Diplomat, Theologe, Flüchtlingshelfer
Aufgrund seiner Erfahrung als deutscher Offizier im Ersten Weltkrieg wird aus dem Firmenerben ein Jurist und Diplomat. Wegen seiner Ehe mit einer getauften Jüdin quittiert er den Dienst 1935, wird Theologe und geht mit seiner Familie ins Exil. Nun hilft er Juden, dem Holocaust zu entfliehen. Nach dem Krieg ist er führend im Dialog mit dem Judentum. Der Theologe Peter Noss beschreibt das aufrechte und aufregende Leben von Adolf Freudenberg (1894–1977).
Der Deutsche Koordinierungsrat wie der Arbeitskreis ‚Kirche und Israel‘ wären ohne diesen Lehrer nicht das geworden, was sie sind. Zu lernen ist weiter von ihm eine zupackende Konkretheit, die Menschen und ihre Lebenschancen zu retten versucht und sich nicht scheut, dabei mit allerlei menschlichen und unmenschlichen Interessen und Mächten zu kollidieren.“
So schilderte Martin Stöhr, der langjährige evangelische Vorsitzende des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Adolf Emil Freudenberg aus einem traurigen Anlass: Es war die Trauerfeier für Freudenberg, der am 7. Januar 1977 starb. Freudenberg war in seinem langen Leben vieles: ein Diplomat, ein Theologe, ein wichtiger Helfer für Jüdinnen und Juden, die ihrer Ermordung im Nazi-Reich entgehen wollten. Und ein bedeutender Wegbereiter für den christlich-jüdischen Dialog vor allem in der Zeit nach 1945.
All dies aber war Freudenberg keinesfalls in die Wiege gelegt: Der am 4. April 1894 geborene Adolf Emil Freudenberg ist das achte von insgesamt zehn Kindern und soll, der Tradition folgend und in dritter Generation, in das Familienunternehmen einsteigen. Es ist die Freudenberg-Gruppe, heute ein global aktives Unternehmen mit Sitz in Weinheim an der Bergstraße, das 1849 aber nur als einfache Gerberei gegründet worden war.
Adolf Freudenberg macht nach dem Abitur zunächst ein Praktikum in der Schweizer Schuhfabrik Bally. Dies soll ihm den Weg ins Familienunternehmen erleichtern. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzt die Pläne, Freudenberg wird zum Militär einberufen.
Die Zeit als Artillerie-Leutnant in Frankreich war ein Bruch in Freudenbergs Leben, er will die Erfahrungen intellektuell verarbeiten und beginnt in Heidelberg mit dem Jurastudium. In seiner Doktorarbeit schreibt er über die völkerrechtliche Situation in der Stadt Danzig. Und er begegnet Elsa Liefmann, einer Medizin-Studentin.
1920 werden Adolf und Elsa von dem Heidelberger Pfarrer Hermann Maas getraut, mit dem das Paar eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Fünf Kinder kommen zur Welt. Nach dem Studium tritt Freudenberg 1922 in den Diplomatischen Dienst der Weimarer Republik ein – in dem Jahr, in dem Außenminister Walter Rathenau von zwei Offizieren der Reichswehr ermordet wird.
Reibungslose Gleichschaltung
In gleichen Jahr putscht in Rom der Faschist Benito Mussolini, der sich später mit Hitler zusammentut. In der Ewigen Stadt beginnt Freudenberg 1928, im Kulturreferat der Deutschen Botschaft zu arbeiten. Ein Jahr später wird er in die Ausbildung junger Diplomaten im Außenministerium des Deutschen Reiches berufen. Die Weltwirtschaftskrise beschleunigt den Abbau der Demokratie in der Weimarer Republik. 1933 kommt es zur „Machtergreifung“ durch die NSDAP.
Infolgedessen werden Grundrechte außer Kraft gesetzt, die Opposition verboten, verhaftet oder vertrieben. Die Gleichschaltung funktioniert in weiten Teilen reibungslos. Auch die Kirchen machen mit, angeführt in weiten Teilen von der „Glaubensbewegung der Deutschen Christen“. Nur ein Teil findet sich in der „Bekennenden Kirche“ (BK) zusammen, die 1934 die Barmer Theologische Erklärung verfasst, aber auch sie bleibt nicht geschlossen im Widerspruch zur NS-Diktatur.
Politisch und gesellschaftlich geht es vermeintlich nach vorne, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Nazis erhalten Unterstützung von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung. In diesem Zuge steigen Diskriminierungen der Sinti und Roma, der Menschen mit Behinderungen und der Jüdinnen und Juden stark an. Die „Judengesetzgebung“ betrifft auch die rund 300 000 Christen und Christinnen, die ursprünglich aus jüdischen Familien stammen, aber getauft sind.
