Über den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich zwischenmenschlicher Interaktion ist viel Pseudowissen und Schaumschlägerei im Umlauf. Ilona Nord, Professorin für Praktische Theologie in Würzburg, lenkt in ihrem werbenden und nüchternen Text den Blick auf die Möglichkeiten menschlicher Kommunikation und Beziehungspflege mit Techniken und Logiken von KI.
Versuche nicht, den Menschen zu überwinden, es könnte dir gelingen.“ So lautet das zweite Gebot des Münsteraner Professors für Islamische Philosophie und Mystik, Ahmad Milad Karimi. Aufgeschrieben in einem höchst lesenswerten Essay unter dem Titel Gott 2.0. Grundfragen einer KI der Religion (Reclam Verlag, 2024). Karimi argumentiert interessanterweise gleich als Theologe der abrahamitischen Religionen und nimmt die vielfachen Ängste der Zunft vor der Entwicklung und dem Gebrauch Künstlicher Intelligenz auf. Denn innerhalb und außerhalb der Kirchen fragen sich Viele, ob die Welt im digitalen Wandel und im rasanten Ausbau der Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz unmenschlicher und menschenunwürdiger, weil technikfokussierter wird.
Wenn nun noch die Religion, die im Grunde mit ihrer Traditionsliebe immer auch etwas rückwärtsgewandt ist und dabei positiv gesprochen für das sozusagen notwendig analoge Menschliche in Geschichte und Gegenwart stehen will, Robotik und Künstliche Intelligenz einsetzt, geht dann nicht auch in ihr und mit ihr eines der letzten Reservate der Menschlichkeit verloren?
Zugrunde liegt dieser Argumentation eine Anthropologie, die zum einen den Körper und den Geist untrennbar zusammenhalten will und zum anderen eine scharfe Trennung zwischen Menschen und Maschine postuliert. Doch die Realitäten, in denen wir leben, verlangen zunehmend danach, nicht allein bei dem Postulat dieser Trennung stehenzubleiben. Vielmehr wird es nötig, die real vorfindlichen Verschränkungen von Mensch und Technik aufzusuchen, um sie dezidierter zu beschreiben und ihre Verhältnisbestimmungen theologisch zu reflektieren. Dies wird dann auch bedeuten, genau in und mit diesen Verschränkungen nach einer Kultur der gesellschaftlichen Konstruktionsleistung menschlicher Praxis zu suchen, die in der Lage ist, diese Kultur in ihren Reflexionshorizont aufzunehmen. Der neudeutsche Terminus der digitalen „Agency“ zeigt den Denk- und Handlungsbedarf hierfür bereits an, aber im Feld der digitalen Ethik wird bereits seit Jahrzehnten an solchen Fragen gearbeitet, und man hat es oft damit zu tun, nachträglich zu reflektieren, was bereits Realität geworden ist. An den möglichen Anwendungsgebieten zeigt sich so nicht überraschend das Potenzial digitaler Technologien für den Einsatz in kirchlichen und insbesondere auch diakonischen Kontexten: vom Controlling von Finanzen über personalisierte Formen des Coaching oder der Supervision, in der Erstellung von Predigten und Liturgien, in der Religionspädagogik bis hin zur notwendigen Wende hin zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) gegen sexualisierte Gewalt und anderes mehr.
Robotik als Impulsgeber
In und außerhalb der Kirchen wird seit langem mit Robotik experimentiert. Yves Gellie hat in Frankreich filmisch dokumentiert, wie in einem Seniorenzentrum ein Roboter eingesetzt wird, der Menschen zum Tanzen auffordert. Robotik fungiert hier als Impulsgeber, sie aktiviert ein menschliches Bedürfnis nach etwas, das die Eintönigkeit des Alltags durchbricht, das Menschen dazu animiert, sich einer Musik zu öffnen und selbst in Bewegung zu kommen.
