Auf der Verliererseite der Reformation

Der Reformator und Revolutionär Thomas Müntzer – Versuch eines Porträts
Werner Tübke hat im Auftrag der DDR eines der größten Gemälde der Welt geschaffen. Es zeigt die Schlacht bei Frankenhausen (Ausschnitt).
Foto: Kathrin Jütte/© VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Werner Tübke hat im Auftrag der DDR eines der größten Gemälde der Welt geschaffen. Es zeigt die Schlacht bei Frankenhausen (Ausschnitt).

Sein Leben liegt weitgehend im Dunkeln. Über Thomas Müntzers Herkunft und seine prägenden Jugendjahre ist fast nichts bekannt. Wenn sich in diesem Jahr sein 500. Todestag jährt, stehen wir, „was Müntzers Persönlichkeit angeht, denn auch vor einem undurchdringlichen Gestrüpp aus Verteufelung, Vereinnahmung und Instrumentalisierung“, schreibt die Müntzer-Biografin Ulrike Strerath-Bolz in ihrem Porträt.

Am 27. Mai 2025 jährt sich der Tod des Reformators Thomas Müntzer zum fünfhundertsten Mal. Ein Grund zum Innehalten und zum Nachdenken, das ganz sicher. Große Gedenkfeiern wird es aber in diesem Jahr kaum geben. Müntzers Zeitgenossen Martin Luther und Philipp Melanchthon sahen in der Hinrichtung des „mörderischen und blutgierigen Propheten“ allerdings durchaus einen Grund zum Feiern. Ihre freudige Erleichterung überrascht nicht, konnten sie doch hoffen, dass nach der Niederschlagung des Bauernaufstands und nach Müntzers Tod niemand mehr auf die gefährliche Idee kommen würde, Verbindungen zwischen Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und dem von Müntzer propagierten Widerstandsrecht der geknechteten Bauern zu ziehen. Abgrenzung war das Zauberwort. Selbst dort, wo die liturgischen Reformen, die Müntzer angestoßen hatte, auch nach 1525 beibehalten wurden, verschwand der Name des Reformators sehr bald aus den Gottesdienstordnungen. So geriet Müntzer über Jahrhunderte hinweg zu einer Art dunklem „Familiengeheimnis“ der Reformation, das man tunlichst verschwieg. Selbst das bekannteste Porträt, ein Kupferstich von Christoph van Sichem aus dem Jahr 1608, entstammt einer „Ketzergalerie“. Kein Zweifel: Müntzer gehört zu den Verlierern der Reformationsgeschichte.

Erst als 1848 mit der bürgerlichen Revolution und der Bauernbefreiung der 1525 abgeschnittene historische Faden wieder aufgenommen wurde, wendete sich auch das Blatt der Müntzer-Rezeption. Die marxistische Geschichtswissenschaft nahm ihn quasi in ihre Ahnengalerie auf. Für sie war Müntzer ein früh Vollendeter, der vorgedacht hatte, wofür seine Zeit noch nicht bereit gewesen war. Die DDR hat Müntzer später fast zu einem „Nationalheiligen“ erhoben und feierte seinen fünfhundertsten Geburtstag 1989 zusammen mit ihrem vierzigsten.

Über Müntzers Sterben im Feldlager des Fürstenheeres an jenem 27. Mai 1525 lässt sich einiges erfahren, bis hin zu grausamen Details: Er wurde durch einen Denunzianten gegen hohe Belohnung ausgeliefert, zwölf Tage lang verhört und gefoltert, dann mit dem Schwert enthauptet, der Kopf auf eine Stange gespießt und ausgestellt – ein Zeichen des Triumphs seiner Feinde.

Sein Leben jedoch liegt weitgehend im Dunkeln. Wir wissen fast nichts über seine Herkunft, seine Familie oder seine prägenden Jugendjahre. Selbst bei den dürftigsten Lebensdaten geraten wir auf dünnes Eis. Tatsächlich kennen wir nicht einmal den Tag seiner Geburt. Gut möglich, dass er auf den Namen des Tagesheiligen getauft wurde, wie es zu seiner Zeit gang und gäbe war. Aber welcher Thomas war dann gemeint? Der römische Heiligenkalender dieser Zeit kennt nicht weniger als vier „Thomasse“, ihre Gedenktage sind über das Jahr verstreut.

Das Wissen um Lebensumstände und Prägungen könnte es uns leichter machen, zu begreifen, was ihn um- und antrieb. Doch wir wissen ja nicht einmal mit Gewissheit, in welchem Jahr er geboren wurde. Man könnte, um es mit einem Bild zu sagen, fast meinen, er wäre vom Himmel gefallen. Feindlich gesinnte Zeitgenossen – und er hat sich weiß Gott genug Feinde gemacht – hätten es vielleicht anders formuliert: Man könnte meinen, er wäre geradewegs der Hölle entstiegen.