Das gilt auch für Freudenbergs Frau Elsa, die als Kind getauft wurde – und die Kinder der Familie Freudenberg. Eine „nichtarische Schutzimpfung“ sei die Ehe gewesen, so Freudenberg rückblickend: „Ich hatte mir von vornherein sorgenvolle Gedanken gemacht, weil ich ja durch meine Ehe für die Bosheit des Judenhasses hellhöriger war als andere; aber das Problem begann als mein Problem erst am 1. April 1933, dem Tag des Judenboykotts, akut zu werden.“
1935 kündigt Freudenberg die Stelle im Auswärtigen Amt. Die Familie zieht nach Berlin-Dahlem und wird Teil der evangelischen Gemeinde, in der Martin Niemöller als Pfarrer bis zu seiner Verhaftung arbeitet. Niemöller ist eine der bekanntesten Stimmen der „Bekennenden Kirche“. Freudenberg ist beeindruckt von dessen „unerschrockenem Freimut in der Vergegenwärtigung des Wortes Gottes inmitten von Feigheit und Opportunismus“.
Freudenberg, jetzt Anfang 40, entscheidet sich, Theologie zu studieren. Er geht zunächst nach Bielefeld-Bethel, ist dann bei der 1935 gegründeten „illegalen“ Kirchlichen Hochschule der BK in Berlin eingeschrieben, wird kurz verhaftet und erhält Studienverbot, aber beendet gleichwohl sein Studium 1937/38 bei Karl Barth in Basel. „Was Wunder, dass mich das mit Geschichte geladene Alte Testament mächtig anzog und ich der jüdischen Wurzel unseres Christenglaubens als entscheidendem Zubringer seiner Lebenskraft nachgrub.“ Seine Prüfung legt er vor dem illegalen Prüfungsamt der konsequenten BK ab und wird Vikar in Neustadt an der Dosse, im Februar 1939 wird Freudenberg ordiniert. Die Reichspogromnacht 1938 bedeutet in jeder Hinsicht eine Zäsur. Freudenberg wird Mitarbeiter im Büro von Heinrich Grüber in Berlin. Es ist eine Anlaufstelle für aus „rassischen Gründen Verfolgte“. Durch die Arbeit dieses Büros können etwa 5 000 Jüdinnen und Juden sowie Christ*innen jüdischer Herkunft vor der Ermordung durch die Nazis gerettet werden. Freudenbergs Aufgabe wird es, Bischof George Bell von Chichester in London und das Schweizerische Evangelische Hilfswerk zu informieren und sie bei der Hilfe für die Flüchtlinge zu unterstützen.
Im März 1939 ziehen die Freudenbergs nach London. Dort wird Freudenberg vom designierten Generalsekretär des späteren Ökumenischen Rates der Kirchen, Willem Visser ’t Hooft, für die Flüchtlingshilfe geworben. Die Arbeit im Bloomsbury-House, dem Sitz von über zehn Flüchtlingsorganisationen, trägt erste Früchte.
Als im Herbst 1939 der Krieg beginnt, sind die Freudenbergs im Urlaub in der Schweiz, wo die Familie ein Chalet in Champex im Kanton Wallis besitzt. Visser ’t Hooft, Madeleine Barot von der „Cimade“, dem französischen Hilfswerk für Flüchtlinge, und Freudenberg arbeiten eng zusammen und wissen sich einig. Visser ’t Hooft sagt: „Du, Adolf Freudenberg, bist Deutscher und kein guter Staatsbürger in Hitlerdeutschland; ich Holländer und ein guter Untertan der Königin Wilhelmine, und du Madelaine Barot, ihr von der Cimade seid rechte Franzosen, die meist zur Résistance standen. Für euch waren die nicht seltenen Berührungen mit den deutschen ‚Feinden‘ doch recht schwierig! – Aber: Ökumenisches Vertrauen lässt die Barrieren sinken, und wir arbeiten einfach zusammen.“
Internationales Netzwerk
Die neutrale Schweiz als Basis ist für die Flüchtlingshilfe sehr gut geeignet. Die Familie Freudenberg zieht nach Genf in eine Wohnung, die auch für viele Flüchtlinge zum Unterschlupf wird. Auch Dietrich Bonhoeffer, der im Auftrag des deutschen Widerstands in der Schweiz unterwegs ist, logiert hier. Freudenberg wird zum internationalen Beauftragten des im Aufbau befindlichen ÖRK für die Flüchtlingsarbeit, er baut ein internationales Netzwerk auf. Immer wieder gelingt es, Menschen über die Grenze in die Schweiz zu holen. Ein wichtiger Partner in Genf wird der Jurist Gerhard Riegner, der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses ist. Die konkrete Hilfe läuft nicht zuletzt über sein Sperrkonto in Berlin. Unterstützt wird Freudenberg dabei unter anderem von der Berliner Widerstandskämpferin Helene Jacobs.
Die Gestapo bekommt Wind davon und schreibt an den deutschen Konsul in Genf: „Wir haben den Eindruck, dass sich beim ÖRK in Genf mancherlei gefährliche Machenschaften mit internationalen Agenten und Geheimdiensten abspielen. Meinen Sie nicht auch, Herr Generalkonsul, dass es besser wäre, wir schickten einen geeigneten Beamten nach Genf, um diesen Dingen richtig auf die Spur zu kommen?“ Der Generalkonsul, ein früherer Kollege und Freund von Freudenberg, antwortet: „Wir sind im Bilde, aber nicht Genf, sondern Lausanne ist der Umschlagplatz.“ Die Gestapo schickt einen Beamten auf diese falsche Fährte nach Lausanne, der dort aber nichts findet.
