Es braucht einen langen Atem

Der Weg zu Frieden und Sicherheit für Êzîdinnen und Êzîden im Irak ist weit
Eine Êzîdin besucht einen Friedhof im nordirakischen Sinjar während der Gedenkfeier zehn Jahre nach dem Völkermord dort.
Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Farid Abdulwahed
Eine Êzîdin besucht einen Friedhof im nordirakischen Sinjar während der Gedenkfeier zehn Jahre nach dem Völkermord dort.

Zehn Jahre nach dem Völkermord des IS an Êzîdinnen und Êzîden im Irak scheinen Frieden und Sicherheit für die religiöse Minderheit noch weit entfernte Ziele zu sein. Doch es gibt Lösungsansätze, die Hoffnung machen. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze und Frank Schwabe, Beauftragter der Bundesregierung für Religionsfreiheit, beleuchten im folgenden Artikel für zeitzeichen.net die aktuelle Situation und unterschiedliche Projekte, mit denen das BMZ die Êzîdinnen und Êzîden unterstützt.

„Die Entscheidung, ehrlich zu sein, war eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich je getroffen habe, und auch die wichtigste“. Das sagt Nadia Murad, die den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden im nordirakischen Sinjar durch den sogenannten “Islamischen Staat” (IS) 2014 überlebte. Sie ist eine starke Stimme der Êzîdinnen und Êzîden in Deutschland, die mit rund 200.000 Männern und Frauen die größte êzîdische Diaspora weltweit ist. Nadia Murad ist heute Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel und lebt anonym in Baden-Württemberg. 2018 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Die Aufarbeitung des Völkermords wäre ohne Frauen wie sie nicht möglich. Frauen, die den Mut und die Kraft haben, über ihr Schicksal zu sprechen und sich für eine menschenwürdige Zukunft der êzîdischen Menschen einzusetzen. Die den Finger in die Wunde legen und Unterstützung einfordern. Von ihrer Regierung, aber auch von der internationalen Gemeinschaft. Auch von Deutschland. 

Die weltweit rund eine Million Êzîdinnen und Êzîden leben an erster Stelle in Irak, viele aber auch in der Türkei und in Syrien. Bis 2014 war Sinjar das wichtigste Siedlungsgebiet der Gemeinschaft. Hier lebte auch Nadia Murad, bevor sie vom IS entführt und versklavt wurde. Sinjar ist ein Symbol für die einstige Macht des Êzîdentums und Ort wichtiger Heiligtümer. Die êzîdsche Religion ist noch vor dem Christentum, Judentum und Islam entstanden. Sie wird mündlich überliefert; eine heilige Schrift wie die Bibel, den Talmud oder den Koran gibt es nicht. Umso wichtiger für den Fortbestand der Religion ist es, dass Sinjar als Siedlungsgebiet erhalten bleibt. Doch seit Jahrhunderten werden Êzîdinnen und Êzîden immer wieder als “Ungläubige” oder “Teufelsanbeter” verleumdet, verfolgt und vertrieben. 

200 Massengräber

Der Völkermord durch den IS 2014, der in der Nacht vom 2. auf den 3. August 2014 seinen Ausgang nahm, ist jüngster Tiefpunkt dieser Geschichte wiederkehrender Verfolgungen. Mit dem Ziel, ein islamisches Kalifat zu errichten, töteten und vertrieben die Kämpfer und Kämpferinnen des IS Êzîdinnen und Êzîden aus Sinjar. Sie legten es darauf an, deren Gemeinschaft zu zersetzen: So wurden Männer etwa gezwungen, zum Islam zu konvertieren, wenn sie sich weigerten, wurden sie verschleppt oder sogar hingerichtet. Jungen wurden in Koranschulen umerzogen und als Selbstmordattentäter oder Soldaten eingesetzt. Frauen und Mädchen wurden versklavt und vergewaltigt. 

Dabei machte sich der IS zunutze, dass die Religionsgemeinschaft nur Kinder als êzîdisch anerkennt, die zwei êzîdische Elternteile haben. Mit dem Ergebnis, dass viele êzîdische Frauen, deren Kinder aus den Vergewaltigungen stammen, sich bis heute entweder gegen eine Rückkehr in die Gemeinschaft entscheiden oder sich von ihren Kindern trennen müssen. Hinzu kommt, dass das Schicksal von über 2.700 der mehr als 6.000 êzîdischen IS-Entführungsopfern weiterhin ungewiss ist. Schätzungen zufolge gibt es 200 Massengräber im ehemaligen Einflussgebiet des IS, davon mehr als 80 in Sinjar, die bislang nicht exhumiert wurden. Die Aufarbeitung der Verbrechen wird noch viele Jahre dauern.