Fakten und Legenden

Wo so wenig konkretes Wissen existiert, blüht die Fantasie. Und so stehen wir, was Müntzers Persönlichkeit angeht, denn auch vor einem undurchdringlichen Gestrüpp aus Verteufelung, Vereinnahmung und Instrumentalisierung. Müntzers dramatisches Ende hat ihn zur Legende gemacht. Dieses Schicksal teilt er – Ironie der Geschichte – mit vielen Heiligen: Man wird nicht durch den Lebensweg zum Märtyrer, sondern durch die Art des Sterbens. Bestenfalls spinnt sich später eine Erzählung aus, die zeigt, dass die Nähe der Person zu Gott, die sich im Sterben manifestierte, schon viel früher angelegt war. So funktioniert, kurz gesagt, Hagiografie, selbst wenn das Leben für die Legende nur wenig hergibt.

Halten wir uns an das, was wir wissen. Man spürt eine gewisse Atemlosigkeit, wenn man den Lebensstationen von Müntzer nachgeht. Jahrelang zog er unstet von Ort zu Ort. Ab 1506 studierte er in Leipzig und setzte das Theologiestudium ab 1512 in Frankfurt/Oder fort (wohlgemerkt: nicht in Wittenberg, wo Luther seit 1511 Professor war). 1513 wurde er in der Diözese Halberstadt zum Priester geweiht und wanderte dann von einer Predigtstelle zur anderen: So kam er nach Braunschweig, Jüterbog (dort noch ganz in Luthers Kielwasser), Weißenfels (wo er seine stark von der Mystik beeinflusste Theologie des „inneren Wortes Gottes“ entwickelte), Zwickau (wo er in Kontakt mit der radikalen Erweckungsbewegung der „Zwickauer Propheten“ kam) und schließlich Prag (wo der erhoffte Anschluss an die Böhmischen Brüder letztlich scheiterte). In Böhmen verfasste er auch sein „Prager Manifest“ vom November 1521. Gefährliche – heute würden wir sagen: fundamentalistische – Gedanken enthielt diese Schrift, die von Offenbarung durch den Heiligen Geist versus „sola scriptura“, von Endzeiterwartung und Auserwähltheit spricht und von einer starken Identifikation mit den Propheten des Alten Testaments zeugt. Die Folgen ließen denn auch nicht lange auf sich warten: Die Prager, sensibilisiert durch das Schicksal von Jan Hus und seinen Gefolgsleuten gut hundert Jahre zuvor, zogen die Notbremse und baten Müntzer noch vor Ende des Jahres nachdrücklich, die Stadt und das Land zu verlassen.

Unstete Wege

Mehr als ein Jahr lang zog der „Sohn der Aussonderung“ (so in einem Brief von 1522) danach als Wanderprediger vor allem durch den mitteldeutschen Raum. Liest man seine Briefe aus dieser Zeit, so fragt man sich, wie lange ein Mensch ein derart randständiges Leben aushalten kann, ohne zu resignieren. Doch sein Glaube an eine Seele, die nur im Leiden Christus ähnlich werden kann, schien ihn bei allem Zorn und Streit immer weiterzutragen.

Dreiunddreißig Minuten sind es heute auf der Autobahn von Nordhausen nach Allstedt. Dem rastlosen Wanderprediger Thomas Müntzer muss es im Frühjahr 1523 wie eine Reise in eine andere Welt erschienen sein. Man hatte den „Botenläufer Gottes“, wie er sich auch nannte, als Pfarrer in die kleine Stadt im Südwesten Thüringens berufen. Und tatsächlich fand er hier ein Stück Heimat. Auf der Pfarrstelle an der Kirche St. Johannes bekam er endlich den Zuspruch, den er seit Jahren suchte. Schon zu Ostern begann er, den Gottesdienst in deutscher Sprache zu feiern. Die Gemeinde war ihm zugetan, sein Amtsbruder Simon Haferitz erwies sich als hilfsbereiter Freund und Geistesverwandter. Müntzer fand ein Zuhause in Allstedt, Gefährten und eine wachsende Gemeinde. Sogar aus den umliegenden Ortschaften kamen die Leute, um ihn predigen zu hören. Es muss ihm selbst wie ein Wunder, auf jeden Fall aber wie ein Lohn für die mühsamen, einsamen Wanderjahre vorgekommen sein. Wäre in All­stedt nicht so etwas wie Sicherheit in sein Leben eingezogen, er hätte sich kaum zur Heirat mit Ottilie von Gerson entschlossen und wäre schon gar nicht auf die Idee gekommen, eine Familie zu gründen. Er konnte nicht ahnen, dass ihm auch in Allstedt nur eineinhalb Jahre vergönnt sein würden. Von dort aus führte der Weg für ihn und seine junge Familie in einen Strudel von Aufruhr und Gewalt. Müntzer wurde zu einem Anführer der aufständischen Bauern und sollte am Ende mit 5 000 von ihnen in den Tod gehen.