Ebenso zeigt er, wie eine demente Frau am Klavier sitzt und ihr Spiel, das sie nicht mehr selbst mit ihrer Aufmerksamkeitssteuerung anhaltend fortsetzen kann, durch das Feedback eines Roboters unterstützt wird (siehe Bild links). Sie kann wieder spielen, kommt vielleicht auch mit einem Stück durch. Die Klänge dringen zu ihr durch, sie resonieren mit ihrer Seele. Damit dies auf gute Weise möglich wird, ist nun festzulegen, welche Kommunikationsformen für sie persönlich angemessen sind, damit sie sich nicht selbst überfordert. Stellt man sich vor, dass sie einen in ihrem Leben gelernten Choral oder andere ihr wichtige Musikstücke spielt, wird nachvollziehbar, wie wertvoll ihr die kommunikative Unterstützung sein kann. Dazu braucht sie schlicht keinen Menschen oder will sogar auch keinen Menschen dazu neben sich haben, weil sie sich für sich ausprobieren möchte. Nicht alle Kommunikationen müssen zwischenmenschlich angelegt sein. Wer wüsste es besser als jene, die sich mit der christlichen Religionspraxis auskennen, dass es auch darum geht, für sich allein vor Gott in eine gute Beziehung zu kommen: beim Singen, Klavierspielen, Beten, Malen und anderem mehr. Das Bewusstsein, mit Gott in Beziehung zu leben, wird auch, aber eben nicht nur in der kirchlichen Gemeinschaft, im Gottesdienst, geschult.
Es gibt viele Stimmen, die solche Einsatzmöglichkeiten von digitaler Technik im kirchlichen Leben begrüßen. Zugleich regt sich ein Widerstand gegen eine Technik, die die kulturelle und ästhetische und damit auch die religiöse Seite des Lebens technisiert. Technik zum Tanzen dort einzusetzen, wo niemand mehr da ist, der mit den Menschen vor Ort zusammen tanzt und lacht, umarmt und scherzt und sie dabei einfach auch kennt: Eine solche Robotik entlastete am Ende von der menschlichen Verantwortung, füreinander da zu sein. Den „Gebetomaten“ gab es bereits lange, bevor der Segensroboter BlessU2 erfunden wurde, der im Rahmen des Kirchentages 2017 für Aufsehen sorgte. Bei beiden geht es nicht darum, Pfarrpersonen durch androide Robotik zu ersetzen. Es ist inzwischen ermüdend, wenn auf diese Weise der Einsatz von digitaler Technik in der Kirche skandalisiert wird. Es zeigt sich mit diesen Experimenten vielmehr, wie sinnvoll es ist, Menschen eine Gelegenheit zu schaffen, religiöse Praxen barrierearm auszuprobieren. Sie eröffnen Möglichkeiten für Anschlusskommunikationen, in Kirchen und Synagogen wie Moscheen.
Unerreicht, da hochkomplex
In den empirischen Studien, die zur Nutzung digitaler Medien sowohl von Pfarrpersonen als auch von Religionslehrkräften in Schulen unternommen wurden, zeigte sich eines eindeutig: Die Affinität zu digitalen Medien und der Erwartungshorizont, was mit ihnen im eigenen Arbeitsfeld gemacht werden kann, bestimmen wesentlich den Umgang mit diesen. Anders ausgedrückt: Die Imagination dessen, was Technik kann, ist für das Erleben (von) kommunikativer KI ein wesentlicher Schlüssel. Nun erscheint es so, dass innerhalb der Theologie vor allem die bislang unerreichte und hochkomplexe Erfüllung der Aufgabe, eine androide Robotik zu entwickeln, als Messlatte für viele Einordnungen von Robotik galt. Transhumane Imaginationen scheinen für eine theologische Argumentation mit dem Verdacht auf menschliche Hybris besonders offen zu sein: dass Menschen Maschinen entwickeln, die scheinbar zu denken beginnen und ein Bewusstsein erhalten könnten.