Als der Krieg 1945 endet, besteht für Freudenberg die Möglichkeit, wieder als Diplomat zu arbeiten. Aber er lehnt alle Anfragen aus Bonn ab. Die durchaus deprimierenden Erfahrungen aus der Flüchtlingsarbeit haben ihn tief geprägt, ebenso theologische Einsichten und eine Reise, die er 1945 in Deutschland unternimmt. Freudenberg beobachtet und notiert seine Eindrücke, schildert sie dem ÖRK. Die Lage ist schwierig. Freudenberg nimmt wahr: Hier ist wieder Hilfe notwendig. Aber er sieht auch, dass viele Deutsche nichts davon wissen wollen, wie das ganze Elend begonnen hatte.
Otto Fricke beruft Freudenberg 1947 als Pfarrer auf die entstehende Siedlung „Auf dem Heilsberg“ bei Bad Vilbel, eine Gründung des neu entstandenen Evangelischen Hilfswerkes. Das erste Lehmhaus wird gebaut. Es ist der Anfang für eine Siedlung mit mehr als 6 000 Menschen. Die Familie Freudenberg ist mittendrin und engagiert sich. Tochter Brigitte heiratet den BK-Pfarrer Helmut Gollwitzer. Adolf Freudenberg hält den Kontakt nach Genf. Bundespräsident Gustav Heinemann, ein Freund von ihm und von Niemöller, kommt zum Vortrag in die Gemeinde, die Freudenbergs setzen sich für Frieden und gegen Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten ein.
Menschliche Gesellschaft
Mittlerweile hat die christlich-jüdische Zusammenarbeit unter Verfolgten und Helfern begonnen. Das in der Berliner und in der Genfer Zeit entstandene Netzwerk trägt nach 1945 weiter. Dazu gehören unter anderem der britische Methodistenpfarrer Bill Simpson, der Heidelberger Pfarrer Hermann Maas, die Berliner Sozialarbeiterin Charlotte Friedenthal, Propst Grüber und der französische Gelehrte Jules Isaac.
Diese Verbindungen führen 1947/48 zur Gründung des Internationalen Rates der Juden und Christen und 1948/49 zu den ersten christlich-jüdischen Gesellschaften (GcjZ) in Wiesbaden, Stuttgart und Frankfurt. Daran ist Freudenberg maßgeblich beteiligt: „Weil es mit dem Jasagen zum Judenmord anfing, darum musste notwendigerweise nach einer tiefen geschichtlichen Logik am Beginn des neuen Aufbaues menschlicher Gesellschaft in unserem Volke auch die Gründung von Gesellschaften … stehen.“
1947 werden in der Schweiz die so genannten Seelisberger Thesen gemeinsam von Juden und Christen erarbeitet. Auch hier prägte Freudenberg die Arbeit mit, ebenso wie bei der Nachfolge-Konferenz in Fribourg/Schweiz im Juli 1948. Diese Konferenzen setzen gegen die jahrhundertelange christliche Judenverachtung ein neues Konzept der Verständigung.
Freudenberg wirbt für den Dialog, unter anderem mit den „Schwalbacher Thesen“. Er gibt Seminare und Vorträge für Lehrer*innen und Pfarrer. Denn: „Wir müssen bekennen, dass unsere Gemeinden gegenüber bedrohlichen Rückfällen in den Anti-Semitismus schlecht gerüstet sind.“
Freudenberg lädt den Rektor der Goethe-Universität, Professor Karl Böhm, zu einem Vortrag ein. Böhm ist der katholische Vorsitzende der GcjZ Frankfurt. Auch die Professoren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno kommen zu Vorträgen des Deutschen Koordinierungsrats (DKR), der der Dachverband von über 80 lokalen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ist.
Der DKR wird nach der konstituierenden Sitzung des „Koordinierungsrates der Christen und Juden“ am 10./11. September 1949 in Stuttgart am 26. Februar 1950 in Bad Nauheim gegründet, vor 75 Jahren. Freudenberg ist ihr langjähriger evangelischer Vorsitzender. Eine regelmäßig tagende „Erzieherkonferenz“ beschäftigt sich unter anderem mit alten und neuen Formen des Rechtsextremismus.
Ende 1952, Anfang 1953 gründet Freudenberg den hessischen „Evangelischen Arbeitskreis für Dienst an Israel“, der heute „Im Dialog“ heißt. Auch bei den Anfängen von „Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste“ ist er beteiligt. Ab 1961 wird Freudenberg zudem ein wichtiger Gesprächspartner bei der AG „Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“. 1959 schließlich geht Freudenberg in den Ruhestand. Aber jedes Jahr besucht er Israel. Auf der letzten Reise dorthin erkrankt er schwer. Er stirbt am 7. Januar 1977. 2021 wird in der Berliner Wilhelmstraße ein Stolperstein für Freudenberg verlegt.
Peter Noss
Peter Noss ist Pfarrer für Ökumene, Dialog und Partnerarbeit am Dekanat Wetterau in Friedberg.