Erneut zur Flucht genötigt

Deutschland unterstützt die von den Gräueltaten des IS betroffenen Menschen dabei, ihre Heimat wiederaufzubauen, die Verbrechen aufzuarbeiten und die schrecklichen Erlebnisse zu bewältigen. Dabei geht es vor allem darum sicherzustellen, dass Minderheiten wie die êzîdische Gemeinschaft eine Zukunft in Irak haben. Vor dem Hintergrund seiner Verantwortung für den Holocaust sieht Deutschland sich innerhalb der internationalen Gemeinschaft besonders in der Pflicht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie die des IS juristisch zu verfolgen und aufzuarbeiten. Dies bekräftigt ein Bundestagsbeschluss zur Anerkennung des Völkermordes an den Êzîdinnen und Êzîden von Januar 2023. Er geht auf eine fraktionsübergreifende Initiative von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zurück. Dass Deutschland und andere Staaten den Völkermord anerkennen, ist auch Frauen wie Nadia Murad zu verdanken. Denn sie machen immer wieder auf ihr Schicksal und die bis heute schwierige Situation der êzîdischen Gemeinschaft aufmerksam. 

Denn auch zehn Jahre nach dem Völkermord können oder wollen viele Êzîdinnen und Êzîden nicht nach Sinjar zurückkehren – an den für ihre Religion so wichtigen Ort. Aktuell leben rund 210.000 êzîdische Binnenvertriebene im Irak, 120.000 davon in Camps, ohne Zukunftsperspektiven. Was sie von einer Rückkehr nach Sinjar abhält, ist zum einen die schlechte Sicherheitslage, die zerstörte Infrastruktur und die fehlenden Möglichkeiten, dort für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Zum anderen sind da auch die schweren Traumata und ein großes Misstrauen gegenüber den nicht-êzîdischen Nachbarinnen und Nachbarn, von denen sich viele Êzîdinnen und Êzîden verraten und an den IS ausgeliefert fühlen. Und tatsächlich flammt immer wieder Hass auf, der die Angst vor Gewalt befeuert. Zum Beispiel, als sich ein ehemaliger hochrangiger Kämpfer gegen den IS am zehnten Jahrestag des Völkermords im August 2024 kritisch gegenüber dem Islam äußerte. In der Folge verbreitete sich über die Freitagspredigten und die sozialen Medien die Aufforderung, êzîdisches Leben auszulöschen. Êzîdinnen und Êzîden sahen sich erneut zur Flucht genötigt. 

Nadia Murad formulierte es einmal so: „Ich werde in mein Leben zurückkehren, wenn Frauen in Gefangenschaft in ihr Leben zurückkehren, wenn meine Gemeinschaft einen Platz hat, wenn ich sehe, dass Menschen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden“. Es ist ganz offensichtlich noch ein weiter Weg bis dahin.

Zukunftsperspektiven schaffen

Was also tut Deutschland, um die Êzîdinnen und Êzîden auf diesem Weg zu unterstützen? Ein wichtiger Pfeiler ist die Arbeit des Bundesentwicklungsministeriums (BMZ). 13 Projekte des BMZ sind auch im Disktrikt Sinjar aktiv und tragen dazu bei, Êzîdinnen und Êzîden wieder ein Leben in ihren Heimatorten zu ermöglichen und dort eine Zukunftsperspektive zu schaffen: beispielsweise durch den Wiederaufbau von Wohnhäusern, Schulen, Straßen oder Abwassersystemen. Oder durch berufliche Bildung und Mikrozuschüsse zur Förderung von Start-ups und Kleinstunternehmen.

Neben dem Engagement in Sinjar unterstützt das BMZ auch Mädchen, Frauen und Familien in den Camps für Binnenvertriebene in der Region Kurdistan-Irak, die noch nicht in ihre Heimatgebiete zurückkehren können. Zum Beispiel über das Women’s Health and Community Center. Basma ist eine der Frauen, die von dessen Arbeit profitiert. Ihr Mann war der IS-Gefangenschaft nach sechs Monaten entkommen und ist heute arbeitsunfähig. Basma übernimmt seitdem die Verantwortung. Im Community Center hat sie gelernt, wie man näht, und eine Nähmaschine erhalten. Nun kann sie Geld verdienen: "Unsere finanzielle Situation war furchtbar. Doch jetzt arbeite ich, habe ein Geschäft gemietet, ich versorge meine Kinder und meinen Mann. Und ich bezahle meine Medikamente und alle meine Ausgaben".

