Verletzlich werden
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat auf der zurückliegenden Synodaltagung in Würzburg klare Verabredungen zur Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt getroffen. Die badische Landesbischöfin Heike Springhart, die als Kirchenvertreterin dem Beteiligungsforum der EKD angehört, umreißt in ihrem Text die Folgen des Themas für das Selbstverständnis evangelischer Kirche und Theologie.
Spätestens mit der Veröffentlichung der ForuM-Studie ist deutlich geworden, dass sexualisierte Gewalt die Kirche und die Theologie in ihren Grundfesten erschüttert und dass eine allzu selbstgewisse Kirche Risse bekommt und bekommen muss. Schon vor knapp 20 Jahren hat der katholische Theologe Johann Baptist Metz kritisch in seiner „Memoria Passionis“ festgestellt, dass „sich die Kirche mit den schuldigen Tätern immer leichter tut als mit den unschuldigen Opfern“. Als Konsequenz daraus fordert Metz, die „Leidempfindlichkeit“ der christlichen Botschaft und Theologie wieder neu ins Zentrum zu rücken. Damit ist theologisch ausgedrückt, was auch einer evangelischen Theologie, die das Kreuz Christi ins Zentrum stellt, wesentlich ist und was in den vergangenen Jahren unhintergehbar geworden ist: dass es entscheidend ist, was Betroffene von sexualisierter und spiritueller Gewalt erlebt und erlitten haben durch die, die an ihnen schuldig geworden sind – und durch das institutionelle Versagen von Landeskirchen und Diakonie, mit dem sie im Umgang mit dem, was ihnen angetan wurde, konfrontiert waren und allzu oft immer noch sind.
Der Missbrauch von Macht, der sich als sexualisierte und als geistliche Gewalt zeigt, verlangt einen Umgang und eine Reflexion auf verschiedenen Ebenen – kirchenpolitisch, im direkten Gespräch mit Betroffenen, durch bessere Verfahren, damit ihnen Recht und Gerechtigkeit widerfährt, und nicht zuletzt durch theologische Reflexion. Dabei muss sich auf allen Ebenen zeigen, dass die Kirche als verwundbarer Leib Christi verletzliche Kirche ist, erschüttert und erschütterbar – keine societas perfecta, sondern die Kirche unter der Macht der Sünde, angewiesen auf Gottes zurechtbringende Gerechtigkeit und erlösende Gnade.
Allerdings ist auch klar: So essenziell die theologische Auseinandersetzung ist und die kritische Relektüre bestimmter theologischer Topoi, so wenig darf Theologie zu einer Form des Eskapismus werden oder gar zu einem Weg, die Massivität der Erfahrungen von Betroffenen und Schuld und Versagen von Verantwortlichen in Kirche und Diakonie theologisch „wegzuerklären“. Aber es braucht auch die theologische Durchdringung und Auseinandersetzung, um deutlich zu machen: Dass die Kirche leidempfindlich ist (oder werden muss), verdankt sich ihrem Zentrum – Jesus Christus, dessen Wunden und dessen Verwundbarkeit die Affizierbarkeit Gottes bezeugen und zugleich über diesen Horizont hinausweisen. Dass wir „durch seine Wunden geheilt sind“ (vergleiche Jesaja 53) bedeutet auch, dass es Wege der Überwindung von Gewalt und Leid gibt und geben kann, auch wenn es sein kann und oft so sein wird, dass vollständige Heilung und die Zurechtbringung und Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit Sache des eschatologischen Heilshandelns Gottes und des göttlichen Gerichts sind.
Lebenslange Wunden
Damit soll mitnichten einer Verschiebung von an Gerechtigkeit orientierten Verfahren auf den sprichwörtlichen Sankt-Nimmerleins-Tag das Wort geredet werden, sehr wohl aber gesagt sein, dass das Gewicht des Themas und die Dramatik auch darin bestehen, dass für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt die traumatischen Folgen und die tiefen Wunden oft ein Leben lang nicht heilen. In theologischer Hinsicht ist das eschatologische Gericht der Ort, an dem Recht aufgerichtet, die Geschundenen und die Täter zurechtgebracht werden und an dem sich beides in besonderer Weise zeigt: Gottes Barmherzigkeit für den Menschen, der mit Blick auf polyphone gelebte Leben immer sowohl gerechtfertigt als auch Sünder ist, und Gottes Gerechtigkeit und Recht schaffendes Handeln mit Blick auf die Schuldkonstellationen, in denen Menschen in konkreten Situation waren und sind.
