Fünklein oder Zunderfeuer

Warum sich Luther und Müntzer heute besser verstünden
Foto: Jens Schulze

Stolberg. Ein Luftkurort im Harz mit gut 1 000 Einwohnern und 30 000 Besuchenden jährlich, von einem Online-Reisemagazin 2019 zum schönsten Dorf Deutschlands gekürt. Inmitten von Fachwerk die St.-Martini-Kirche. Hier wurde Thomas Müntzer getauft, hier stellte er sich an die Seite der Bauern. Zu seinem 500. Todestag am 27. Mai 2025 wird sie ein wichtiger Gedenkort sein (siehe Reportage ab Seite 54). Auch Martin Luther soll Stolberg besucht haben. Die beschauliche Stadt wurde zum Ort einer Kontroverse mit Sprengkraft, die bis heute anhält. Wie politisch darf oder muss die Kirche sein?

„Fühlt man denn nicht ein kleines Fünklein, das schier will aufwachen zum Zunderfeuer?“, fragte 1521 Thomas Müntzer im Prager Manifest. Das Feuer erhob sich 1524 mit dem Aufstand der Bauern zuerst im Süden Deutschlands, doch dann auch in Müntzers mitteldeutscher Heimat (siehe Seite 20). Luther warf ihm vor, dass er den Aufruhr antreibe, worauf er konterte: „Die Herren machen das selber … Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann das auf die Dauer gut werden? So ich das sage, muss ich aufrührerisch sein, wohlan!“ (Schutzrede 1524).

Sein Vorwurf, die Wittenberger hätten nichts getan, um die Welt zu überwinden, womit sie selbst zu Repräsentanten der Welt geworden wären, blieb damals theologisch unbearbeitet. Die Frage ist durch die nachfolgenden Jahrhunderte immer wieder aufgeworfen worden, nicht erst in dem Widerstand der NS-Zeit, dem Apartheidskampf oder der Befreiungstheologie Lateinamerikas. Schon Johann Hinrich Wicherns Sozial­engagement und der im 19. Jahrhundert entstehende Begriff der Sozialethik setzten gesellschaftspolitische Fragen auf die Tagesordnung. Die Kirche ist sich ihrer politischen Verantwortung bewusster geworden, hat sich auf das prophetische Erbe bezogen und die eschatologische Reich-Gottes-Perspektive auch auf die bestehenden Verhältnisse angewendet. Im Kontext von Dis­kriminierung und Rassismus, von Diversität und Gleichberechtigung oder im Bereich der Schöpfungs- und Friedensethik stehen Gerechtigkeitsfragen heute oben auf der Agenda. Für viele entscheidet sich daran die Glaubwürdigkeit 
der Kirche.

Das Evangelium ist politisch, und die Kirche muss Position beziehen, auch zu ihren eigenen Ver­strickungen und gefährlichen Machtkonstellationen. Die Frage nach gerechtem Frieden und seinen Mitteln rückt in den Fokus. Wie ist Weltverantwortung wahrzunehmen im Blick auf Umwelt, Technologie und Wirtschaft? Die Bedrohung von freiheitlich-demokratischen Verhältnissen zwingt die Kirchen in die politische Verantwortung.

Würden sich Thomas Müntzer und Martin Luther heute begegnen, könnte es fruchtbarer ausgehen als damals. Das Bildungsprogramm der Wittenberger zeugte ebenso von gesellschaftlicher Verantwortung wie Luthers Leisniger Kastenordnung als einer frühen Sozial­versicherung. Kirche kann ein guter Ort sein für konstruktive Kontroversen. Was ansteht, gehört nicht in mani­pulative Meinungsblasen. Wir brauchen die Flamme der Gerechtigkeit und kein Zündeln der Gewalt.

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Foto: Jens Schulze

Ralf Meister

Ralf Meister ist Landesbischof in Hannover, Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und Herausgeber von zeitzeichen.


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