Die guten Beziehungen Deutschlands zur êzîdischen Diaspora sind ein großes Plus für das deutsche Engagement. Zwischen 2014 und 2017 haben einige deutsche Bundesländer über humanitäre Aufnahmeprogramme vielen Überlebenden des Völkermords eine zweite Heimat gegeben. Das und die Anerkennung des Völkermords durch den Deutschen Bundestag, verleiht Deutschland eine hohe Glaubwürdigkeit bei der êzîdischen Gemeinschaft. Daraus ergibt sich das Potenzial, Wiederaufbau- und Aufarbeitungs-Prozesse in Irak bzw. Sinjar zu unterstützen, die die êzîdische Zivilgesellschaft einbeziehen. Denn die großen Probleme lassen sich nur mit allen betroffenen Gruppen gemeinsam lösen. 

Runder Tisch

Dieses Potenzial nutzte die Bundesregierung, als sie im September 2024 Vertreterinnen und Vertreter von irakischer Regierung, kurdischer Regionalregierung, Wissenschaft, êzîdischer Zivilgesellschaft und êzîdischer Diaspora in Deutschland an einem Runden Tisch versammelte. Die Interessen, auch innerhalb der êzîdischen Gemeinschaft, sind oft unterschiedlich. Umso wichtiger ist es, gemeinsam die Herausforderungen zu diskutieren, die sich für ein friedliches Zusammenleben in Irak, insbesondere in Sinjar, stellen. Die Diskussionen zeigten, dass Fortschritte unter anderem in zwei Bereichen besonders wichtig sind, in denen sich das BMZ bereits engagiert: die Bekämpfung von Hass gegen Êzîdinnen und Êzîden und die Aufarbeitung des Völkermords. 

Um gegen den Hass vorzugehen, fördert das BMZ zum Beispiel das „Salam-Bus-Projekt“ des Zivilen Friedensdienstes. Das mobile Angebot richtet sich an Menschen in entlegenen Regionen und insbesondere an junge Menschen und Frauen. Denn es sind an erster Stelle sie, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft prägen. Mit Unterstützung lokaler Behörden werden kulturelle, traditionelle und sportliche Aktivitäten organisiert, um Geschichte, Religion und Traditionen der anderen Bevölkerungsgruppen besser kennenzulernen. Wie wichtig ein solches Angebot ist, brachte eine êzîdische Teilnehmerin aus dem nordirakischen Shekhka auf den Punkt: „Ich hatte eine Freundin an der Uni, die Menschen anderer Religionen nicht trauen konnte, und es gibt viele, denen es so geht. Es ist so wichtig, solche Themen anzusprechen, damit die Menschen mehr über andere Religionen erfahren, um Missverständnisse zu korrigieren und Menschen anderer Religionen akzeptieren zu lernen“. 

Breiter Konsens

Die Aufarbeitung des Völkermords unterstützt das BMZ unter anderem über die êzîdische Organisation Yazda. Diese hat Überlebende interviewt, um die Menschenrechtsverletzungen durch den IS zu dokumentieren. Derzeit entwickelt sie gemeinsam mit Überlebenden von sexualisierter und geschlechtsbasierter Gewalt Schulungsmaterialen zu Menschenrechten und zu Möglichkeiten, die eigenen Interessen zu vertreten. Dabei geht es auch um die Frage, welche Entschädigungen Überlebende des Völkermords vom irakischen Staat einfordern können. 

“Es ist beeindruckend, wie viele êzîdische Vertreterinnen und Vertreter die Bundesregierung um den Runden Tisch versammeln konnte. Dabei zeigte sich, über welches Potenzial die êzîdische Gemeinschaft selbst verfügt“ – so drückte es die deutsche Êzîdin, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal aus. Dass der Weg zu einem friedlichen Zusammenleben in Irak noch lang und steinig ist, ist allen Beteiligten klar. Umso wichtiger ist es, einen langen Atem zu haben und Formate wie den Runden Tisch auch in Zukunft zu nutzen. Um eine gemeinsame Vorstellung von einem Irak zu entwickeln, in dem alle Bevölkerungsgruppen einen Platz haben. Und um den Weg dorthin gemeinsam zu beschreiten. Der Bundestagsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Êzîdinnen und Êzîden zeigt: Es gibt einen breiten Konsens in unserem Land, dass Deutschland auf diesem Weg an der Seite der êzîdischen Gemeinschaft steht.

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