Die Aussicht darauf, dass das, was hier nicht zurechtgebracht werden und heilen kann, im Gericht Gottes einen Ort findet, ist auch der Rahmen dafür, dass jegliche Versuche, Aufarbeitung als Ganze irgendwann als erledigt zu betrachten, zum Scheitern verurteilt sind. Einzelne Maßnahmen und Aspekte von Aufarbeitung können zwar sehr wohl erledigt, optimiert, angegangen werden (und müssen es auch!), aber das geschehene und das geschehende Unrecht haben bleibende Folgen für die Betroffenen und für die Kirche und können deswegen nie erledigt und abgearbeitet sein.
Der Beschluss von konkreten Maßnahmen als Konsequenzen aus den Erkenntnissen der ForuM-Studie durch die Synode der EKD in Würzburg ist ein richtiger und wichtiger Schritt und zeigt in seiner Bandbreite von einem Kulturwandel über vertiefte theologische Reflexion bis zur Schaffung einer Ombudsstelle und der Überarbeitung der Gewaltschutzrichtlinie, wie vielschichtig die Konsequenzen sein müssen. Zugleich gehört zu einer realistischen Aufarbeitung auch die Anerkenntnis, dass sich das Leid und die Gefährdung durch sexualisierte Gewalt nie ganz und gar erledigen oder abarbeiten lassen. Gerade weil das so ist, ist das entschiedene Handeln in den konkreten Schritten nötig und unhintergehbar. Das Beteiligungsforum, das sich durch die starken Stimmen von Betroffenen und das konstruktive und lösungsorientierte Zusammenwirken von Betroffenen und Beauftragten aus Kirche und Diakonie auszeichnet, ist der Ort, an dem die Stärke, die in verletzlicher und lernbereiter Kirche liegt, in besonderer Weise Raum gewinnt.
Sexualisierte Gewalt und die mit ihr einhergehenden zerstörerischen Dynamiken, die sich sowohl für die betroffenen Personen zeigen als auch im System Kirche als Ganzes, nötigen auch zu einem selbstkritischen Blick darauf, wo und wie die Kirche und die kirchenleitenden Organe immer wieder der Gefahr unterliegen, doch die „bessere Kirche“ sein zu wollen, die das moralisch Richtige tut oder jedenfalls davon spricht und dazu ermahnt – in bester Absicht und doch mit der Gefahr, die Macht der Sünde zu übersehen.
Vielschichtige Konsequenzen
Es kann auch eine Gefahr darin liegen, das Richtige tun zu wollen und dabei blind und taub zu werden für die Wucht dessen, was sexualisierte Gewalt anrichtet, sowohl und in erster Linie im Leben der Betroffenen und dann auch in der Dynamik, die im Umgang damit entsteht. Wer ganz genau weiß, was jetzt das Richtige ist und was „die Betroffenen“ wollen, der muss nicht mehr hinhören, sitzt möglicherweise Klischees auf und kann sich den Schmerz und die Wunden, die Wut der Betroffenen vom Leib halten. Aber darum kann und darf es gerade nicht gehen! Ob man geradezu von einem „Geist von Ulm“ sprechen kann (vergleiche zz 12/2024), erscheint mir fraglich. Allerdings ist es für mich keine Frage, dass die Geschehnisse des zurückliegenden Jahres vor die Aufgabe stellen, was daraus zu lernen ist – für Kommunikation, für kirchenleitendes Handeln, dafür, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen und aus Fehlern lernen zu können.
Dabei geht es nicht nur bei dieser Thematik darum, profiliertes Eintreten für Recht und Gerechtigkeit nicht mit moralistischer Engführung zu verwechseln. Es geht darum, mit dem klaren Blick für die Macht der Sünde und die mit ihr einhergehenden zerstörerischen Dynamiken den realistischen Blick dafür einzunehmen, dass sich insbesondere die Massivität von Verwundung und Gewalt und die Macht des Traumas betroffener Menschen nicht „in den Griff“ bekommen lässt – weder für die Institution und erst recht nicht für die Betroffenen. Dieser Realismus muss alles Handeln und Reden, Zuhören und selbstkritische Reflektieren begleiten. Dies ist insbesondere relevant für den Umgang mit Schuld.