Romantisierende Fantasie

Über die Herkunft von Müntzers Ehefrau, der ehemaligen Nonne Ottilie von Gersen, ist wenig bekannt, und wir wissen auch nicht mit Sicherheit, wo die beiden sich kennengelernt haben. Mit viel romantisierender Fantasie haben DDR-Filmemacher die Liebesgeschichte gleich zwei Mal (1956 und 1989) in Szene gesetzt. Doch letztlich wissen wir nur, dass die Müntzers 1523 in Allstedt getraut wurden und dass ein Jahr nach der Hochzeit das erste gemeinsame Kind geboren wurde, ein Sohn.

Zwei Dinge lassen sich allerdings mit Sicherheit sagen: Thomas Müntzer und Ottilie von Gersen standen mit ihrer Eheschließung in einer Reihe mit vielen anderen Reformatorenpaaren. Und mit allen diesen Eheschließungen war ein erhebliches Risiko für die Frauen verbunden, vor allem, sobald der Ehemann starb. Unter den Bedingungen des Zölibats gab es keine Hinterbliebenenversorgung. Selbst Luthers Witwe Katharina sollte nach seinem Tod in eine äußerst prekäre wirtschaftliche Lage geraten. Wer sich aus der Solidargemeinschaft der reformatorischen Bewegung entfernte, verschärfte das Risiko noch einmal erheblich. Ottilie Müntzer bekam 1525, wohl gerade über zwanzig Jahre alt, am eigenen Leibe zu spüren, was das bedeutete. Als ihr Mann im August 1524 Allstedt fluchtartig verlassen musste, war sie auf Almosen angewiesen. Nach der grausamen Niederschlagung des Bauernaufstands, die sie vor Ort miterlebte, und Müntzers Tod verliert sich die Spur der mittlerweile zweifachen Mutter nur allzu schnell.

Ist überhaupt irgendetwas geblieben, was das Gedenken rechtfertigt? Oder täten wir womöglich gut daran, den „gewaltbereiten Fundamentalisten“ mit seinen Gottesstaat-Ideen ebenso gründlich zu „vergessen“, wie die Zeitgenossen es taten? Das volkskirchliche Konzept war auch eine Reaktion auf Müntzers Theologie, die eine kleine Schar von „Auserwählten“ in die Nähe Gottes rückt und alle anderen als „Unkraut“ verachtet. Dafür, dass es sich gegen die fundamentalistischen Ideen durchgesetzt hat, können wir dankbar sein. Auf der anderen Seite steht der Befund, dass die protestantische Theologie bis weit ins 20. Jahrhundert eine allzu enge Verbindung zur weltlichen Obrigkeit pflegte. Das hätte Müntzer wohl in seiner Kritik bestätigt.

Denn klar ist auch: Müntzer war der erste, der biblisch begründet ein Widerstandsrecht des Menschen gegen die Obrigkeit postulierte, und er lehnte radikal jede staatliche Gewalt ab, die sich nicht in den Dienst von Gottes Gerechtigkeit stellt. Zu seinen Ideen gehörte auch die einer „Reformation von unten“. Und diese Idee wirkt weiter, zumal in modernen Strömungen wie der Befreiungstheologie. Dorothee Sölle hat ihr Konzept von „Mystik und Widerstand“ ausdrücklich auf ihn zurückgeführt.

Bleibt überhaupt etwas, was uns heute hilft, eine Verbindung mit Müntzer herzustellen? Am Ende vielleicht doch, wenn wir einen Blick auf Müntzers letzte Tage werfen. Denn der Mann, dessen Person immer wieder hinter uns so fremden Gedanken und düsterer Geschichte verschwindet, hat so etwas wie ein Vermächtnis hinterlassen: Am 17. Mai schrieb er einen letzten Brief an die Menschen in Mühlhausen, einer Hochburg der Aufständischen. Nach all den wüsten Aufrufen der vergangenen Wochen, in denen er sich selbst als „Knecht Gottes wider die Gottlosen“, als Mann „mit dem Schwerte Gideons“ und als „Hammer Gottes“ bezeichnet hatte, nach all den Rechtfertigungen von Gewalt und Aufstand im Dienste Gottes, beschwor er in diesem Vermächtnis die Menschen, das Blutvergießen zu beenden. Und diesen Brief unterzeichnete er ganz bescheiden und einfach mit seinem Namen. 

Literatur
Ulrike Strerath-Bolz: Thomas Müntzer. Wichern Verlag, Berlin 2024, 144 Seiten, Euro 14,95.

 

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