüngsten Tag stand in scharfem Widerspruch zum Wittenberger Mainstream, der das Reich Christi als rein geistiges verstand und nicht als eine weltliche Herrschaft.
Dies führte in der „Fürstenpredigt“ zunächst nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung der weltlichen Obrigkeit, sondern stellt deren Existenzberechtigung unter den Vorbehalt, sich angesichts des nahenden Gerichts Gottes über die Welt durch die Vernichtung der Ungläubigen bewähren zu müssen, um das kommende Reich der Frommen zu ermöglichen. Erst wenn die Fürsten dieser Aufgabe nicht nachkommen und das Evangelium und die Auserwählten behindern oder gar bekämpfen, greift das Widerstandsrecht gegen die weltliche Obrigkeit, die sich als gottlos erwiesen hat: Gott hat nach Müntzer die weltliche Obrigkeit eingesetzt, er kann ihnen – so interpretiert er die Prophezeiungen aus Daniel 2 – diese Macht aber auch jederzeit nehmen. Als die Auseinandersetzung mit den Fürsten sich zuspitzt, sieht er sich selbst als das berufene Werkzeug Gottes dazu. Hatte Müntzer Gewalt noch 1523 als „unfuglichen Aufruhr“ abgelehnt, so radikalisiert er sich zwischen 1524 und 1525 zunehmend und schließt sich mit seinen Anhängern den aufständischen Bauern an. Müntzer ging es – in der Tradition der spätmittelalterlichen Mystik – zuerst vor allem um eine innere Wandlung des Menschen, die eine positive Gestaltung der Welt bedingt: Die Menschenfurcht soll überwunden werden und die Gottesfurcht an ihre Stelle treten, die ein brüderliches Miteinander der Menschen erst ermöglicht. Ist die innere Ordnung der Gottesfurcht erst einmal hergestellt, fordert dies gleichzeitig eine aktive Umgestaltung der äußeren Ordnung, der Gesellschaft. Die Menschenfurcht aber setzt Müntzer zunehmend mit den Strukturen der feudalen Gesellschaft gleich und macht sich die Forderungen des „gemeinen Mannes“ nach Freiheit, Recht und Gerechtigkeit nach und nach zu eigen. Die Fürsten sind es nämlich, die die Menschenfurcht befördern, durch Willkür und Zwangsabgaben, Vernachlässigung der Armen, Witwen und Waisen, durch Unrechtsjustiz und unnütze Kriege. Die Fürsten verweigern sich, die Gottesfurcht über die Menschenfurcht zu stellen. Sie verhindern die Predigt der Gottesfurcht: Solange die Fürsten regieren, kann man nicht von Gott sagen. Wer so handelt, ist ein Diener des Teufels und hat sein Recht auf Herrschaft bei Gott verwirkt. Und nun hat Gott ihm, Thomas Müntzer, aus eigenem Mund befohlen, wider das Unrecht zu kämpfen!
Klare Kampfansage
Der Kampf gegen eine Obrigkeit, die sich selbst als von Gott legitimiert sieht, braucht ihrerseits eine starke Legitimation. Und diese kann nur in der Heiligen Schrift gefunden werden. Müntzer beruft sich vor allem auf das Alte Testament, auf die biblischen Kriegsgesetze im 7. Kapitel des Buches Deuteronomium, die die vollständige Vernichtung der Gegner fordern, und die Erzählungen von der gewaltsamen Landnahme der Israeliten: In Müntzers Worten: „Ihr sollt Euch nicht erbarmen über die Abgöttischen, zerbrecht ihre Altäre! Zerschmeißet ihre Bilder und verbrennet sie, auf dass ich mit euch nicht zürne!“ Als Beispiel verweist Müntzer hier auch auf die Erzählung über den Priester Pinhas im 25. Kapitel des Numeribuches, der im heiligen Zorn einen Israeliten tötet, der sich eine Midianiterin zur Frau genommen hat und Israel damit zum Abfall von seinem Gott verführt.
Das Neue Testament mit seiner ganz überwiegend pazifistischen Ethik kann hier keine Rechtfertigung von Gewalt liefern. In Müntzers Verständnis der Bibel kommt beiden Teilen der Schrift dieselbe Autorität zu, während Luther, „Bruder Mastschwein“ genannt, betont, dass die Aussagen des Alten Testaments daran gemessen werden müssen, ob sie im Sinne Jesu seien. Müntzer nimmt die alttestamentlichen Texte hier in radikaler Weise wörtlich und wirft Luther vor, die klaren biblischen Forderungen zum Kampf gegen die Ungläubigen nur allegorisch, als geistigen Kampf, zu sehen.
