Wir doch nicht!

Gegen die bequeme Rede von der Perversion der Religion

Islamistische Terroranschläge, Gewalt jüdischer Siedler, betende Capitol-Stürmer, tödliche Umerziehung indigener Kinder, sexueller und geistlicher Missbrauch – wenn religiös motivierte Gewalt bekannt wird, hört man so gut wie immer aus den Religionsgemeinschaften, hier sei Religion pervertiert worden. An sich trage sie zu Mitmenschlichkeit und Frieden bei und verführe nicht zu Gewalt.

Aber schon die Religionen der frühen Hochkulturen hatten vor allem die Funktion der Rechtfertigung und Stabilisierung gewaltbewehrter Machtstrukturen. Auch später ist Religion regelmäßig in diese Funktion hineingezogen worden. Die vielen Fälle, wo Religion zur Rechtfertigung von Gewalt und Unterdrückung benutzt wurde und wird, verlangen deshalb nach mehr als dem Prädikat „Perversion“: Sie verlangen die kritische Selbstprüfung der je eigenen Religion in Lehre und Praxis, verlangen die betroffene Frage nach ihrer Pervertierbarkeit, ja nach der persönlichen Verführbarkeit. Dabei geht es nicht um aufgeregte Selbstbezichtigung, sondern um sorgfältige Klärung. „Die verstehen alles falsch, wir sind nicht so.“ – das ist zu wenig.

Wie wird Religion gefährlich? Welches sind die Anfänge der Verführung, denen es – auch in den eigenen Reihen – zu wehren gilt? Welche Abwehrmechanismen gibt es in meiner Religion? Das alles gilt es, sich selbst und anderen immer wieder bewusst zu machen, um der Prävention und der Glaubwürdigkeit willen. Die Religionen haben durchaus Traditionen herausgebildet, um Absolut­heitsansprüche zu zivilisieren. An die wäre anzuknüpfen, in größter Breite und Deutlichkeit.

Scheint die Mahnung übertrieben? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Probleme früher und unauffälliger anfangen, als man es erwartet:

So kommt es durchaus vor, dass jemand glaubt, er selbst oder eine andere Person habe Handlungsanweisungen von „oben“, durch direkte Inspiration oder durch eine Schrift. Wie wird darauf reagiert? Eine Aura aus Befremden („Überhaupt nicht mein Ding“) und Bewunderung („Dass jemand so gläubig sein kann!“) umgibt und schützt meist eine solche Frömmigkeit. Gibt es nun in der Gemeinde ein Bewusstsein für die problematischen Seiten solcher Auffassungen und eine Kultur, sie zu thematisieren? Mut braucht man dazu und Einfühlung, denn allzu leicht geraten kritische und notwendig verunsichernde Anfragen kränkend. Man muss erst lernen, den richtigen Ton zu treffen. Das ist aber dringend nötig, denn es geht um wenigstens zwei gewichtige Probleme:

Erstens: Wie unmittelbar ist die Gotteserfahrung? Kann sich der Mensch als Empfänger und Interpret heraussubtrahieren? Falls er das bejaht, enden damit Bereitschaft und Fähigkeit zum Diskurs. Seine Verantwortung kann er an Gott delegieren. In letzter Konsequenz könnte er einen Gottesstaat befürworten.

Zweitens: Zu welchen Handlungen führen empfangene Anweisungen? Im Extremfall verleiten diese den Empfänger zur Selbstjustiz. Alternativ würde er auf eine von Gott unmittelbar gelenkte Exekutive vertrauen. Kann er hinnehmen, dass in einem demokratischen Staat Mehrheitsentscheidungen gegen das von ihm gehörte Gotteswort ergehen, kann er noch einem solchen Staat das Gewaltmonopol zugestehen? Wie brisant beides wird, entscheidet sich an der Gottesvorstellung. Muss Gott sich durchsetzen (lassen)? Wie steht er zur Freiheit der Menschen in ihrer Fehlbarkeit? Welche Einstellung zum Mitmenschen, zum „Gottlosen“, will er von jedem Gläubigen? Barmherzigkeit ist hier eines der wichtigen Stichworte, für das Christentum wäre zum Beispiel die Verbindung zur Kreuzestheologie herzustellen und so weiter. Natürlich werden in der Regel letztlich die Staatsgewalt und die gesellschaftliche Konformität diese problema­tischen Auffassungen neu­tralisieren. Welche Blüten sie insgeheim treiben, weiß man nicht. Wohl ist es mir dabei jedenfalls nicht. Viel nachhaltiger und transparenter ist es, wenn selbstregulierende Korrekturen aus den Religionen selbst erwachsen. Sie weiterzuentwickeln und populär zu machen, ist die Aufgabe in jeder Religion.

So entscheidet sich die gesellschaft­liche Zuträglichkeit von Religion wesentlich an theologischen Fragen. Fehlt es dahingehend an Bildung, kann das schlimme Folgen haben. Man lese das Interview mit Mouhanad Khorchide in der Zeit 37/2023 des vergangenen Jahres oder studiere die Verlautbarungen und Aktionen der evangelikalen Rechten in den USA zu Gunsten von Donald Trump.

Deshalb wünsche ich mir, dass destruktive Wirkungen von Religion zum Anlass werden, die Weggabelungen des Denkens bewusst zu machen, an denen der breite Weg zum Verderben aller führt, und dafür die argumentative Fitness zu erhöhen. Und das überall, wo es um Religion geht!

Theologische Bildung ist kein bildungsbürgerliches Steckenpferd, sondern notwendige Ausrüstung für Staatsbürger, für Weltbürger. 

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Christian Messner

Christian Messner (*1954) ist Kirchengemeinderat der evangelischen Kirchengemeinde Steißlingen-Langenstein. Mit der Kirchen- und Glaubenswelt über die Musik seit jeher stark verbunden, blieben ihm religiöse Sprach- und Frömmigkeitsformen lange fremd.


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