In den Kultur- und Medienwissenschaften setzt sich dagegen zunehmend die Einsicht durch, dass das Entscheidende im Umgang mit Künstlicher Intelligenz nicht die Tatsache ist, dass Maschinen fähig werden zu denken, sondern dass sie fähig sind zu kommunizieren. Die digitale Informationsverarbeitung war in der Lage, „jene Ergebnisse zu erzielen, die wir heute sehen, als sie den Versuch aufgab, die Prozesse des menschlichen Geistes zu imitieren und sie in digitaler Form zu reproduzieren“, wie es jüngst die italienische Soziologin Elina Esposito (* 1960) schrieb. Diese Sichtweise geht der Komplexität des digitalen Transformationsprozesses globaler Gesellschaften keineswegs aus dem Weg. Sie eröffnet vielmehr den Horizont nicht für transhumane, sondern für humane Fragestellungen in der Gegenwart. Denn mit der KI ist bereits heute eine digitale Infrastruktur verbunden, die die gesamte Kommunikationskultur, eingeschlossen die religiöse, umfasst. Deshalb ist es für den kirchlichen Umgang mit KI unverzichtbar, sich an den Leitlinien von Politik- und Rechtsinstituten der deutschen Gesellschaft sowie im europäischen Kontext zu orientieren: Sie behalten die Handlungssouveränität der Politik und des Rechts im Blick.
Zweideutige Technik
Orientieren sich die kirchliche Praxis und die theologische Ethik an dem Kriterium einer vor allem im umfassenden Sinne lebensdienlichen und dabei menschenwürdigen Gestaltung digitaler Technologien, müssen sie auf diesen staatlichen Grundlagen aufbauen. Auch religionsbezogen ist ein Hauptkriterium für den Umgang des Menschen mit KI, dass diese der Gesellschaft und ihren Institutionen und Organisationen (weiter) möglichst umfassende Handlungssouveränität ermöglicht. Doch wenn dieses Hauptkriterium nicht als solches bewusst im Umgang mit KI eingesetzt wird, kann es zu Einschätzungen kommen, die kontraproduktiv auf die Gestaltung von KI in der Gesellschaft einwirken. Schon Karimis eingangs zitiertes Gebot lässt dies durchblicken. Wir haben uns klarzumachen, welche Macht wir auch kommunikativ sinndeutend Technik zuschreiben. Merke: Ein automatisiertes Medium ist nicht aus sich selbst heraus intelligent. Der Begriff, der auf den Menschen bezogen ist, führt auch schlicht in die Irre. Anstatt dass KI uns intelligent entgegentritt, ist vielmehr das Neue an ihr, dass sie uns kommunizierend und kommunikativ entgegentritt.
Bereits 1926 formulierte Paul Tillich: „Die Technik hat die Welt umgestaltet, und diese umgestaltete Welt ist unsere Welt und keine andere. Auf ihr müssen wir bauen, müssen mehr als bisher die Technik einbauen in unseren Lebenssinn, wohl wissend: Ist sie göttlich, ist sie schaffend, ist sie befreiend, so ist sie auch dämonisch, knechtend und zerstörend. Sie ist zweideutig, wie alles, was ist; nicht zweideutiger als der reine Geist, nicht zweideutiger als die Natur, aber ebenso wie sie.“ Damit meint Tillich: Die Maschine ist neutral, sie wirkt immer ambivalent und bietet dem Menschen zugleich Dimensionen der Gestaltung von Freiheit. Auf dieser Basis lässt sich auch in komplizierte Verhältnisse der Mensch-Computer-Interaktion eintreten. Etwa wenn es – wie auch schon bei Tillich – um den individuellen Charakter von Technik geht: Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen hätten Ähnlichkeiten mit denen zu lebendigen Wesen. Gern würde man wissen, welche damaligen Erfahrungen mit Technik hinter diesen Aussagen standen.