Der Umgang mit Schuld und Sünde und das Ringen um Erlösung aus der Verstrickung der Sünde stehen im Zentrum der Botschaft und des Wirkens Jesu. Der Umgang mit Schuld ist nicht nur im individuellen Leben herausfordernd, er fordert insbesondere die Kirche als Institution heraus. Teil des Umgangs mit Schuld ist seit Pilatus auch die Versuchung, die eigenen Hände in Unschuld waschen zu wollen, sich irgendwie der Schuld und der Verantwortung entledigen zu wollen, auf die anderen oder die Verhältnisse zu zeigen, die für das eigene Versagen verantwortlich seien.
Nachdenklich erfassen
In den Verstrickungen in Schuld und Sünde, im Angesicht der Mächte und Gewalten und angesichts abgrundtiefer Verletzungen, verschärfen alle Versuche von Verantwortungsträger*innen, die eigenen Hände in Unschuld zu waschen, das Problem. Das hat seine besondere Brisanz im Umgang mit sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Im Raum der evangelischen Kirche haben hauptberuflich und ehrenamtlich Mitarbeitende individuell als Täter*innen von sexualisierter Gewalt Schuld auf sich geladen. Zugleich hat sich die Institution in ihren Mechanismen, darauf zu reagieren, schuldig gemacht – ob durch Verantwortungsdiffusion oder den von der ForuM-Studie attestierten Zwang zur Harmonie. Zu dieser Kirche gehören immer auch die von sexualisierter Gewalt Betroffenen. Sie stehen ihr nicht irgendwie gegenüber, sondern sie sind Teil der Kirche.
In geistlicher Hinsicht liegt der Skandal von sexualisierter Gewalt darin, dass ein Glied am Leib Christi einem anderen unsägliche Gewalt angetan hat, Leben zerstört, Stimmen zum Verstummen gebracht hat und dass auf institutioneller Ebene das System nicht sensibel genug war und oft immer noch nicht ist, darauf auch angemessen zu reagieren. Erst wenn wir die komplexen Zusammenhänge wirklich in aller Nachdenklichkeit erfassen, wenn wir dabei bleiben, genau hinzusehen und auf das schnelle Urteil und die eilige Bemühung, auf der richtigen Seite zu stehen, verzichten, erst dann gibt es eine Chance, die abgrundtiefen Kreisläufe, die Seelen und Leben von Menschen zerstören, zu durchbrechen. Wohlgemerkt: Der Verzicht auf das schnelle Urteil bedeutet gerade nicht, im konkreten Fall zögerlich zu handeln oder die Dinge zu verschleppen oder gar zu vertuschen. Wo, wenn nicht in der Kirche, müsste der nüchterne Blick auf Fehler und Versagen, aber auch auf die Macht der Sünde das Handeln prägen und demütig machen?
In den innerkirchlichen und institutionellen Debatten über den Umgang mit sexualisierter Gewalt braucht es eine Atmosphäre und Gesprächsräume, die auch in den emotional aufgeladenen Themenfeldern ruhige Sachlichkeit ermöglichen, Empathie und eine geistliche Haltung, die darum weiß, dass alle unter der Macht der Sünde stehen. Dass alle nach dem einen Wort Christi hungern, das, wenn er es spricht, Seelen und Beziehungen gesund und heil machen kann. Dazu gehört auch, Betroffene und ihre Erfahrungen und die damit verbundene Wucht wirklich zu hören und die damit verbundenen Infragestellungen von Kirche und Theologie ernst zu nehmen.
Ruhige Sachlichkeit
Die subtilen Dynamiken, die im Fall von sexualisierter Gewalt Leben zerstören, die Macht der Sünde, die ganze Familiensysteme durchzieht und nachhaltig auch die Beziehungen stört, die nur mittelbar damit belastet sind, dürfen nicht das letzte Wort haben. Es geht darum, sich dem Skandal auszusetzen, dass niemand gerecht ist. Sich dieser Tatsache zu stellen, die durch sexualisierte Gewalt in der Kirche besonders deutlich ist, ist essenziell für eine Kirche, die sich sexualisierter Gewalt stellt und die Betroffene hört.
Die Kirche unter der Macht der Sünde ist verletzliche Kirche. Sie zeigt und erweist ihre Glaubwürdigkeit darin, dass sie dem Erlebten und Erlittenen von Betroffenen nicht ausweicht, sondern es sich zu Herzen nimmt und entschieden handelt – im Wissen um die Brüchigkeit und die Verletzlichkeit, um die Vorläufigkeit und darum, dass sich zwar Maßnahmen erledigen lassen, dass aber der Skandal von sexualisierter Gewalt in der Kirche nie erledigt sein wird.
Heike Springhart
Dr. Heike Springhart ist außerplanmäßige Professorin für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und seit 2022 Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Baden.