Er identifizierte sich dabei nicht nur mit den biblischen Propheten, sondern auch mit den politischen Anführern der Israeliten, wie zum Beispiel mit dem biblischen Richter Gideon, der nicht nur die Israeliten gegen die äußeren Feinde in den Kampf führte, sondern auch gegen den inneren Feind: Wie Gideon wollte Müntzer die Altäre der Götzen, die die Israeliten verehrten, niederreißen und die Kultbilder zerstören. Eine klare Kampfansage an den auch in Volksfrömmigkeit tief verwurzelten Kult um die Heiligen und ihre Reliquien. In Anlehnung an den Kämpfer gegen die Unterdrückung der Juden durch die griechischen Herrscher Syriens, Judas Makkabäus (Judas, der „Hammer“), nannte er sich selbst „Thomas Müntzer, mit dem Hammer“. Wie die biblischen Kriegshelden sah er sich berufen, mit einem kleinen Haufen Auserwählter die gottlose Obrigkeit niederzuwerfen. Die Fürsten, die sich wie der Pharao des Exodus verstockt zeigen, müssen vom Thron gestoßen und die Herrschaft dem „gemeinen Mann“ gegeben werden.
Ein wesentlicher Aspekt in Müntzers Vision der Gottesherrschaft ist die Wiederaufrichtung des Bundes der Erwählten wider die Gottlosen. Müntzer konnte sich hier auf die biblische Theologie des Bundes zwischen Gott und Israel berufen: „Das ist der heilige Bund, den Gott Abraham und uns allen geschworen hat.“ Unter Berufung auf den biblischen Bund hat Müntzer schon 1524, in seiner ersten Amtszeit als Pfarrer in Mühlhausen, bei dem Versuch mitgewirkt, die städtische Ordnung auf eine neue Basis zu stellen. In den Mühlhausener Elf Artikeln, einer Art Grundgesetz für das Stadtregiment, das von Müntzer mitverantwortet wurde, wird das Widerstandsrecht gegen eine gottlose Ordnung quasi Verfassungsrecht: Gott hat geboten, die unrechten Richter und Regenten hinzurichten. Die Bibel ist Maßstab von Recht und Ordnung, und alle Urteile sollen entsprechend der Schrift gefällt werden.
Biblischer Maßstab
War Müntzers Vision einer zukünftigen Gesellschaftsordnung eine Theokratie? Hatte er überhaupt eine solche Vision? Nach seinem so genannten Bekenntnis soll er nicht nur die Tötung der Grundherren, sondern auch den Gemeinschaftsbesitz gefordert haben. Diese „kommunistischen“ Aussagen sind ihm jedoch wohl unter der Folter abgerungen oder untergeschoben worden. Keine zu seinen Lebzeiten gemachte Aussage deutet auf ein solches Konzept hin. Die, allerdings noch vor Müntzers aktiver Parteinahme am Bauernkrieg entstandenen, Elf Artikel von Mühlhausen sind wohl ein Kompromissdokument zwischen den geistlichen (Müntzer und seine Amtsbrüder) und den weltlichen Autoritäten (dem aus den Bürgern mit Grundbesitz gewählten Rat) und sehen keine geistliche Herrschaft vor, sondern fordern vom Rat der Stadt und den kirchlichen Institutionen ein, sich des Eigennutzes zu enthalten.
Die Pfarrer werden von der Stadt besoldet und sind damit vom Rat abhängig. Sie dürfen Eingaben machen, aber die Entscheidung liegt bei den weltlichen Ratsleuten. Auch die Elf Artikel sind kein revolutionäres Dokument, sondern knüpfen an die hergebrachten Formen einer städtischen Selbstverwaltung an. Dass die weltliche Ordnung sich hierbei auf Vorstellungen göttlicher Gerechtigkeit stützt, ist in der frühen Neuzeit selbstverständlich. Wie die Quellen zeigen, haben Müntzer und sein Kollege Heinrich Pfeiffer zwar immer wieder versucht, ihre geistliche Autorität geltend zu machen (auch durch die Übernahme weltlicher Funktionen im Rat), eine Überordnung der geistlichen über die weltliche Autorität wurde jedoch nicht programmatisch beansprucht. Müntzer hat – anders als später Johannes Calvin in Genf – nie selbst einen Gesellschaftsentwurf formuliert oder eine Lehre über geistliche und weltliche Zuständigkeiten entwickelt.
Rüdiger Schmitt
Dr. Rüdiger Schmitt ist Professor am Centrum für Geschichte und Kultur des östlichen Mittelmeerraumes an der Universität Münster.