Unterschiedlich herausgefordert
Die französische Philosophin Corine Pelluchon (* 1967) fragt in eine ähnliche Richtung: „Schätzen wir die technischen Geräte wie die Nahrung, von der wir leben, die uns prägt und die wir gestalten, dann sind sie individualisiert, ohne personifiziert zu sein, und wir müssen uns um sie kümmern, weil sie ebenso Teil der gemeinsamen Welt sind wie das Natur- und Kulturerbe.” Sich um sie zu kümmern, dies allerdings fordert uns dann sehr unterschiedlich heraus, je nachdem, ob wir es beispielsweise mit Waffensystemen oder mit sozialer, medizinischer oder religionsbezogener Technik zu tun haben.
Menschen leben in vielen verschiedenen kommunikativen Beziehungskonstellationen, nicht nur zu Lebewesen wie Menschen, Tiere und Pflanzen, sondern eben auch zu vielen verschiedenen kulturellen Gütern, analogen, aber eben auch komplexen digitalen. Im von Pelluchon genannten „Kümmern“ oder auch in den Ansätzen der so genannten Care- oder Sorge-Ethik ist ebenfalls in dieser Weise argumentiert worden. Gerade für den Bereich der Religionspraxis liegt es nun nahe, darüber nachzudenken, in welchem Geist diese Beziehungen zu gestalten sind, damit sie tatsächlich lebensdienlich wirken können.
Aus theologischer Sicht braucht es hierfür keine neuen Gebote und keine neuen Grundprinzipien. Das Christentum wird als die Religion der Liebe porträtiert, weil es in der Liebe alle relevanten Weltbezüge des Menschen ansiedelt: Die Liebe zu sich selbst, zum Nächsten und umfassender gesagt zur Welt, die sich uns kaum fassbar wunderbar und gefährdet zeigt, und zu Gott, dem Grund unseres Seins, ist der entscheidende Schlüssel, der die Türen für ein gelingendes (Beziehungs-)Leben öffnet. Jesus von Nazareth wird zugeschrieben, dass er das Gebot zur Gottesliebe und das Gebot zur Nächstenliebe in diesem Sinne zusammen sah (vergleiche 3. Mose 19,18, 5. Mose 6,4–6, Markus 12,39–41).
In der Praxis führte und führt allerdings auch das Liebesgebot zu erschreckenden Realitäten, Gewalt und Unterdrückung. Ein naiver Umgang mit ihm, wie insgesamt mit Religion, verbietet sich. Den Geboten und der in ihnen liegenden Weisheit zu folgen und mich damit in Liebe zu mir, zur Welt und zu Gott den hochkomplexen Fragestellungen der Technisierung unserer Lebenswelten zuzuwenden, heißt aber immerhin, hellwach für diese Abgründe zu sein und dabei auch mit Intelligenz und Vernunft sowie mit hoher Sachkenntnis zu agieren.
Ökonomische Bedarfe
Summa: Die Technisierung christlicher Religionspraxis braucht ihr gemäße Grenzen und zugleich Impulse, ihre Potenziale wirklich auszuloten. Deshalb müssen Digitalisierung, Robotik und Künstliche Intelligenz weiterhin theologisch im spezifischen Referenzrahmen von Technikethik diskutiert werden. Zusätzlich aber ist es der Kern theologischer und kirchlicher Arbeit, das Leben zu deuten: Es geht nicht allein darum, Technik einzubauen in unsere kirchlichen Kommunikationen, weil es der Zeitgeist zu erfordern scheint und bessere Zahlen geschrieben werden müssen (obwohl Kirchen und Theologien unzweifelhaft ökonomische Bedarfe haben). Es geht darum, den kirchlichen und theologischen Umgang mit der Digitalisierung als einen Teil des Umgangs mit ihren weltlichen und transzendentalen Beziehungsnetzen zu verstehen. Längst ist die Technik fester Bestandteil in der Arbeit an unserem Lebenssinn: beim Predigtvorbereiten, beim Redenschreiben, beim Systematisieren von Projektbeschreibungen. Wir leben „Du auf Du“ mit einer kommunikativen KI, die darauf wartet, dass wir sie und vor allem uns selbst in Kommunikation mit ihr besser kennenlernen.
Ilona Nord
Ilona Nord ist Professorin für Evangelische Theologie und Religionsdidaktik an der Universität Würzburg.